Mutter & Sohn

Mutter & Sohn

Endlich darf er wieder im Stehen pinkeln. Lisa ist weg. Nach vier Jahren. Johannes Seidel fühlt sich eigentlich gut. Doch dann kommt der Brief, überrascht ihn in seinem wohlverdienten Urlaub. Die Firma will ihn abschieben nach Brasilien, will Platz machen für einen jüngeren Kollegen. Eine tolle Chance für ihn, er sei ja schließlich jetzt ohne familiäre Bande, ohne Lebensabschnittsgefährtin. Dabei riecht das Bett noch nach ihr. Es war ein Fehler, sich der Sekretärin Frau Zumgibel anzuvertrauen.
Brasilien. Er weiß von einem Kollegen, wie es dort ist. Nur im zugedröhnten Zustand kann man es dort aushalten. So ein Abenteuer auf die alten Tage will er sich sparen.
Dann kommt der Anruf. Von seiner Mutter, zu der er lieber Abstand hält. Sie ruft immer an, wenn er ein Tief hat. Sie hat ein Gespür dafür. Er erzählt ihr von dem Angebot, nach Brasilien zu gehen. Sie hält es für Abschiebung. Und wenn er dennoch zusagt? Den Gedanken ihren Sohn so weit weg wissen zu müssen, erträgt sie nicht. Sie will ihn sofort sehen. Und er kommt. Es ist für ihn völlig überraschend, seine Mutter im Rollstuhl sitzend vorzufinden. Und da sind sie wieder da, die familiären Bande. Sie wollen seinen Karrieresprung nach Brasilien verhindern. Er ist nicht mehr frei in seiner Entscheidung, auch wenn die Mutter ihm etwas anderes zu verstehen gibt – scheinbar zu verstehen gibt.

Auf der einen Seite steht Martin Seidel. 57 Jahre alt. Nun, wo Lisa ihn verlassen hat oder besser, seit er sie vertrieben hat, ein alleinstehender Mann. Er ist erfolglos, bald glatzköpfig und von so manchen Wehwehchen geplagt. Wie soll er wieder eine Frau finden? Doch so ganz allein ist er ja nicht. Er hat seine rechthaberische Mutter, mit der er es nie länger aushält. Krankhaft klammert sie sich an die vor 30 Jahren verstorbene Tochter, hält sie lebendig, lebt mit ihr zusammen. Das erträgt er nicht. Als die Mutter von Martins Brasilien-Plänen hört, klammert sie sich auch noch an einen Rollstuhl. Muss Martin sie nun pflegen? Er, der bildlich gesprochen ja eigentlich auch schon an Krücken geht? Das rückt die Abschiebung nach Brasilien in ein ganz anderes, in ein verlockendes Licht. Nur weg, alle Verpflichtungen hinter sich lassen! Doch da ist noch sein Gewissen, das ihm keine Ruhe lassen will.

Der Autor stellt eine Mutter-Sohn-Beziehung auf den Prüfstand und analysiert sie akribisch. Jeder von den beiden versucht mit allen Mitteln seine Interessen durchzusetzen. Keiner ist bereit von alten Gewohnheiten abzurücken oder Fehler der Vergangenheit einzuräumen. Auch wenn der Sohn den natürlichen Vorteil hat jünger zu sein als seine Mutter, er ist genauso unbeweglich und eingefahren in seinen Gedanken wie sie. Doch die Mutter will es nicht darauf ankommen lassen, dass der Sohn doch nach Brasilien gehen könnte. Vorsorglich übertreibt sie das Spiel und verhält sich ganz mies und unfair. Als Leser erwartet man das Ende mit Spannung und fragt sich, ob sie damit durchkommt.

Der Autor hat eine präzise Beobachtungsgabe und psychologisches Gespür für Stimmungen. Mit seinem Buch löst er widersprüchliche Gefühle aus. Mal bringt man Verständnis für die Situation auf, dann wieder nicht. Mal ist es urkomisch mal bitterernst und Verzweiflung kommt durch. Die Geschichte wirkt ernüchternd, aber sie ist nicht ohne Hoffnung.

Über den Autor:
Bernd Schroeder ist Jahrgang 1944. Der Autor und Regisseur zahlreicher Hör- und Fernsehspiele lebt in Köln. 1992 wurde er mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet. Bernd Schroeder ist Mitglied des PEN.

Rezension von Heike Rau

Bernd Schroeder
Mutter & Sohn
Erzählung
164 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag
ISBN: 3-446-20466-0
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