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Kategorie: Belletristik

Ferdinand von Schirach: Regen

Ferdinand von Schirach: Regen

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In seiner unvergleichlich trockenen Erzählweise berichtet von Schirach in seinem neuen Buch über Alltägliches.
Der Erzähler ist Schöffe wider Willen. Er wehrt sich gegen dieses Amt, muss es aber antreten.
Nun purzeln ihm die drolligsten Gedanken und Einfälle aus der Feder.

Es beginnt ein Monolog über tägliche Dinge, wie sie einem geübten Beobachter ins Auge fallen.
Vorgänge im Gericht und Amtshandlungen werden mit der größtmöglichen Präzision dargestellt.
Die Genauigkeit der Sprache ist fast ein Markenzeichen des Schriftstellers von Schirach.
Auch die Aufgaben von Autoren werden hinterfragt. Was tun sie überhaupt? Was macht Sinn?

Mit Tempo geht es weiter: in die Karibik, die Menschen und das Meer. Die Resultate seiner Beobachtungen sind zuweilen von grotesker Komik, so dass man laut lachen muss.
Bei weitem aber sind das keine dummen Überlegungen: im Gegenteil, man kommt erst darauf, mit was für einem Unsinn sich Menschen beschäftigen. Was z.B. ist „ein gutes Buch“?
Ja wirklich, man beginnt die eigenen Ideen zu hinterfragen!

Ambivalenz ist ein weiteres Stichwort; am schönsten aber ist die Geschichte von den 80%!
Von Schirach rechnet einmal vor, wieviel Mist uns täglich beschäftigt: es sind 80% aller Tätigkeiten. Ob Bücher, Filme, tägliche Erledigungen etc.
Auf Reisen in die Karibik: Zitat:“ in den sogenannten schönsten Wochen des Jahres liegen die Leute schwitzend auf Fischkot herum, baden in Kloaken, lesen schlechte Bücher und bekommen von der Sonne Hautkrebs“. S. 39

Auch die griechische Götterwelt ist von Schirach nicht fremd, und er weiß sie passend in das Panoptikum menschlicher Schwächen und Fehler einzufügen.
Hier tritt ein Autor bescheiden und unaufdringlich auf. Er hat ein immenses Wissen, das in den einzelnen Episoden zum Vorschein kommt. Und immer wieder die kurzen, fast spartanischen Sätze. Nur kein Wort zu viel!

Die Erzählung ist eine rundum hervorragend gelungene Persiflage auf das Leben insgesamt. Ein leicht melancholischer Einschlag liegt wie ein Schatten über den Schilderungen.

In einem anschließenden Interview äußerst sich von Schirach zu zahlreichen eigenen Lebenseinstellungen, auch zu seinem Privatleben. Er bleibt offen und setzt zugleich Grenzen, wenn es ihm zu privat wird.

Ein schmales Bändchen nur, aber hinreißend geschrieben, kurz, bündig und prägnant.
Wer sich einen amüsanten Nachmittag gestalten will, gespickt mit Lebenserfahrung und Weisheit, der gönne sich dieses schöne knapp 108 Seiten lange Werk. Es ist ein Lesegenuss und sicher von Schirachs persönlichstes Büchlein.

Ferdinand von Schirach
Regen
Luchterhand Literaturverlag, August 2023
112 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3630877389
ISBN-13: 978-3630877389
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René Freund: Wilde Jagd

René Freund: Wilde Jagd

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Professor Quintus Erlach hat es nicht leicht. Seine Frau hat ihn verlassen und er wohnt nun im Haus seiner verstorbenen Eltern in Stein am Gebirge. Die Tochter mag auch nicht mehr mit ihm reden und auf ihren Hund Machtnix darf er nur aufpassen, weil es nicht anders geht.

Bei einem Spaziergang begegnet er der aus der Slowakei stammenden Evelina, die als Pflegerin für Herwig Zillner arbeitet. Die Pflegerin davor ist spurlos verschwunden. Die junge Frau will herausfinden, was Angelika passiert ist. Es gelingt ihr, Quintus neugierig zu machen, sodass dieser beschließt, ihr zu helfen.

Evelinas hellseherische Fähigkeiten verstören den Professor. Doch lassen sie sich nicht so leicht abtun, denn diese Visionen, so unklar sie scheinen mögen, beinhalten immer ein Detail, das zutrifft. Einmal sensibilisiert, dass ein Verbrechen geschehen sein könnte, fallen Quintus im Dorf Personen auf, die Kontakt zu Angelika gehabt haben könnten und ihm verdächtig erscheinen.

Der Professor sieht sich bald veranlasst, den Dorfpolizisten mit einzubeziehen. Doch Bernhard Ebner macht sich eher unbeliebt, meint er doch, Quintus habe ein paar Bier zu viel gehabt, was gut sein kann. Er weiß, dass er Gedächtnislücken hat, wenn er zu tief ins Glas geschaut hat. Dennoch müssten die Fakten für sich sprechen, auch wenn sie sich im Nachhinein nicht beweisen lassen. Sein Wort sollte doch zählen.

Es sind hier insbesondere zwei Personen, die die Handlung voranbringen. Wobei es schon einigermaßen verwunderlich ist, dass der Professor sich von Evelina in diese Sache hineinziehen und sich quasi vor die Kutsche spannen lässt. Er taugt kein bisschen zum Ermittler. Und so entstehen immer wieder witzige, aber auch absurde Szenen.

Entscheidend ist jedoch, welche Details die beiden ausgraben. Da ist Mut gefragt, aber den hat Quintus auch nicht. Im Philosophieren ist er jedoch gut, was ihn aber auch nicht wirklich weiterbringt, besonders unter Alkoholeinfluss nicht.

Zum Ende hin nimmt die Handlung schließlich eine unerwartete Richtung und wird doch noch zu einem echten Krimi. Wobei man gut und gerne sicher auch noch andere Genre aufzählen könnte, in die das Buch passt. Ich fand es sehr unterhaltsam!

Rezension von Heike Rau

René Freund
Wilde Jagd
288 Seiten, broschiert
Paul Zsolnay Verlag, Juli 2023
ISBN-10: 3552073671
ISBN-13: 978-3552073678
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Martin Suter: Melody

Martin Suter: Melody

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Dieses Buch über einen wohlhabenden Schweizer Bürger mit ausgewiesener Reputation liest sich auf weite Strecken wie ein Gourmetkochbuch!

Dr. Peter Stotz ist Politiker, hoher Militär und Geschäftsmann mit weitreichenden Verbindungen.
Er ist 80 Jahre alt und sucht einen Mitarbeiter für sein umfangreiches Archiv.
Ihm gefällt ein Jurastudent, der sich auf einen Jahresvertrag bei freier Kost und Logis und hohem Honorar an ihn bindet. Tom Elmer ist der Auserwählte.

Es geht vornehm zu bei dem alten Herrn. Vor allem aber wird nach alter Sitte und Gebrauch zu jeder passenden Gelegenheit Alkohol dem Anlass gemäß kredenzt. Die Küche bietet allerhand exquisite Mahlzeiten, so dass es sich gut leben lässt in dieser Umgebung.
Sherry, Armagnac, Cognac und die teuersten Weine machen stets die Runde. Ganz diskret ließ der Hausarzt durchblicken, dass der gute Peter ein verkappter Alkoholiker sei. Kein Wunder bei seinem Lebensstil!

Im Hause hängen vielfach gezeichnet Porträts einer schönen Frau. Welche Rolle spielt diese ferne Schönheit in dem ganzen Stück?
Tom erfährt durch das Archiv die Lebensgeschichte von Stotz. Ergänzt wird diese durch die täglichen Erzählungen. Mahlzeiten und abendliche Gespräche bieten jede Möglichkeit, alles über Peter Stotz zu erfahren. Eine Frau mit Namen Melody, verkörpert in den zahlreichen Porträts an den Wänden, spielte eine zentrale Rolle in seinem Leben.
Sie war die Auserwählte von Peter Stotz, verschwand jedoch wenige Tage vor der Hochzeit und blieb für immer unauffindbar.
Bei der Suche nach ihr scheute der Patron keine Kosten für ferne Reisen, um sie zu finden

Im Hause gibt es einen Butler, eine Köchin und eine Sekretärin.
Sie alle kommen zu Wort und aus ihren Erzählungen und Handlungen verdichtet sich das Bild, das Tom von dem alten Herrn erhält.
Auch Tom wird in dem Werk seinen Part bekommen. Ohne Liebe geht es nicht!

So viel sei hier gesagt: im zweiten Teil beginnt eine Art Krimi um das Erscheinen und Verschwinden von Melody.
Ganz geheimnisvoll steuern wir auf ein Ende ihrer Geschichte zu, das uns staunen lässt und einen hohen Überraschungseffekt bietet.

Martin Suter erzählt in einem behaglichen Stil. Beschreibungen von Personen, Lebenssituationen und Ereignissen verbreiten Ruhe und lassen uns an dieser außerordentlichen Lebensgeschichte teilhaben.
Man wundert sich darüber, wie der Autor immer neue, interessante Sujets erfindet, um seine Leser zu unterhalten!
Insgesamt haben wir es mit einer absolut anregenden und angenehmen Lektüre zu tun, die uns aus unserem Alltag herausholt und abwechslungsreiche Unterhaltung auf einem hohem Niveau bietet.

Martin Suter
Melody
Diogenes, 3. Auflage März 2023
336 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3257072341
ISBN-13: 978-3257072341
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Eleonore Holmgren: Vielleicht der schönste Sommer

Eleonore Holmgren: Vielleicht der schönste Sommer

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Adam hat sich ordentlich Ärger eingehandelt. Der 20-Jährige weiß nicht mehr weiter. Seine Mutter hat ihn rausgeschmissen und sein bester Freund Abbe weist ihn ab. In seiner Not steigt er in ein verlassen aussehendes Haus ein. Ein richtiger Einbruch ist es für ihn nicht, denn er nutzt ein angelehntes Fenster. Am nächsten Morgen trifft auf Britta. Die 86-Jährige liebt es, auf Lindö zu sein und möchte hier in diesem wundervollen Landhaus noch einmal einen Sommer verbringen, auch wenn ihre Tochter strikt dagegen ist.

Britta bombardiert den jungen Mann mit misstrauischen Fragen. Er ist verwundert über ihren Mut und ihre Direktheit und bald nervöser als sie. Es fällt ihm schwer, über seine Situation zu sprechen. Am liebsten würde er wieder verschwinden, doch wohin? Und so nimmt er den angebotenen Kaffee an und sie teilen sich Dosen-Ravioli. Adam erzählt schließlich von Samir, den krummen Geschäften und seinen Schulden und erfährt von Britta, dass sie eigentlich nicht hier sein dürfte, weil ihre Tochter sie nicht allein im Haus wissen möchte. Immerhin steht ihr Freundin Iris zu Seite, die in der Nachbarschaft ebenfalls ein Sommerhaus hat.

Von der ersten Seite an hat mich das Buch gefangen genommen, was zunächst am Schreibstil lag. Aber auch inhaltlich überzeugt es. Eleonore Holmgren bringt Jung und Alt zusammen und lässt eine tiefe Freundschaft entstehen, trotz kleiner Streitereien und Reibungen. Britta und Adam wollen und müssen miteinander klarkommen. Britta fordert viel von dem jungen Mann. Er muss im Garten arbeiten, tut dies zunächst widerwillig und irgendwann mit großer Freude. Britta gesteht schließlich ein, dass ihr Leben auch nicht gerade geradlinig verlief, sondern eher kompliziert war, und sie ebenfalls Fehler gemacht hat.

Die Geschichte lebt von sehr gut dargestellten Charakteren, einem alten, aber charmantem Haus ohne jeglichen Komfort, einem wunderschönen Garten und der bezaubernden Natur der Schäreninsel Lindö. Die Annäherung zwischen Britta und Adam verläuft holprig, weil die beiden so gegensätzlich sind. Da sind die eigensinnige alte Dame, die fest glaubt, ihren letzten Sommer vor sich zu haben, und der einsam wirkende junge Mann, der es verpasst hat, erwachsen zu werden und nicht weiß, was er mit seinem Leben anfangen soll. Die Autorin verteilt die Aufmerksamkeit gleichmäßig auf beide Seiten und bringt die unterschiedlichen Generationen in einer perfekten Mischung aus lustigen, traurigen und nachdenkenswerten Szenen zusammen. Es ist viel Empathie zu spüren. Der Roman ist unterhaltsam und herzerwärmend.

Rezension von Heike Rau

Eleonore Holmgren
Vielleicht der schönste Sommer
Deutsch von Annika Ernst
336 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, Juni 2023
ISBN-10: 342328336X
ISBN-13: 978-3423283366
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Kent Haruf: Das Band, das uns hält

Kent Haruf: Das Band, das uns hält

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Aufgebrochen in den Westen der USA nach Colorado, damals um 1900 noch ein raues und unbesiedeltes Land, finden die junge Ada und John Goodnough nur schwer zueinander.
Er ist ein notorischer Eigenbrötler mit raubeinigen Manieren und wenig Herz. Seine Frau Ada ist zart und empfindsam. Sie ist dem groben Leben auf dem erst noch urbar zu machenden Land kaum gewachsen.

Mit dieser Einführung beginnt ein Roman, in dem es an Härte aber auch Liebe unter den Menschen nicht mangelt.
Die Geschichte schildert ein Geschwisterpaar, das durch äußere Umstände eng aneinander gebunden bleibt, so dass beide kein Lebensglück finden können.
Langsam aufgebaut und mit immer neuen Erzählsträngen versehen, öffnet uns der Autor den Blick auf ein Leben, das von äußerster Kargheit und entbehrungsreichen Jahren gezeichnet ist.

Ada stirbt schon mit 42 Jahren und hinterlässt ihre jungen Kinder einem Vater, der mit harter Hand durchgreift. Mürrisch und herrisch lässt er seine Kinder auf dem Feld und bei der Viehzucht kräftig zupacken.
Edith und Lyman sind die Kinder dieser Ehe, die kein Glück für alle brachte.

Erwachsen geworden wird Edith, eine hübsche junge Frau, von einem Nachbarn umworben, der sie gerne heiraten will. Der brutale und selbstsüchtige Vater weiß das zu verhindern. Edith kann sich seinem Anspruch, weiterhin für ihn und den Bruder Lyman zu sorgen, nicht entziehen.
Lymann sucht eines Tages das Weite und lässt sich erst 20 Jahre später wieder blicken.

Die Spannung steigt mit Fortgang der Geschichte. Man bekommt einen unmittelbaren Eindruck vom Leben auf dem Land, von Dürre, Schnee und Kälte. John Roscoe, der Nachbar, sieht mit argwöhnischen Augen, wie Ediths Leben unter der Härte der Lebensbedingungen langsam vergeht.

Die Erzählung vermittelt einen starken Eindruck vom Leben der Farmer, ihrer spartanischen Lebensweise, den wenigen Freuden, und den unfreundlichen Umgangsformen eines cholerischen und harten Wüterichs, den Roy Goudnough verkörpert.

Edith ist die eigentlich Leidtragende, weil sie dem wütenden Vater ausgeliefert bleibt. John Roscoe, deren Nachbar, heiratet und sie bekommen Sohn Sanders, der die ganze Zeit Erzähler dieser Geschichte bleibt.

In dem Roman passieren noch weitere unwahrscheinliche Geschichten. Ein rundes Bild einer fast archaischen Welt tut sich auf. Die Jahre gehen ins Land, und die Zeiten ändern sich.
Unverdrossen bleibt Edith ihrem Bruder Lyman verbunden, der bis zum bitteren Ende ihr Leben belastet.
Auch so kann Leben sein: Plackerei, Mühe und nie zugelassene Träume von einer besseren Lebensgestaltung.

Kent Haruf berichtet hautnah und intensiv. Man bleibt zunehmend fasziniert vom Fortgang der Geschichte und ihrem Ende. Haruf ist ein herausragender Erzähler, von dem es schon zahlreiche Bücher über den fiktiven Ort Holt in Colorado gibt.

Kent Haruf
Das Band, das uns hält
320 Seiten, gebunden
Diogenes, Mai 2023
ISBN-10: 3257072295
ISBN-13: 978-3257072297
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Daniel Glattauer: Die spürst du nicht

Daniel Glattauer: Die spürst du nicht

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Sophie Luise, die 14-jährige Tochter von Elisa und Oskar Strobl-Marinek, besteht darauf, dass ihre Schulfreundin Aayana, sie ist ein Flüchtlingskind aus Somalia, mit in den Urlaub in der Toskana kommt. Damit es eine entspannte Auszeit wird, legt sich ihre Mutter ins Zeug, diese Bedingung erfüllen zu können. Das befreundete Paar Engelbert und Melanie Binder und ihr 9-jähriger Sohn Benjamin sind mit von der Partie. Auch Sophie Luises jünger Schwester Lotte, ebenfalls 9 Jahre alt, kommt natürlich mit.

Zunächst werden die Erwachsenen vorgestellt. Der Autor streicht ihren erfolgreichen beruflichen Werdegang und ihre Charakterzüge heraus, sodass man sich ein Bild von ihren Stärken und Schwächen machen kann. Dass auch Aayana anwesend ist, stört die Binders nicht. Wie Engelbert so treffend formuliert: „… die spürst du gar nicht.“ (Seite 15). Und auch wie es dazu kam, dass das Flüchtlingskind mitkommen durfte, wird erzählt, denn es war ein großes Problem, seine Eltern davon zu überzeugen. Nicht nur wegen der Sprachbarriere. Es hätte ein schöner Urlaub werden können, doch kommt es anders. Es geschieht ein Unglück, mit dem nun alle zu kämpfen haben.

Jeder geht auf seine Weise damit um und versucht auf die äußeren Einflüsse so gut es geht, zu reagieren. Besonders Elisa gerät ins Blickfeld, da sie eine bekannte Politikerin ist. Sie strickt sich eine Geschichte zurecht, die erträglich ist und sie in einem besseren Licht dastehen lässt. Melanie Binder plagen Gewissensbisse. Die Männer versuchen zu relativieren. Sophie Luise wird vergessen. In der Schule wird sie ausgegrenzt. Also zieht sie sich zurück mit ihren Sorgen und Nöten, findet Trost im Internet, wo sie einen Jungen kennenlernt, der ihr unerwartet Verständnis entgegenbringt. Doch wie geht es der Familie von Aayana, die nach einer traumatischen Flucht jetzt den Verlust ihrer Tochter verkraften muss?

Auch wenn das Buch mit einem ironischen Unterton geschrieben ist, dürfte es niemanden kaltlassen. Schließlich greift der Autor hier ein Thema auf, das die Gesellschaft beschäftigt und Meinungen auseinandergehen lässt.
Der Erzählstil ist tiefgreifend, trotz oder gerade wegen dieses Untertons. Schaute man eben noch mit einem gewissen Abstand auf eine unterhaltsame Handlung und die mitspielenden Personen, ist man plötzlich mitten drin.

Die Geschichte liest sich wie ein Drehbuch. Der Autor führt Regie, wechselt dabei immer wieder Drehorte und Blickwinkel. Dialoge sind die bestimmenden Elemente, aber auch Pressetexte. Kommentare aus den sozialen Medien sind eingebunden, die das vielfältige und teils unsachliche Meinungsbild wiedergeben, das wir wohl alle kennen. Dazu kommen die Ausführungen der Anwälte, denn tatsächlich geht die Sache vor Gericht. Und hier wird alles noch einmal aufgerollt.

Rezensionen von Heike Rau

Daniel Glattauer
Die spürst du nicht
304 Seiten, gebunden
Paul Zsolnay Verlag, März 2023
ISBN-10: 3552073337
ISBN-13: 978-3552073333
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Fabio Andina: Davonkommen

Fabio Andina: Davonkommen

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Fabio Andina schreibt Bücher, die in ihrer Sprache von großer Eleganz, Stille und Melancholie erfüllt sind.

Der Icherzähler monologisiert unentwegt und teilt einem imaginären Zuhörer seine Gedanken mit.
Worum geht es eigentlich?
Nun, ein Mann fühlt sich schlecht, er sucht einen Psychiater und findet nur sehr schwer jemanden, der Zeit für ihn hat.
Schließlich gelingt es ihm. Ein Arzt verschreibt ihm Beruhigungs-und Schlafmittel. Er braucht sie dringend, denn seine Frau will sich trennen, und er erträgt den Gedanken kaum, sich damit auch von seinem kleinen Sohn trennen zu müssen.

Es folgen zahlreiche Episoden, die sich alle immer gleichen: es schneit, es ist sonnig, er musste in eine Hütte in den Bergen ziehen, weil er in der Stadt keine Wohnung fand. Er telefoniert täglich mit seinem Sohn, muss sich aber auch mit den Schikanen seiner Frau herumschlagen, die den Kontakt zum Sohn oftmals verhindert, mindestens aber stört.
Er liebt diesen Sohn sehr! In Gedanken spricht er mit ihm und sehnt sich nach ihm.
Arbeitslos und aller Bindungen beraubt, drehen sich seine Gedanken und inneren Monologe um ihn, diesen kleinen geliebten Sohn, der vier Jahre alt ist.

Als Wachdienst verdient der Erzähler mehr schlecht als gut seinen Unterhalt. In seiner Hütte herrscht Chaos.
Sein Leben pendelt unausgefüllt zwischen den Scheidungsanwälten, die inzwischen eingeschaltet wurden, seinem Dienst als Wachmann, seinen geregelten Besuchszeiten mit seinem Sohn, zwischen Bier und Beruhigungspillen. Albträume plagen ihn und spiegeln die Schrecken eines Lebens, dem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.

Und doch: was mach den Roman so reizvoll?
Es sind die feinsinnigen Beobachtungen, die immer wieder spürbare Stille und nach und nach eine große Ruhe, die von der Erzählung ausgeht.
Kein spannender Handlungsstrang stört eine Entwicklung, die den Protagonisten zum duldenden Menschen macht. Er scheint sein Leben allmählich zu akzeptieren. Die Liebe zum Sohn bleibt die einzige feste Konstante, die seinem Leben Halt und Ruhe gibt.
Sie kulminiert in der Frage an den Sohn “warum wolltest du denn die gelben Pumas?“ Und die Antwort “sie sind wie die Sonne und die Sonne ist groß……. so groß wie das Leben!“

Ein poetischer, einnehmender Roman über das Leben und den Kampf, es zu bestehen.

Fabio Andina
Davonkommen
Rotpunktverlag, April 2023
200 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3858699764
ISBN-13: 978-3858699763
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Daniel Glattauer: Die spürst du nicht

Daniel Glattauer: Die spürst du nicht

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Glattauer hat einen kurzweiligen und anregenden Roman geschrieben. Er benutzt die Möglichkeiten des Internets, um seine Geschichte in Szene zu setzen.

Zwei gut situierte Paare gönnen sich einen exklusiven Urlaub in der Toskana.
Die Strobl-Marineks und die Binders sind gut befreundet. Binders haben den Sohn Benjamin, und Martineks die Tochter Lotte und Sophie mitgebracht. Damit sich die 14jährige Sophie nicht langweilt, durfte sie ihre Freundin Aayana mit in den Urlaub nehmen. Aayana ist ein Flüchtlingsmädchen aus Somalia.

Was froh und entspannt beginnt, endet sehr bald in einer Katastrophe. Sophie will Aayana das Schwimmen beibringen. Doch diese nutzt die Nacht, um selber im Pool zu schwimmen. Dabei ertrinkt sie.

Was macht den Roman so lesenswert?
Glattauer baut den Roman so auf, dass der Hauptkonflikt fast sofort klar wird. Zugespitzt erlebt man eine Flüchtlingstragödie bedauerlichen Ausmaßes.
Es gibt die vielen vermeintlichen Nebensächlichkeiten, die zur Katastrophe beigetragen haben könnten.

Elisa Marinek hat einen Geliebten. Um ihre Ehe ist es nicht mehr gut bestellt. Sie ist eine emanzipierte Frau, promoviert und Abgeordnete der Grünen im österreichischen Parlament.
Ihre politische Karriere könnte durch durch Aayanas Tod Schaden nehmen.
Sophie hat einen Internetfreund, mit dem sie sich austauscht, und in den sie sich, ohne ihn je gesehen zu haben, verliebt.
Melanie bezichtigt Elisa, den Tod von Aayana bewußt nicht verhindert zu haben. Die Atmosphäre zwischen den Paaren ist angespannt.
Die Dialoge sind aufschlussreich, weil sie Stimmungen vermitteln, die konfliktträchtig und unaufrichtig sind.

Glattauer bedient sich u.a. des Internets, um Austausch und Kommentare dort zu verfassen.
Nach und nach erreichen sowohl Elisa als auch Sophie Häme und Spott über dieses Medium.
Es gibt die pubertierende Tochter, die sich angestachelt durch ihre Internetkorrespondenz in eine phantastische Liebesgeschichte hineinsteigert. Man erlebt zwei Ehepaare, die durch die ganze Geschichte aufgeregt und irritiert ihre bürgerliche Existenz gefährdet sehen.

Die Figuren sind eine jede sehr eigen in ihrer Charakterstruktur. Gebannt folgt man einer Erzählung, die uns nach Österreich mitnimmt, in die Toskana und am Ende mit allen rechtlichen Verwicklungen als Folge des Todes von Aayana wieder nach Wien.
Verwirrung der Gefühle und Befindlichkeiten auf der ganzen Linie!

Glattauer setzt allem die Krone auf, indem er die verschiedenen Erzählstränge gekonnt zusammenführt, so dass sich ein abgerundetes Verstrickungsmodell abzeichnet.

So ist das Leben: es steckt voll hintergründiger Fallstricke und führt Menschen zusammen, die sich entweder gegenseitig nutzen oder Unglück auslösen.

Daniel Glattauer hat wieder einmal einen anspruchsvollen Unterhaltungsroman geschrieben.

Daniel Glattauer
Die spürst du nicht
Paul Zsolnay Verlag, März 2023
304 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3552073337
ISBN-13: 978-3552073333
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Franziska Jebens: Immer am Meer entlang

Franziska Jebens: Immer am Meer entlang

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Der alte Bulli bedeutet für Josi Freiheit. Schon lange plant die Polizistin für ein Jahr an den Küsten Europas entlang zu reisen und Abenteuer zu erleben. Als alle Hindernisse aus dem Weg geräumt sind, macht sie sich freudig auf die von ihr zuvor genau durchgeplante Reise.
Paul hat sich spontan nach einem inspirierenden Vanlife Reisevortrag ein passendes Auto gekauft, hat es kurzerhand ausgebaut, seinen Job gekündigt und ist losgefahren. Er ist unzufrieden mit seinem Leben und nun soll es endlich in eine andere Richtung gehen.

Die beiden begegnen sich, als Paul eine Autopanne hat und Josi ihre Hilfe anbietet. Sie reisen nicht gemeinsam weiter, begegnen sich aber hin und wieder, tauschen Botschaften aus oder machen sich auf besonders schöne Orte aufmerksam. Aber auch so kann man sich näher kommen oder zumindest Freunde sein.

Sommer, Sonne, malerische Landschaften und Meeresblick. Es ist traumhaft schön, den Roadtrips von Josi und Paul zu folgen, die sich bewusst dazu entschieden haben, allein durch Landstriche Europas zu reisen. Der Leser wird mit Naturbeobachtungen in Urlaubsstimmung versetzt. Das gelingt wirklich gut, denn die Beschreibungen sind sehr detailreich, wecken Erinnerungen und machen auch ein bisschen sehnsüchtig, sollte der letzte Urlaub ans Meer schon eine Weile zurückliegen. Die Kapitel sind in Länder untergliedert und die Reiseziele sehr abwechslungsreich.

Es gibt zwei Handlungsstränge, sodass jeder seine eigene Geschichte erzählt und der Leser Gedanken und Gefühle nachempfinden und sich perfekt in Josi oder Paul hineinversetzen kann. Schließlich gibt es auch ernste Gründe für die Reise. Es bleibt viel Zeit zum Nachdenken und für eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Das ist der Vorteil, wenn man allein unterwegs ist. Wobei die beiden hin und wieder auch bewusst unterwegs neue Kontakte knüpfen und die Verbindung zu den Freunden zu Hause nicht abreißen lassen.

Das Buch ist beste Unterhaltungsliteratur. Es liest sich leicht, wirkt entspannend und vertreibt die Zeit perfekt, zumal die Autorin selbst gerne auf diese Weise reist und viele eigene Erlebnisse und Erfahrungen hat einfließen lassen.

Rezension von Heike Rau

Franziska Jebens
Immer am Meer entlang
416 Seiten, broschiert
dtv Verlagsgesellschaft, März 2023
ISBN-10: 3423218533
ISBN-13: 978-3423218535
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Annika Büsing: Koller

Annika Büsing: Koller

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Dieses Buch ist ein Roadmovie der besonderen Art.

In einer trockenen und spröden Sprache beschreibt Annika Büsing die Geschichte von Chris und Koller, der eigentlich Kolja heisst.
Es fängt mit der Liebe an und hört mit ihr auf.
Wer ist Chris: Junge oder Mädchen?
Dann wird es klar: Koller hat sich in ihn verliebt! Chris ist der Icherzähler, ein nachdenklicher und ruhiger Mensch.
Zwischen den Zeilen wird die Geschichte eines jeden Jungen eingeblendet.
Sie lassen sich treiben und gehen keiner regelmäßigen Beschäftigung nach. Koller hat Medizin studiert. Das praktische Jahr stünde an; aber er mag nicht arbeiten.

Chris erzählt in Andeutungen von seiner Mutter. Sie ist Ärztin und liest Hegel. Er wuchs in einem gebildeten aber vaterlosen Haushalt auf.

Koller erfährt unvermutet, dass er Vater einer 4jährigen Tochter ist. Das haut ihn um. Also macht er sich mit Chris auf den Weg, sie zu besuchen. Sie fahren mit einem alten Polo an die Ostsee. Der Weg wird von allerhand Misshelligkeiten unterbrochen.

Den trockenen Sprachstil erkennt man wieder. Schon in „Nordstadt“ war dieser Sound sprachbestimmend. Er hat eine seltsame Faszination für den Leser*In.

Annika Büsing lässt die Männer unterschiedliche Stationen passieren. Mal ist es das Heim, in dem die behinderte Schwester von Koller lebt. Dann wieder suchen sie die Kate von Kollers Oma. Im Grunde erleben sie Nichtigkeiten. Eine gewisse Lethargie und Antriebslosigkeit lässt die Burschen ihres Weges ziehen. Haben sie ein Ziel? Es ist nicht erkennbar. Vielleicht einfach: in den Tag hineinleben, um den Moment zu genießen.

Auffällig sind Einschübe von poetischer Sprachkraft. Sie erinnern an biblische Aussprüche. Mitten hinein in einen ganz gewöhnlichen Augenblick „Die Sonne geht unter. Und siehe, es ist alles gut“ erscheinen diese Sätze wie aus dem Rahmen fallende Momente der Ruhe.
Alle dargestellten Beziehungen sind konfus. Sie sind ganz sicher nicht bürgerlich.
Am Ende geht es um Identitätsfindung, Autonomiesuche und um die Frage, was und wozu leben wir.

Verklausuliert in ihrer stockenden Alltagssprache bietet die Erzählung mit ihrem Tiefgang einen ganz einmaligen Reiz.
Es handelt sich um eine verlorene Generation mit starken Gefühlen, die nur sehr verhalten rüberkommen. Nicht zuletzt spielt das Leben in West und Ost vor und nach der Wende eine Rolle.

Am Ende wirkt die Geschichte, als ließe die Autorin uns mit einem Fragezeichen zurück. Glück? Freude?
“Man schwimmt eine Runde durch den Teich und guckt, was so geht.“ Momente scheinen den Augenblick zu bestimmen.

Annika Büsing
Koller
Steidl Verlag, 2. Auflage, März 2023
176 Seiten, gebunden
ISBN-10: 396999196X
ISBN-13: 978-3969991961
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