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Kategorie: Belletristik

Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts

Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts

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„Ich liebe dich“ und „Ich verlasse dich“. Mit diesen drei Wörtern kann eine langjährige Beziehung umschrieben werden.

Im neuen Roman von Julia Schoch will eine Frau ihren Mann verlassen.
In Gedanken lässt sie, die selber Schriftstellerin ist, ihre gesamte Liebesgeschichte noch einmal vor ihrem inneren Auge ablaufen.
Zuerst ist sie jung, verliebt und neugierig auf das Leben.
Zwischen den Zeilen, die teilweise einem Monolog gleichen, spürt man allerdings von Beginn an, dass hier eine junge Frau einen Freund liebt, dessen sie sich nie so ganz sicher gewesen zu sein scheint.
Sie studierten in der Nachwendezeit und trafen sich immer wieder.
Man verbringt Tage und Nächte zusammen, geht gemeinsam ins Kino, und sie ist ganz hingerissen von ihm. Ist er das auch von ihr?
Auf jeden Fall ist er in ihrer Darstellung einer, den sie als überlegen wahrnimmt. Sein Wort gilt, und sie fühlt sich wohl in seinem Schatten.

Was mit Überschwang beginnt, zeigt schon bald kleine Risse. Ein versäumter Termin, lange Tage ohne Kontakt: man spürt es schon. Hier wird nicht alles ganz reibungslos verlaufen.
Die euphorische Feststellung, „das Liebespaar des Jahrhunderts“ zu sein, wird nicht so bleiben!

Julia Schoch fühlt sich ganz in das Leben des Paares ein. Sie beschreibt, wie die anfängliche Hochstimmung nach und nach einem Alltag weicht, der dem so vieler anderer Paare gleicht.

Kinder werden geboren; Beruf, Alltag und Familienleben müssen in Gleichklang gebracht werden. Abnutzung und Ermüdung betreffen neben den alltäglichen Verrichtungen auch das sexuelle Leben der beiden. Man läuft schweigend aneinander vorbei, und die Zeit verrinnt. Sind die Träume des glücklichen Liebeslebens zerronnen?

Die Erzählerin vermerkt minutiös, wie sie sich mit dem Gedanken plagt, den Mann zu verlassen.

Gemessen an dem, was sie erwartet hat, wirkt der fortschreitende Prozess des Alltags recht trostlos. Julia Schoch kann Stimmungen einfangen und Situationen, Handreichungen und Haushaltsverrichtungen so beschreiben, dass der Leser*In ganz in dieses Milieu eintaucht.
Sie beweist einmal mehr, wie genau sie beobachten kann. Ihre Darstellung einer ermüdenden Beziehung ist echt und überzeugend und fängt das Leben ein, wie es ist.
Glücksgefühle allerdings sind rar in der Beziehung. Auch das ein Stück Realität?
Der Leser*In wird es prüfen und mit dem eigenen Leben vergleichen.

Das überraschende Ende des Romans lässt erkennen, dass „Leben und Liebe“ so ist, wie man es hier beschrieben findet.

Julia Schoch
Das Liebespaar des Jahrhunderts
dtv Verlagsgesellschaft, Februar 2023
192 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3423283335
ISBN-13: 978-3423283335
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Franzobel: Einsteins Hirn

Franzobel: Einsteins Hirn

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Eigentlich soll Albert Einstein nach seinem Tod umgehend verbrannt werden. Doch der Pathologe Thomas Stoltz Harvey erdreistet sich, bei der Autopsie das Gehirn zu entnehmen, nicht ahnend, dass es ihn über 40 Jahre lang begleiten wird. Die Familie empört sich, aber schließlich stimmt der Nachlassverwalter Otto Nathan, der auch ein enger Freund Albert Einsteins war, unter gewissen Bedingungen einer entsprechenden Forschungsarbeit zu, die den Pathologen allerdings gnadenlos überfordert. Harvey will der Genialität des Physikers auf die Spur kommen, hat aber nicht die entsprechenden Möglichkeiten. Er pokert hoch, wird berühmt und zahlt dafür einen Preis. Er lügt, hält hin und erfindet dies und das. Aber er ist fasziniert von diesem Hirn, das von ihm zersäbelt und konserviert in Einmachgläsern ausharrt und schließlich beginnt, mit ihm zu sprechen.

Die Jahre kommen und gehen. Das Rad der Geschichte dreht sich weiter. Der Leser bekommt einen tiefen Einblick in das Leben des Pathologen und das Zeitgeschehen. Das Hirn des Nobelpreisträgers beendet seine berufliche Laufbahn, bringt ihm Ärger ein, lässt drei Ehen scheitern, setzt ihn unter Druck und zieht Aufmerksamkeit auf sich. Und doch will er es nicht hergeben.

Es ist eine erstaunliche Geschichte entstanden, die sich genau so ereignet haben könnte oder zumindest so ähnlich. Der Rahmen stimmt jedenfalls und die Hintergründe sind perfekt recherchiert und soweit Tatsache. Und so einiges, das die Geschichte spannender macht, ist mit viel künstlerischer Freiheit und einem gewissen Hang zu bissiger Ironie eingewoben. Das funktioniert ganz gut. Es ist schon interessant, wie der Autor die Vorstellungskraft anregt, indem er Personen zeichnet, das Zeitgeschehen einfließen lässt und Begebenheiten auf seine Weise ausschmückt. Das nicht eben geradlinig verlaufende Leben des Pathologen Thomas Stoltz Harvey ist auf faszinierende Weise dargestellt. Im letzten Drittel zieht es sich allerdings dann doch ein bisschen.

Rezension von Heike Rau

Franzobel
Einsteins Hirn
544 Seiten, gebunden
‎Paul Zsolnay, Januar 2023
ISBN-10: 3552073345
ISBN-13: 978-3552073340
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Fabio Geda: Ein Sonntag mit Elena

Fabio Geda: Ein Sonntag mit Elena

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In diesem wunderbaren Roman findet man sein Glück beim Lesen!
Leicht elegisch, von stillem Glück, vom Alter und der Einsamkeit handelt dieser kleine Roman.

Ernesto hat seine Frau verloren. Er ist 67 Jahre alt und lebt in einer ruhigen, beschaulichen Straße am Fluss im Turin.
Seine Kinder sind fern, nur Sonja, die Älteste, lebt mit ihren Kindern in Rom. Eines Sonntags hat er sie mit ihren beiden Kindern zum Essen eingeladen. Doch eine ihrer Töchter fällt vom Baum, und sie können nicht kommen.

So erleben wir Ernesto, wie er mit seinem fertigen Essen und der Einsamkeit fertig zu werden trachtet.
Er geht in den Park und lernt Elena mit ihrem Sohn dort kennen. Ohne tiefgründige Absicht lädt er die beiden zum Essen ein.
Gaston, der Junge, ist begeistert von den Bastelkünsten des alten Herren, und die drei verleben einen behaglichen Sonntag. Es ist der einzige Hinweis auf den Titel des Romans. Denn es geht um mehr!

In stillen und ruhigen Passagen beschreibt uns der Autor Fabio Geda das gegenwärtige und vergangene Leben von Ernesto. Es sind beschauliche Augenblicke und Ausblicke, die das Familienleben geprägt haben. Die Kinder und seine Frau sind das Glück von Ernesto. Er war als Ingenieur viel verreist, denn er baute große Brücken überall in der Welt.
Nicht immer verlief das Leben reibungslos.

Giulia ist die Erzählerin in diesem Werk. Sie spinnt das feine Netz von Begegnungen, erzählt vom Liebesleben der Eltern und ihren gemeinsamen Familienjahren. Konflikte blieben lange unausgesprochen.

Wie in allen Familien gab es nicht nur das reine Glück! Giulia und der Vater haben sich entfremdet. Als die Kinder alle in ihren Berufen gefestigt waren, und die Töchter Kinder bekamen, fanden sie wieder zusammen. „Es ging nicht darum, zu begraben und zu vergessen: sondern zu verzeihen!“( S. 218) Dieser Satz ist charakteristisch für den Stil des ganzen Romans. Man ist erfüllt von der Stimmung aus Liebe, Großzügigkeit und Altersweisheit.

Als Ernesto schließlich alt und krank ist, begegnet ihm im Krankenhaus Elena wieder. Auch sie ist zur Zeit ihrer Begegnung vor so vielen Jahren eine verlorene Seele gewesen, die mit ihrem Leben nichts mehr anfangen konnte. Sie war von Ernesto ermutigt worden, ihr Leben nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes in die Hand zu nehmen. Nun hat sie es geschafft und ist Krankenschwester geworden.

Mehr gibt es zu dem Roman nicht zu sagen. Man lese ihn! Er ist rund und gelungen in seinen poetisch reizvollen kurzen Lebensstimmungen und den Schicksalen, von denen man hört.

Fabio Geda
Ein Sonntag mit Elena
240 Seiten, gebunden
hanserblau, 2. Auflage, August 2020
ISBN-10: 3446267956
ISBN-13: 978-3446267954O
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Gabrielle Filteau-Chiba: Bis der Fluss taut – Tagebuch aus der Wildnis

Gabrielle Filteau-Chiba: Bis der Fluss taut – Tagebuch aus der Wildnis

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Anouk hat Montreal den Rücken gekehrt, um in einer einfachen Hütte in der Wildnis von Kamouraska zu leben. Um in dieser eisigen Kälte überleben zu können, muss sie sich jeden Tag bei durch den Schnee kämpfen, um Holz zu holen, damit der kleine Ofen, er ist ihre einzige Wärmequelle, nicht ausgeht. Bald friert der Fluss zu und gibt kein Wasser mehr her, sodass ihr nichts anderes übrig bleibt, als Schnee zu schmelzen. Von der Zivilisation hört sie nur den Zug, der ihr eine zeitliche Orientierung gibt und für eine gewisse Struktur im Alltag sorgt. Doch eines Tages fährt er nicht mehr.

Zurück will Anouk keinesfalls, denn das zivilisierte Leben hat ihr noch viel weniger zu bieten. Sie zieht die Einsamkeit vor, doch wäre ihr Zweisamkeit lieber. Die junge Frau denkt viel nach, träumt und beschäftigt sich mit dem Schreiben in den wenigen hellen Stunden und in der Dunkelheit bei Kerzenschein. Sie versucht, mit ihren Ängsten klarzukommen und sich auf das Wesentliche hier draußen zu konzentrieren, denn auch ernste Gefahren hält die Natur bereit, wie sie bald feststellen muss. Anouk ist froh, als eines Tages ein Kater kommt und ihr Gesellschaft leistet. Nach Wärme und Nähe sehnt sich sehr. Er soll nicht der einzige Überraschungsgast bleiben.

Die Autorin bedient sich einer tiefgehenden Sprache und schafft eine besondere Atmosphäre. Sie malt mit Worten faszinierende Naturbilder, die einen Gegensatz zur Enge in der einfachen Hütte bilden.

Viel ist in diesem Buch leider nicht über Anouk zu erfahren. Dazu ist es viel zu kurz. Ihre Motivation stellt sich vor allem in ihrer engen Naturverbundenheit dar. Sie sieht das Ökosystem bedroht und ist damit nicht allein. Was wird wohl aus ihr werden? Was wird sie tun nach dieser Kältewelle und nach diesem Winter? Wir erfahren es nicht, aber es ist auf den letzten Seiten ihres Tagebuchs von Hoffnung zu lesen und einem großen Vorhaben, das sie angehen will.

Rezension von Heike Rau

Gabrielle Filteau-Chiba
Bis der Fluss taut
Tagebuch aus der Wildnis
Aus dem Quebecfranzösischen von Katrin Segerer
112 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, Dezember 2022
ISBN-10: 3423290277
ISBN-13: 978-3423290272
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Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen

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In diesem Debütroman aus dem Jahr 2016 von Daniela Krien geht es um eine außergewöhnliche Liebesgeschichte und um eine weitläufige Bauernfamilie jenseits der westdeutschen Grenze in der DDR.

Der Brendel- und der Hennerhof sind zwei benachbarte Höfe. Das Leben in und um die Höfe ist geprägt von den Bewohnern, die in ihrer ganzen vielfältigen Verwandtschaft in die Geschichte hineinspielen.

Die Wende hat gerade stattgefunden. Hier aber geht das Leben seinen Gang. Die LPGs gibt es nicht mehr, und einzelne Bauern sind wieder Besitzer ihrer Höfe. Ein großes Fest zur Wiedervereinigung steht an!

Maria, die Icherzählerin, ist 16 und geht in die Schule. Dort trifft sie Johannis vom Brendelhof. Er nimmt sie mit und stellt sie seinen Eltern vor. Fortan lebt sie mit ihm auf seinem elterlichen Gehöft, da ihre Mutter verlassen vom Vater ein ärmliches Leben führt.

Herrliche Landschaftsbilder in einem flimmernden Sommer führen einen sogleich in das Landleben ein. Maria ist jung, hübsch und unbeschwert. Sie schwänzt die Schule und geht ihren eigenen Träumen nach. Dem Lesen gehört ihre Leidenschaft. Es sind die „Brüder Karamasow“, die sie besonders faszinieren.

Bei all dem Treiben und den Begegnungen lernt sie den viel älteren Bauern Henner vom Nachbarhof kennen. Er ist schon vierzig Jahre alt.
Zwischen den beiden bahnt sich eine große Leidenschaft an. Maria ist diesem Mann sehr bald hörig. Ihre Gefühle schwanken zwischen Scham, Schuld und Ekstase. Die Lüge überdeckt ihr geheimes Leben mit Henner, der ihr Vater, Mutter, Freund und Geliebter in einem ist.

Der Krieg mit seinen Auswüchsen, die DDR mit ihrem Gefolgschaftswahn und ihren Schrecken: durch die Schicksale der einzelnen Figuren kommt vieles zur Sprache.
Mit der Wende soll nun alles anders werden.

Hinreißend sind die Naturbeschreibungen und die von Maria wahrgenommenen Empfindungen beim Betrachten der Häuser, der Zimmer mit allen Einzelheiten und der Küche mit ihren wunderbaren Gerüchen vom Backen, Braten und Kochen. Die Ansprüche der Bewohner sind bescheiden. In der Kneipe mit ihren Besuchern findet man Einblicke in das Dorfleben, und in der Natur erlebt man die Vielfalt an Stimmungen mit ihren wechselnden Jahreszeiten.

Die amour fou zwischen dem vierzigjährigen Henner und der bald siebzehnjährigen Maria bleibt das untergründig beherrschende Thema der Geschichte, geheim und verboten. Das Reifen des jungen Mädchens zur Frau ist nachvollziehbar. Es gibt der Geschichte Spannung und wird in einer so authentischen Weise geschildert, dass man meint, alles könnte sich genau so zugetragen haben.

Daniela Krien kann schreiben! Sie hat das Feingefühl und das richtige Gespür für menschliche Schwächen, Größen und, ja, auch Details des Alltagslebens auf dem Land. Wie sich die Zeiten verändern, wie es auch nebenbei politische Betrachtungen gibt, das ist meisterhaft geschildert.
Das Ende kommt überraschend, erschreckend und passt genau.

Ein wunderbares Buch, das einmal mehr Daniela Kriens Fähigkeiten als herausragende Autorin unter Beweis stellt.

Daniela Krien
Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Diogenes, 1. Auflage, November 2022
272 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3257072198
ISBN-13: 978-3257072198O
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Fatma Aydemir: Dschinns

Fatma Aydemir: Dschinns

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In diesem Familienroman wird eine Gastarbeiterfamilie aus der Türkei zum Thema der Auseinandersetzung genommen, die zwischen eigener Identität und aufgezwungener Fremdheit besteht.

Die Familie von Hüseyin versammelt sich in einer Wohnung in Istanbul nach dem Tod von Hüseyin, der voller Glück seine mühsam ersparte neue Wohnung für den Ruhestand beziehen wollte. Infolge eines Herzinfarktes ist er gestorben.

Nach der Hochzeit ist Hüseyin nach Deutschland gegangen, um gutes Geld zu verdienen. Sie hatten damals schon drei Kinder: Sevda, Hakan und Perihan.
Nach acht langen Jahren holt Hüseyin seine Frau und zwei seiner Kinder nach Deutschland. Sevda muss noch einige Zeit bei der Großmutter bleiben. Erst als sie 15 ist, wird sie vom Vater nachgeholt.

Die Erzählung befasst sich mit den Auswirkungen der Umsiedlung nach Deutschland, die für Familienkonstellationen eigene Probleme mit sich bringt: fremd in einem fernen Land halten sich die Eltern an die Sitten und Gebräuche ihrer Herkunft, während die Kinder sich an die Normen des Gastarbeiterlandes anzupassen versuchen.

In einzelnen Kapiteln widmet sich die Autorin intensiv jedem Familienmitglied.
Sevda muss jung heiraten und darf ihrem Wunsch, eine Schule zu besuchen, nicht nachkommen.
Sie zeigt früh Freiheitbestrebungen. Mit Groll erinnert sie sich ihres erzwungenen Ehelebens.
Hakan ist ein Verlierer, der abseits von Erfolg und Ehrgeiz dubiosen Geschäfte nachgeht.
Peri darf nach erfolgreichem Schulabschluss studieren. Der Nachzügler ist schwul, was er nur der Schwester anvertraut.

Die Zerrissenheit der Familie liegt auf der Hand. Hüseyin plagt sich redlich in der Fabrik. Sein Leben pendelt zwischen Arbeit und Schlafen. Emine geht nie aus und bleibt für Haus und Küche da. Die Kinder dieser Gastarbeiterfamilie sind sich selber überlassen. Sie wandeln auf unterschiedlichen Pfaden. Und wie unterschiedlich fallen diese aus!

In einem gut konstruierten Rahmen zeigt uns die Autorin, wohin die Wege des Menschen führen, wenn keine geschlossene Gemeinschaft mehr besteht. Eine Orientierung ist unter diesen Bedingungen nur schwer zu finden.

Die Eltern tragen ein ganz besonders bedrückendes Geheimnis mit sich. Es zeigt einmal mehr die Abhängigkeiten der Frauen vom Familienverband. Frauen gelten nicht als Individuen.

Sevda wird sich dem Zwang irgendwann entziehen und zusammen mit ihren Kindern ihre eigenen Wünsche realisieren. Sevda ist auch diejenige, die die klarsten und schmerzlichsten Worte findet, um ihrer Mutter Fehlentscheidungen und die mangelnde Selbstständigkeit vorzuhalten.
Missverständnisse und Schweigen zeichnen die Beziehungen zwischen Hüseyin und Emine aus.
Vieles bleibt tabuisiert! Da kann nur eine desillusionierte Sevda dazwischen gehen.
Das Treffen in Istanbul anlässlich des Todes von Hüseyin endet dramatisch.

Fatma Aydemir hat einen großartigen Familienroman verfasst. Hier prallen Orient und Oxident aufeinander. Die Fliehkräfte unterschiedlicher Lebensformen bringen den Zusammenhalt der Familie auseinander. Keiner wird mit seiner Lebensgestaltung wirklich glücklich. Nicht viele Menschen des Gastlandes können sich in die Lage ihrer Gastarbeiter hineinversetzen. Auch diese bleiben unter sich und leben schlecht und recht mit ihrer Isolation und Einsamkeit in einem fremden Land.

Die Autorin Fatma Aydemir schreibt voller Empathie, feiner Beobachtung und sensibler Wahrnehmung, was in dieser Familie mit den einzelnen Mitgliedern passiert.

Der Leser*in bleibt nicht unberührt vom Geschehen und schaut mit anderen Augen auf Menschen, die als Arbeiter unser Land unterstützen und sich selber fast verlieren in der Hilflosigkeit.
Es ist ein wirklicher Verdienst der Autorin, einmal den Fokus auf diese Problematik zu lenken.

Fatma Aydemir
Dschinns
Carl Hanser Verlag, 6. Auflage, Februar 2022
368 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3446269142
ISBN-13: 978-3446269149
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Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter

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Mutter ist zu dick!
Wie ein Mantra zieht sich diese Feststellung durch den ganzen Roman.

Dieses Buch über eine Familie im Hunsrück zu Beginn der 80ziger Jahre löst Mitgefühl, Empörung und Zorn aus. Zorn darüber, wie ein Mann seine Frau tyrannisiert, und wie diese Frau über Jahre mit dieser Tyrannei leben konnte.

Sie leben in einem kleinen Dorf im Hunsrück: Vater, Mutter und die Tochter Ela.
Von Beginn an merkt man, dass ein unerträgliches Klima des Zanks und des Streits in der Familie zu spüren ist.
Der Vater moniert ständig, dass seine Frau zu dick sei. Das Töchterchen Ela beobachtet und fühlt die Spannung, die fast zu jede Minute des Zusammenseins in der Luft liegt. Sie berichtet aus der Perspektive einer Sechs-bis Zehnjährigen über die Jahre zwischen 1986 bis 1990.

Ist die Mutter zu dick? Man glaubt es kaum, denn anlässlich eines Badeurlaubs in Italien denkt Ela, dass die Mutter schön ist. Im Laufe der Jahre sieht sie die Mutter aber mehr und mehr mit den Augen des Vaters.

Die hilfsbereite und soziale Mutter und der ambitionierte Vater bilden die Pole, zwischen denen das Befinden des Kindes schwankt.

Eine unausgesprochene Wut seitens der Mutter und die ständigen Nörgeleien des Vaters, der ihre Figur zur Ursache für seine eigenen Misserfolge erklärt, prägen das Geschehen. Hin und her gerissen zwischen der Liebe zur Mutter und dem Vater muss sich Ela einen eigenen Weg suchen. Sie ist ein fröhliches Kind, der „Sonnenschein“ der Familie.

Ela ist unschwer als das Alter Ego der Autorin zu erkennen. Sie beschreibt das Leben ihrer Mutter als einer Abhängigen, die sich der ständigen Kritik des Vaters nicht entziehen kann. Der Vater hat seine bäuerliche Herkunft verlassen und ist technischer Zeichner geworden. Er möchte Karriere machen. Seine Klagen über den Berufsalltag und die empfundene Ungerechtigkeit bei Beförderungen bestimmen sein Denken und die Gespräche bei Tisch.
Es ist ein schrecklich verklemmtes Spießerleben, voller Vorurteile und Klischees!

Zwischen den einzelnen Kapiteln des Romans reflektiert die erwachsene Tochter Ela das Verhalten der Eltern und stellt Fragen, ob wirklich alles so war, wie sie es sieht.

Während sich die Mutter mit Diäten quält, tänzelt der Vater mit immer neuen Ideen durchs Leben, braun gebrannt und dem Erfolg hinterher. Ein neues Auto, ein neues Haus: nichts scheint unmöglich, um Prestige zu gewinnen.

Auch die Großelternpaare streiten untereinander.
Das Motto in beiden Häusern war: “ Opa hat entschieden, Oma ist gelaufen. Er war der Kopf, sie die Beine“.

Die achtziger Jahre mit ihren gesellschaftlichen und familiären Zwängen werden ausgezeichnet wiedergegeben. Die Grünen ziehen in den Bundestag ein, und Kohl wird Bundeskanzler. Männerherrschaft in allen Bereichen wird überzeugend beschrieben. Mit der Emanzipation hat es in dem abgelegenen Dorf, und vielleicht nicht nur dort, noch nicht geklappt.

Das Buch liest sich flüssig. Es sind bedrückende Jahre ihrer Kindheit, die von der erwachsenen Ela/ Dröscher zu einem aufschlussreichen Familienporträt verarbeitet wurden. Man kann sich den Sog der Erzählung nicht entziehen.

Daniela Dröscher war mit dieser Arbeit auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

Daniela Dröscher
Lügen über meine Mutter
Kiepenheuer & Witsch, 3. Auflage, August 2022
448 Seiten, gebunden
ISBN-10: 346200199X
ISBN-13: 978-3462001990
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Ian McEwan: Lektionen

Ian McEwan: Lektionen

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Roland Baines ist der Held einer Geschichte, in der es um die Geschicke eines langen Lebens geht. Wie der Autor ist er 1948 geboren.
Wir begegnen ihm als jungen Vater mit seinem Baby Lawrence, allein, denn seine Frau hat ihn kürzlich verlassen. Wir schreiben das Jahr 1986.

Seine Gedanken wandern zurück zu seiner Jugend und Vergangenheit.
In Lybien verbrachte er eine sorglose Kindheit. Sein Vater war Offizier des englischen Militärs in Tiflis.
Mit 11 Jahre schickte der Vater ihn nach England in ein Internat. Abgesehen von den strengen und rigiden Erziehungsformen begegnet er der Klavierlehrerin Cornell. Durch sie erfährt sein Leben eine Wende, die schicksalhaft für sein weiteres Leben sein wird.

Sein hoffnungsvoller Start als möglicher Starpianist zerschellte an der Wirklichkeit seines Lebens.
Er kommt fortan nie zu einem zufriedenstellenden Berufswerdegang. Mit Gelegenheitsarbeiten schlägt er sich durch und wird zuletzt Barpianist. Die Anzahl unsteter Frauenbeziehungen ist legendär.

Jahre nach der Trennung von Alissa, seiner Frau, findet er eine neue Partnerin. Auch Daphnes Ehe ist gescheitert. Leider hält auch diese Beziehung den Forderungen des Alltags nicht stand, weil Roland entschlusslos vor sich hinlebt. Einzig sein Sohn Lawrence bietet eine ruhige Konstante. Die beiden leben in Frieden zusammen. Warum ihn seine Frau verlassen hat, wird er erst viel später erfahren.

Die Erzählung MacEwans bewegt sich stets ganz nah am Schicksal seines Helden. Man spürt die innere Verbundenheit mit ihm.
Es gelingt ihm vorbildlich, seinen Protagonisten durch lange Jahre des Lebens zu begleiten. Er zeigt Empathie und bestimmt den Fortgang der Geschichte durch die Entzerrung der verworrenen Geschehnisse, die Roland Baines auf seinen so unbefriedigenden Lebensweg geführt haben.
Es gibt in der Geschichte Familientragödien, lustlose Ehen und abgebrochene Karrieren.

Die politische Geschichte bietet einen weiteren Rahmen zur Erzählung: Kubakrise, Mauerbau, Fall der Mauer, 9/11 und Wandel in den politischen Geschicken der einzelnen Länder bis hin zur Pandemie der Jahre ab 2020 weiten unseren Blick auf das Zeitgeschehen.

McEwan erzählt mit langem Atem und verliert sich zuweilen in Seitensträngen. Die Figur von Roland Baines und sein Leben bieten die Basis für Erkenntnisse um Leben, Liebe, Tod und Leidenschaft.
Ihm ist es gelungen, die Strömungen und Einflüsse eines halben Jahrhunderts transparent zu machen. Jugendlicher Leichtsinn, Verführung, Versagen und Genügsamkeit prägten Roland Baines Leben. Altersweisheit führt zuletzt zu einem versöhnlichen Ende.

Die Geschichte begeistert, denn selten werden so wunderbar Höhen und Tiefen eines Lebens ausgelotet wie von Ian MacEwan.

Ian McEwan
Lektionen
Diogenes, September 2022
720 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3257072139
ISBN-13: 978-3257072136
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Ferdinand von Schirach: Nachmittage

Ferdinand von Schirach: Nachmittage

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Den vorliegenden wunderbaren Erzählband möchte man nicht aus der Hand legen! Wie Perlen reihen sich Erzählungen mit den seltsamsten Begegnungen und Erlebnissen aneinander.

Ein namenloser Schriftsteller und Icherzähler, womöglich das alter ego des Autors, ist häufig auf Lesereisen. Diese führen ihn in ferne Städte und Länder in aller Welt.

Zwischen den Lesungen, Veranstaltungen und Reisen sucht der Erzähler Ruhe. Bei diesen Gelegenheiten gesellen sich zuweilen Personen zu ihm, die eine Episode aus ihrem Leben erzählen möchten. Die Anonymität der Begegnungen, die fast immer vorübergehend sind, macht sehr persönliche Beichten möglich. Und so hören wir von Schicksalen, die in ihrer Einzigartigkeit beeindrucken und uns einen Einblick in die Vielfalt menschlicher Erfahrungen gewähren. Wie verworren können Bindungen zwischen Menschen sein, und welchen Irrtümern in der Wahrnehmung sitzen sie gelegentlich auf! Ob spät entdeckte vermeintliche Untreue oder verpasste Gelegenheiten, ob Rache oder Wut: der Erzähler beschreibt u.a. Menschen, die von ihren wohl geordneten Wegen abgekommen sind. Kriminelle Handlungen gehören ebenso dazu wie zarte Bande der Liebe oder geheime sexuelle Vorlieben. Fast in jeder der 27 verfassten Geschichten lauern ungewöhnliche Handlungen.

Ferdinand von Schirach hat eine bedächtige Art zu erzählen. Seine Berichte strahlen eine große Ruhe aus, die sich dem Leser*In mitteilt. Die Sätze sind kurz und prägnant. Mit keinem Wort zu viel und Zitaten zu passenden Gelegenheiten ergötzen uns die schönen und auch traurigen Geschichten aus dem Leben. Notizen über Kunst, Kultur und Literatur ergänzen den Band von Erzählungen.
Diskrete Reflexionen über eigenes Befinden des Dichters sind ausnehmend fein und sensibel in der Darstellung.

Eine der letzten Geschichten handelt von dem Künstler Giacometti. Der Erzähler schätzt ihn und besucht seine Werke in einem Museum. Die Erinnerungen an seine erste Begegnung mit dessen Kunstwerken überwältigen ihn fast. Danach kommt es zur Aufzählung all’ jener Dichter und Denker, die er im Leben geschätzt hat. Es ist ein schöner Schluss für diese einmaligen Erzählungen.

Von Schirach ist ein herausragender Schriftsteller. Seine Nüchternheit und Nachdenklichkeit ist bemerkenswert. Dieses schmale Bändchen mit Erinnerungsgeschichten übertrifft alles, was ich bisher von ihm gelesen habe.

Ferdinand von Schirach
Nachmittage
Luchterhand Literaturverlag, August 2022
176 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3630877230
ISBN-13: 978-3630877235
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Georgi Gospodinov: Zeitzuflucht

Georgi Gospodinov: Zeitzuflucht

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Es ist eine schöne Illusion, sich vorzustellen, man könne sich aussuchen, in welchem Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts man gerne leben würde. Diese Utopie hat sich Georgi Gospodinov zum Thema seines vorliegenden Romans genommen.

Beginnend mit Gedanken an den Anfang der Menschheit setzt ein Satz dem Suchen danach ein Ende: „Am 1. September 1939 früh am Morgen kam das Ende der menschlichen Zeit“(S.18)
Jeder weiß, was mit diesem Datum gemeint ist!
Nach dieser Einführung beginnt ein Roman, der seinesgleichen sucht.

Ein ungenannter Schriftsteller in Sofia/Bulgarien berichtet von zahlreichen kleinen Beobachtungen und Entdeckungen, die darin gipfeln, dass er einen alten Freund sucht. Es handelt sich um Dr. Gaustin, einem exzentrischen Flaneur und Arzt, den er überraschend in Zürich wiederfindet. Gaustin will eine seltene Form von Geriatrie für Demenzkranke gründen. Der Erzähler soll ihm dabei behilflich sein. Es soll das „Haus der Vergangenheit“ heißen. In diesem Haus wird es verschiedene Zeitebenen von den vierziger bis in die neunziger Jahre geben. In einzelnen Zimmern sind Interieur und Aufmachung den Zeitebenen entsprechend eingerichtet. Hier kann man sich aussuchen, in welcher Zeit man leben will. Nicht nur die Vergesslichen des Alters finden ihren Raum, zunehmend wollen auch Gesunde gerne einkehren.

Zu den Zeitebenen passt die Erwähnung politischer Personen oder Ereignisse: Musik, Schlager, Rebellion der 68sechziger, Gerüche, Reagan, Kohl und Gorbatschow, Zitate von Thomas Mann bis Einstein und so fort.
Auf die Frage des Erzählers nach den 40ziger Jahren und dem Krieg antwortet Gaustin zum ersten Mal: “ich weiß es wirklich nicht“S.101)

Eingeflochten in die Geschichte findet man wunderbare poetische Beobachtungen von Landschaften, Städten und nicht zuletzt Passagen der Biographie des Erzählers. Sie bieten den Bezug zur Realität.

In einem zweiten Teil des Romans erzählt Gospodinov von einem Referendum, bei dem in den europäischen Ländern über die Möglichkeit eines Lebens in längst vergangenen Jahrzehnten abgestimmt werden soll. Wir sind im Heute angekommen mit allen Möglichkeiten der Technik beim Aushorchen und der Manipulation.
Wozu diese Utopien führen können, zeigt uns prophetisch Moskau mit seinem „Zurück zu den alten Grenzen der Sowjetunion“.

Georgi Gospodinov ist ein begnadeter Erzähler. Ihm purzeln die Ideen nur so aus der Feder.
Sie sind teils witzig, teils skurril und teilweise ernst. Sie reichen von der griechischen Mythologie zu einzelnen Geschichtsereignissen und sehr realen Gedanken über das Heute. Sie wechseln von Einzelschicksalen ins Globale und irrlichtern zwischen den Zeiten hin und her. Gelegentlich sind sie irritierend bis irrwitzig, weil am Ende niemand mehr weiß, ist der Autor real oder ist es eher die von ihm erfundene Figur Gaustin. Auf jeden Fall werden in dem Roman hintergründig philosophisch und reflektierend die vergangenen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts unter die Lupe genommen. Es ist ein überwältigendes Werk in der Übersetzung von Alexander Sitzmann.

Georgi Gospodinov ist in Bulgarien geboren. Er hat für seine Romane zahlreiche Preise gewonnen.

Georgi Gospodinov
Zeitzuflucht
Aufbau, 3. Auflage, März 2022
342 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3351038895
ISBN-13: ‎978-3351038892
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