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Kategorie: Biografie

Andreas Schäfer: Die Schuhe meines Vaters

Andreas Schäfer: Die Schuhe meines Vaters

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In dieser autobiographischen Aufzeichnung nimmt uns Andreas Schäfer mit in die Vergangenheit seines Vaters, der ihm fern und nah zugleich war.

Die Eltern leben seit dreißig Jahren schon getrennt, als beim Vater eine frühere Krebserkrankung in Form eines Hirntumors zurückkehrt. Noch kurz zuvor hat er den Sohn in Berlin bei dessen Familie besucht, wo er seinen besonderen Lebensgewohnheiten nachging: ein Frühstück im Café Einstein und die morgendlichen Laufrunden gehörten dazu. In Erinnerung blieb ihm auch, dass der Vater eine Madeleine mitbrachte. Unvergesslich ist der Begriff der Madeleine mit Prousts Werk „Im Schatten junger Mädchenblüte“ verbunden als Ausdruck stiller Sehnsüchte auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Aber das assoziiert der Sohn, sein Vater hatte das Buch wohl nie gelesen.
Der Autor beschreibt seine Beobachtungen mit liebevollen Worten.

Zurück in Frankfurt/M geht der Vater zu einer Biopsie ins Krankenhaus. Aus der Narkose wacht er nicht mehr auf. Der Sohn wird gebeten, zu kommen und dem Abstellen der Geräte zuzustimmen, da der Vater nach einer Hirnblutung nicht mehr lebensfähig sei.
Die Mutter kommt dazu, und sie sehen sich mit einer schweren Aufgabe konfrontiert.

Im Zusammenhang mit diesen Ereignissen erinnert sich der Sohn an zahlreiche Einzelheiten aus dem Leben seiner Eltern und seines Vaters. In fein gewählten Worten, liebevoll und poetisch, ersteht das Bild einer Familie, die es nicht immer leicht miteinander hatte. Der Vater konnte ungeahnte Wutausbrüche haben, die den Sohn erschütterten und in bleibender Erinnerung blieben.

Die Familie des Vaters, Schäfers Großeltern, waren strenge, pflichtbewusste Menschen, die den Sohn verstießen, als er eine Griechin heiratete. Der Vater schien ein Getriebener, der immer wieder aus häuslichen Zwängen floh. Die Ehe und seine Söhne verließ er auch.
Er hatte den Zweiten Weltkrieg und Nachkriegszeit miterlebt. Da gab es ein Tante Mariechen auf dem Land, wohin der Junge geschickt wurde, um den Kriegswirren im zerbombten Berlin zu entkommen. Zuerst widerwillig zum Ende hin aber sehr gerne war er dort gewesen.

Andras Schäfer lässt auch die Kriegserinnerungen seiner griechischen Mutter nicht unerwähnt.

Für ihn gleichen seine Rückblicke einer eigenen Reise in die Vergangenheit. Seine Worte über den Vater sind voll innerer Wärme und fast Zärtlichkeit, obwohl das Verhältnis zum ihm nicht ungetrübt war.

Wie Andreas Schäfer die Geschichte seiner Eltern und seine eigene wie Mosaiksteinchen zusammenführt, das zeugt von Empathie und genauer Beobachtung seines Umfelds. Der Autor ist von stiller Neugier, die von der bevorstehenden endgültigen Trennung dieses so schwierigen Vaters gespeist wird. Ganz besonders anrührend ist die Szene seiner Todesstunde.

Und findet der Sohn nicht sogar bei sich Eigenschaften, die er unbewusst vom Vater übernommen hat?

Die Mutter lebt wieder in Griechenland, wohin es Andres Schäfer ebenfalls zieht. Hier in der Stille einsamer Wanderungen und Erkundungen der Natur kann er sich ganz seinen Gedanken überlassen.
Nachdenklich, einfühlsam und voller realitätsnaher Bilder sind seine Schilderungen.

Was für eine schöne, poetische und von weisen Erkenntnissen geprägte beglückende Erzählung!
Man kann das Buch uneingeschränkt empfehlen.

Andras Schäfer
Die Schuhe meines Vaters
192 Seiten, gebunden
DuMont Buchverlag, Juli 2022
ISBN-10: 3832181962
ISBN-13: 978-3832181963
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Florian Illies: Liebe in Zeiten des Hasses

Florian Illies: Liebe in Zeiten des Hasses

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Mit schmissigen Sätzen beginnt Florian Illies seine Geschichte über Menschen, die Ende der zwanziger Jahre das Leben in Kunst, Musik, Malerei und Dichtung zum Ausklang der Weimarer Republik prägten.

Wer das Berlin der zwanziger Jahre kennt, der fühlt sich sofort hineingezogen in diese Zeit, in der man fast wie auf dem Vulkan tanzte, feierte und trank. Theater, Musik und Varieté waren Zentren der Begegnung.
Viele Namen tauchen auf, und fast alle werden dem belesenen Publikum bekannt ein.
Walter Benjamin, Brecht, Weil, Werfel, Gropius, Klaus und Erika Mann, Hannah Arendt, Heidegger und Günther Anders, Picasso und Salvatore Dalí. Es sind ihrer so viele, dass man sie hier nicht alle aufzählen kann. Die Kunst von Florian Illies besteht darin, dass er eine kleine Charakteristik an die andere reiht und mit leichter Feder durch die Zeiten und Jahre eilt.

Nie habe ich alle die bekannten Namen der Maler, Dichter, Schauspieler und einschlägigen Künstler auf so engem Raum beieinander gefunden. Neben den Fertigkeiten, die diese Männer und Frauen auszeichneten, spielen natürlich Beziehungen untereinander eine herausragende Rolle.
Man gewinnt schnell den Eindruck, dass hier zwischen den Geschlechtern Sodom und Gomorra herrschte. Unglaublich, mit welcher Kraft und Ausdauer Ehen geschlossen oder geschieden wurden. Als ein Beispiel sei hier die Ehe von Erika Mann und Gründgens genannt.
Homosexuelle und heterosexuelle Beziehungen wechselten schnell die Seiten, zuweilen waren Männer und Frauen beides.

Wie der Autor alle die Einzelheiten dieser Beziehungen zusammentragen konnte, ist ein Rätsel. Wer weiß schon so genau, wer da mit wem in Liebe oder Ehe verbunden war? Es war eine Zeit des Aufbruchs und der weiblichen Emanzipation, die man hier kennenlernen kann.
Die Schilderungen sind vorurteilsfrei und umfassend.

Illies kann mit leichter Feder eine Zeit heraufbeschwören, die uns sehr fern und doch so nah zu sein scheint. Nie hat man wohl auf so engem Raum beschrieben, wie die Jahre zwischen den beiden Weltkriegen die Menschen in einen Rausch von Liebe, Sex und Drogen getrieben hat.

Figuren mit bekannten Namen in der Kunst, Dichtung, im Theater und in der Malerei, nicht zu vergessen im Film, schienen im Drogenrausch ihren Halt zu verlieren. Marlene Dietrich, die Fitzgeralds, Klaus und Erika Mann: sie alle haben im Drogenrausch die Zeit vergessen. Die französische Riviera, Treffpunkt von mehr oder weniger allen, die Rang und Namen in diesen Szenen hatten, bietet mit ihrem „savoir vivre“ den Ort persönlicher Begegnungen, der das ausschweifende Leben ermöglichte. Berlin und Paris gehörten ebenso dazu, denn auch Simone de Beauvoir und Sartre dürfen in diesem Reigen nicht fehlen. Einige gingen schon bald nach Amerika. Die USA boten Zuflucht für jene, die dem Naziregime entkommen wollten. Zahlreiche Juden von Adorno bis Hannah Arendt, dem Verlegerehepaar Wolff oder die (nicht primär jüdische) Familie Mann waren auf der Flucht aus Nazideutschland unterwegs.

Insgesamt kann man sagen: „who is who“ in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts findet man in diesem Buch wieder!
Es war eine künstlerisch reiche Epoche mit morbidem Lebenswandel der Protagonisten.
Wer sich dafür interessiert, findet wirklich alle Berühmtheiten wieder.

Florian Illies weiß wohl zu schreiben!

Florian Illies
Liebe in Zeiten des Hasses
S. FISCHER, 5. Auflage, 27. Oktober 2021
432 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3103970730
ISBN-13: 978-3103970739
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Helen Wolff: Hintergrund für Liebe

Helen Wolff: Hintergrund für Liebe

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Hinter einer autobiographisch gefärbten Liebesgeschichte verbirgt sich Helen Wolff, die legendäre Verlegerin und Frau des ebenso bekannten Verlegers Kurt Wolff.

Im Sommer 1932 fuhr die Protagonistin des Romans mit ihrem Geliebten Kurt an die Cote d’Azur, um dort einen schönen Sommer zu verbringen. Beide arbeiten im Verlagswesen in Berlin.
Er, der zwanzig Jahre Ältere, freute sich darauf, seiner jungen Freundin Helen die herrliche Landschaft der Provence zu erschließen.

Was als wunderbares Liebesabenteuer beginnt, entwickelt sich zu einer überaus zarten, rauen und empathischen Geschichte.
Er, der im Text nur als „Du“ erscheint, ist weltgewandt und dynamisch. Sie hingegen ist eher unscheinbar und unerfahren.

Angekommen in Nizza bezieht er mit Helen ein feines Hotel. Schon bald tauchen nahe und ferne Bekannte von ihm auf, die zu einem ausschweifenden und lauten Partyleben verleiten.
Helen ist entsetzt, fühlt sich kreuzunglücklich und beginnt, sich aus dieser Gesellschaft und von „ihm“ abzunabeln.
Sie verschwindet aus dem Dunstkreis der „Partymenschen“, sucht und findet in Saint- Tropez ein im Schilf verborgenes Häuschen. Es ist spartanisch aber paradiesisch in seiner Abgeschiedenheit.

Nun beginnt eine wirklich hinreißende Geschichte. Atmosphärisch nah und unmittelbar berührend beschreibt Helen den Zauber der Landschaft. Sie malt buchstäblich mit dahin getupften Worten die Farben und Düfte einer Gegend, die wohl jeden dafür empfänglichen Menschen begeistern kann. Das Meer in seiner Unendlichkeit, die Natur rundum, die zarten Farben der Häuser und der Duft nach fruchtbarem Landleben werden in den schönsten Farben gezeichnet. Helen findet Freunde und lernt das Leben zu genießen. Die lustvolle Begeisterung an Sonne, Meer, Essen, Wein und allgemeiner Lebensfreude ergreift Besitz von ihr.

Der Leser:in fiebert mit, wie sich die Liebesgeschichte zwischen ihr und ihrem „Du“ entwickeln mag! Provence ohne Charme und Liebe ist schwer vorstellbar.

Helen Wolffs Großnichte Marion Detjen hat sich in Archive vertieft und konnte dieses Manuskript entdecken.
Sie ist Historikerin und hat in einem zweiten Teil des Buches einen Essay hinzufügt, in dem sie die politischen Hintergründe und gesellschaftlichen Umstände jener dramatischen Jahre beschreibt.

Die einschlägige Künstlerszene traf sich damals an der Côte d’Azur, geriet in den Strudel vor Hitlers Machtergreifung und musste bald schon die Flucht nach Amerika antreten. Viele sehr bekannte Namen werden von ihr genannt, Liebschaften aufgedeckt und Verbindungen zwischen Autoren, Verlegern und Künstlern in einen Zusammenhang gestellt.

Sowohl die poetische Liebesgeschichte des fiktiven Paares, als auch die historischen Betrachtungen sind aufschlussreich und außerordentlich lesenswert.

Helen Wolff
Hintergrund für Liebe
Weidle, März 2020
216 Seiten, broschiert
ISBN-10: 3938803967
ISBN-13: 978-3938803967
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Bettina Flitner: Meine Schwester

Bettina Flitner: Meine Schwester

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Bettina Flitner begibt sich mit diesem Buch auf Spurensuche in die Vergangenheit. Es geht um ihre Familie, ihre Eltern, die Schwester und Großeltern. Ihre Eltern hatten sich in einer Zeit des Aufbruchs aus verkrusteten Strukturen in ein antibürgerliches und sexuell freies Leben begeben.

Anstoß zum Buch war der Suizid ihrer Schwester, die sich wie die Mutter mit 47 Jahren das Leben genommen hat.

In wechselnden Zeitebenen beschreibt Bettina Flitner ihr Kinderleben und ihr Erwachsenendasein. Ihre Schwester, um die es im Wesentlichen in diesen Aufzeichnungen geht, war schon früh ein gestörtes Mädchen mit Hungerattacken und innerer Unausgeglichenheit.

B. Flitner hat eine ungebrochene Gabe, in ihren Erinnerungen die täglichen Gegebenheiten trocken, nüchtern und auch gelegentlich karikierend darzustellen. In ihrer Erzählweise wirkt sie fröhlich, unbeschwert und ohne Ängste. Mit ihrer wenig älteren Schwester hatte sie ein enges Verhältnis. Sie heckten zusammen so manchen Schabernack aus. Auch die Großeltern spielen keine geringe Rolle und werden mit ihren skurrilen Eigenheiten beschrieben.

Sie beschreibt klar und schnörkellos, was sich täglich in ihrem Leben änderte. Viele Umzüge gehörten dazu und wechselnde Partner:innen der Eltern. So lebt eines Tages Frau Tasch mit in der Familie. So wie sie gekommen ist, verschwindet sie auch wieder. Ab und zu flüstern die Kinder „das ist seine Neue“, wenn wieder mal ein fremdes weibliches Wesen am Tisch Platz nimmt.

Etwa um 1970 ging es für eine Weile nach Amerika. Neugierig und munter beschreibt die Autorin ihre Schuleindrücke, die fremde Stadt New York mit ihren Geräuschen und Ausflüge zu einer „Landkommune“ etc. Dort geht es bunt, lustig und sehr freizügig zu.

In der Art wie B. Flitner ihre Kindheit und Jugend schildert, meint man zu spüren, dass sie sich in ihrem Inneren immer ein wenig auf Abstand zur Familie befand. Einzig die Schwester Susanne war lange Zeit ihr Kumpel und bester Freund. Diese fand sich wohl weniger leicht zurecht in dem ungeordneten Familienleben.

Dass die Mutter an Depressionen litt, zeigt die Autorin in wunderbaren Bildern. Es sind die schwarzen Vögel, die einer nach dem anderen kommen, um die zarte und empfindsame Mutter heimzusuchen. Den Vater beschreibt sie treffend mit den Worten“ Ein schwer zu fassendes Irrlicht, das mal hier und mal dort über einen morastigen Grund geistert“. (S.150) Mit diesen Worten wird die innere Distanz deutlich, mit der die Autorin ihre Familienmitglieder zu charakterisieren versucht.

D.h. nicht, dass sie nicht getroffen ist, als die Mutter stirbt.
Man spürt im Gegenteil ihr Mitgefühl mit dieser unglücklichen Frau.
Unmittelbar nachvollziehbar ist der Schock über den Tod der Schwester.

Alles in allem ist die Autobiographie in ihrer protokollarischen Darstellung reich an inneren Bildern, die Einblicke in ein unruhiges und wenig Halt bietendes Elternhaus öffnen.

Bettina Flitner ist Ehefrau von Alice Schwarzer und hat sich als erfolgreiche Fotografin einen Namen gemacht. Sie lebt in Köln.

Bettina Flitner
Meine Schwester
Kiepenheuer&Witsch, Februar 2022
320 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3462002376
ISBN-13: 978-3462002379
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Deborah Levy: Was das Leben kostet

Deborah Levy: Was das Leben kostet

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Deborah Levy ist eine gefeierte Schriftstellerin.
In ihrem schon 2019 erschienenen hier vorliegenden Selbstbild beschreibt sie ihren Neuanfang nach dem Ende ihrer Ehe.
Es ist ein nachdenklich stimmendes kleines Werk.
Sie hat zwei erwachsene Töchter, von denen eine schon studiert.

Der Neuanfang beginnt mit dem Umzug in ein kleines Holzhaus, das eher schon einem Schuppen gleicht.
Hier richtet sie sich spartanisch ein. Das Haus ist alt, Spinnweben überall und die Kälte der veralteten Heizung kriecht in alle Knochen.
Sie nimmt am Schreibtisch Platz. Hier ist sie ganz bei sich. Sie beschreibt das „Schreiben“ als einen mühevollen Prozess, in dem sich Erfahrung mit Fantasie und Wirklichkeiten mischen.
Nach ihrer Auffassung ist der Reiz des Schreibens “die Aufforderung, hinter die augenscheinliche Wirklichkeit aller Wesen und Dinge vorzudringen“. (S49)

Sie mischt in ihrer Erzählung Eindrücke ihres momentanen Lebens mit den äußeren Bedingungen und mit Erinnerungen an die frühe Zeit ihrer Ehe. Zu gleicher Zeit stirbt ihre Mutter, und sie entdeckt erst spät deren Qualitäten als Mensch und Mutter.

Die Erzählung bietet einen Reichtum an Assoziationen, der ihre Freundesbeziehungen, die Wahrnehmung von Stimmungen bezüglich des Klimas und der Natur und des Sterbens ihrer Mutter betrifft. Einen roten Faden gibt es nicht.

Sie zitiert Beauvoir, Baldwin und Duras bei ihren Einfällen zu Emanzipation, Freiheit und Männerherrschaft. Was ist Freiheit? Und wie lebt sie sich nach zwanzig Jahren Ehe?
Eine Antwort gibt es nicht. Vielleicht gelegentliche Melancholie und Bedauern, dass so vieles nicht gelungen ist.
Mit ihrer Freiheit muss sie sich noch einrichten, das schimmert bei allen Reflexionen durch.

Die Stille, die Vögel im Garten und das Alleinsein zu ertragen will eingeübt werden. Das alles fällt ja zusammen mit dem Älterwerden, auch dieses ein Prozess, der innerlich und äußerlich bewältigt werden muss.

Die richtigen Worte zu finden, um einzelne sie bewegende Begegnungen und Zustände zu beschreiben, das ist die Kunst von Deborah Levy. Dafür mag man sie loben.
Insgesamt aber fehlt ein Schwung, der die Gescshichte erst anziehend machen könnte.

Deborah Levy
Was das Leben kostet
HOFFMANN UND CAMPE VERLAG GmbH, Mai 2020
160 Seiten, broschiert
ISBN-10: 3455008925
ISBN-13: 978-3455008920
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Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden

Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden

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In der Autobiographie des bekannten Schauspielers Edgar Selge kann man die schrecklichen Zustände in einer bürgerlichen Nachkriegsfamilie nach dem 2. Weltkrieg kennenlernen. Wir schreiben das Jahr 1960.

Der Icherzähler ist 12 Jahre alt und lebt mit seinen drei Brüdern und den Eltern in einem Haus des Gefängnisdistrikts von Herford. Sein Vater ist dort Gefängnisdirektor.

Die Eltern betreiben Hausmusik in großem Rahmen. Mutter spielt Geige und Vater Klavier. Auch ausgewählte Gefangene dürfen gelegentlich an den in großen Räumen stattfindenden Hauskonzerten teilnehmen.

Maßgeblich im Hause sind die strengen Regeln des Miteinanders. In der Wahrnehmung eines 12Jährigen sind die häuslichen Lebensformen ein Schrecken ohne Ende. Mit ängstlichen Augen beobachtet der Junge, was um ihn her vor sich geht. Er kennt die Regeln, will sich aber nicht einfügen. Er übertritt ganz bewusst immer wieder die väterlichen Gebote, klaut und lügt, was ihm schreckliche körperliche Züchtigungen einträgt. Das Prügeln hat System. Die frömmelige und fast bigotte Atmosphäre trägt erschreckend sadistische Züge.
Man kennt alles das aus der schwarzen Pädagogik des 19. Jahrhunderts.
Die ängstliche Mutter und der alles dominierenden Vater bieten das Bild einer Gemeinschaft, in der der Vater das Sagen hat.

Im Gegensatz zu seinem Schauspielerkollegen Joachim Meyerhoff, dessen Bücher vor Witz und Komik sprühen, wirkt bei Edgar Selge alles strenger, kälter und abschreckend.

Selges Erinnerungen sind ernst, und man fühlt als Leser:in einen Schauer der Einsamkeit. Die älteren Brüder legen sich mit den Eltern an, kritisieren ihre deutschtümelnden Verhaltensweisen und das verklemmte, nationalsozialistische Gedankengut.

Die alles überragende Strenge beim Lernen, Musikspielen und im Umgang mit den Lehrern ist wahrlich bedrückend.

Edgar Selge muss eine schreckliche Jugend gehabt haben. Das sensible und still beobachtende Kind wittert überall die Gefahr der Bestrafung. Vor lauter Angst kann der Junge beim Lernen nicht folgen. Er flüchtet sich in Fantasiespiele, in denen er seinen Frust auslebt.

Beeindruckend ist die nüchterne Darstellung, in der alles so wirkt, als passiere es gerade jetzt.
Insofern ist die Geschichte literarisch gut erzählt.
Das Buch liest sich in weiten Teilen wie die Inkarnation eines deutschnationalen, judenfeindlichen Bürgertums.
Einziger Lichtblick ist die Musik, die breiten Raum einnimmt, und der man sich mit Hingabe widmet.

Edgar Selge
Hast du uns endlich gefunden
Rowohlt Buchverlag, 4. Auflage, Oktober 2021
304 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3498001221
ISBN-13: 978-3498001223
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Annie Ernaux: Das Ereignis

Annie Ernaux: Das Ereignis

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Dramatische Erinnerungen einer klugen und reflektierten Frau.

Unbestechlich und noch nachträglich schwer betroffen beschreibt Annie Ernaux in ihrem neuen Buch ein Erlebnis, das sie als „Das Ereignis“ bezeichnet.

Als junge Studentin wurde sie ungewollt schwanger. Ihr war sogleich klar, dass sie das Kind nicht will. Es passte in keiner Weise in ihre damalige Lebensplanung. Sie möchte ihr Studium zum Abschluss bringen und als Lehrerin tätig werden. Schwer genug war ihr Weg bis hier her. Kamen doch ihre Eltern aus einfachsten Verhältnissen. Sie verließ aufgrund ihrer Begabung gerade dieses Milieu.

Realistisch bis zur Grausamkeit werden die Versuche beschrieben, die zum Gelingen einer Abtreibung führten. Damals hieß das noch so und stand unter Strafe. Heute nennt man es „Abbruch einer Schwangerschaft“, und es steht unter bestimmten Bedingungen, zu lesen im § 218 StGB, auch in zahlreichen anderen europäischen Ländern nicht mehr unter Strafe.

„Das Ereignis“ versetzt Annie Ernaux zurück in eine Zeit, in der noch ganz andere soziale und kulturelle Bedingungen als heute das gesellschaftliche Leben bestimmten. Was damals als unmoralisch und kriminell angesehen wurde, das ist es heute offiziell nicht mehr.

Die Stärke der Autorin liegt in der Genauigkeit, mit der sie sich an ihre damaligen Empfindungen und teilweise als schmachvoll erlebten Behandlungen erinnert. Ob es der erste Arzt ist, den sie aufsucht, ob die sehr schwierige Suche nach einer so genannten „Engelmacherin“, die Kommentare und Reaktionen der wenigen Kommilitonen*innen, denen sie sich anvertraut: sie kann sich in die Zeit und an die damals herrschenden Gesetze für Anstand und Ordnung zurückversetzen und noch einmal bewusstmachen, wie diffamierend und beschämend alle diese Reaktionen für sie waren.

Auffallend war das Verhalten eines Arztes, der sich, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie Studentin ist, für sein grobes Verhalten während einer Operation schämte. Die besonders diskriminierenden Verhaltensweisen gegen Mädchen aus der Arbeiterschicht konnten so noch einmal verdeutlicht werden.

Insofern fällt die Erzählung in die Kategorie „soziologisches Aufklärungsbuch“. Anhand einzelner Stationen in ihrem Lebenslauf hat Annie Ernaux schon über ihre Kindheit, die Pubertät, erste sexuelle Erfahrungen, ihre Mutter und den Vater berichtet.

Die Schriften sind anklagend. Sie halten fest, wie qualvoll die Seele leidet, wenn Restriktionen und aufgesetzte soziale Regeln das Innere eines Menschen beschädigen.

Annie Ernaux selber bezeichnet sich als „Ethnologin ihrer selbst“.

Es ist ihr mit diesem Roman wie in allen anderen Büchern gelungen, gesellschaftliche Missstände und krankmachende Ereignisse als Ursache für die Beeinträchtigung der „Ichwerdung“ auszumachen. Erschüttert und berührt erleben wir, wie Menschen unter den Zwängen einer strengen Erziehung und Umgebung während der Entwicklungsjahre zu leiden haben. Sie hat die bedrückenden Erfahrungen bewältigt, wenn ihr auch die fast protokollarischen Erinnerungen bleiben!

Inzwischen ist Annie Ernaux eine gefeierte und mit Preisen versehene Schriftstellerin in Frankreich.

Die Übersetzung von Sonja Finck wird ihrem Werk absolut gerecht.

Annie Ernaux
Das Ereignis
Suhrkamp Verlag, 12. September 2021
104 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3518225251
ISBN-13: 978-3518225257
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Hisham Matar: Ein Monat in Siena

Hisham Matar: Ein Monat in Siena

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Dieses Buch führt uns zurück ins 13.- 15. Jahrhundert in Italien, als dort eine Zeit der Hochblüte wunderbarer Malerei der Renaissance ihren Ausdruck fand.

Hisham Matar war 1989 im Alter von 19 Jahren in Siena gewesen, hatte kurz darauf seinen Vater verloren und besucht nun nach 25 Jahren erneut die Stadt, die ihn s. Zt. so sehr angerührt hat. Er will sich erneut mit der Schule der sienesischen Malerei befassen.
Einen Monat will er sich dort aufhalten.
Im Gegensatz zu den anderen großen Städten Italiens, die vom Adel oder dem Klerus regiert wurden, war Siena eine Republik mit einer Regierung aus Mitgliedern der Bürgerschaft.

Wie Hisham Matar die Stadt beschreibt, wie sie aus vielen Gassen zu ihrem großen runden Platz, dem Piazza il Campo, führt, zeigt einen sensiblen Beobachter, der seine Eindrücke und Reflexionen in Bezug zu seinem eigenen Leben setzt.
Man findet Duccio, die Lorenzettibrüder, Simone Martini u.a. in seinen Schilderungen wieder.

Bekannt und berühmt sind die Fresken im Palazzo Publico von Ambrogio Lorenzetti, in denen er der guten und der schlechten Regierung in seinen Fresken Ausdruck verleiht. Der Autor übersetzt einzelne Szenen und Darstellungen in wortreiche Sprache mit ihrer Bedeutung für den Betrachter. Eigene Überlegungen und philosophische Gedanken ergänzen den Text, der dem Leser die Augen öffnet für die Bedeutung dieser großartigen Malerei.
Einzelne Kapitel öffnen das Herz den vielfältigen Eindrücken, mit denen Hisham Matar seinen Empfindungen von Freude, Trauer, Verlust, Liebe, Einsamkeit und Glück nachhängt.

In gewisser Weise ist es eine sinnliche Geschichte. Sinnlich in dem Sinne, dass der Stadtwanderer physisch jede Gasse, jede Bank oder jeden Ausblick und selbst das Pflaster des Piazza del Campo auf sich wirken lässt. Man spürt eine immer wieder auftretende Ergriffenheit angesichts der Schönheit der Stadt und der sie umgebenden Landschaft.

Selten begegnet er in diesem Monat Menschen. Er will alleine sein und seinen Impressionen nachhängen. Seine höfliche und freundliche Art nötigt ihn gelegentlich zu näheren Kontakten. Dem Reiz von Fremden und deren Schicksalen gegenüber ist er aufgeschlossen. Seine Augen und Sinne scheinen immer wieder hinter Fassaden im wahrsten Sinne des Wortes zu blicken. Er ist hoch reflektiert in der Darstellung seiner Eindrücke.

Es gibt jedoch auch kurze Geschichtshinweise, die einem die Lebensweise der Menschen im Mittelalter nahebringen.
Man möchte jedes Wort der kultivierten Sprache, des feinen Ausdrucks und seiner Bildinterpretationen in sich aufnehmen, behalten und verinnerlichen.
Zuweilen haben mich seine Wahrnehmung der Bildkomposition mit ihrer Aussagekraft regelrecht ergriffen.

Zahlreiche Bildtafeln ergänzen den Text.

Ursprünglich stammt Hisham Matar aus Libyen. Heute lebt er in London. Er wurde mit zahlreichen Auszeichnungen für seine Bücher geehrt.

Hisham Matar
Ein Monat in Siena
Luchterhand Literaturverlag, Mai 2021
160 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3630876188
ISBN-13: 978-3630876184
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Martine Bijl: Königin außer Dienst

Martine Bijl: Königin außer Dienst

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Martine Bijl war in den Niederlanden Schauspielerin am Theater, bis sie einen Schlaganfall erlitt. Plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Es reißt sie aus dem gewohnten Leben. Sie lernt mit der Zeit, sich wieder zu orientieren und ihren Körper halbwegs zu kontrollieren. Gerne möchte sie sich in der Rehabilitationsklinik erholen und zu ihrer alten Stärke zurückfinden. Doch es tun sich recht schnell Grenzen auf.

Ein Schlaganfall ist eine sehr ernste Erkrankung. Jeder hat schon davon gehört. Wie ein Erkrankter sich fühlt und was in seinen Gedanken vorgeht, weiß man jedoch nicht. Martine Bijl hat aus ihrer Krankheit heraus dieses Buch geschrieben. Sie schildert ihren Krankheitsverlauf, ihre Erfahrungen und gibt hier sehr Persönliches preis. Sie beschreibt, was sie verloren hat, was sie zurückgewinnen konnte und was sie noch zu erreichen hofft. Sie schreibt aber auch ehrlich von den Ängsten, Albträumen und Depressionen, gegen die sie zu kämpfen hat. Sie versteht selbst kaum, was in ihrem Kopf vorgeht, woher die Wahnvorstellungen kommen und warum ihr Körper ihr manchmal nicht mehr gehorcht. Und doch schafft sie es, das auf bildhafte Weise nachvollziehbar zu veranschaulichen.

Der Schlaganfall bringt eine Veränderung ihrer Persönlichkeit mit sich. Das spürt sie. Martine Bijl ist in Seenot geraten und der Sturm will kein Ende nehmen. Aber ihr Mann Berend fungiert als Anker, wie hoch die Wellen auch schlagen. Sie weiß, dass sie es ihm nicht einfach macht und kann doch nicht anders.

Das Buch ist sehr berührend. Es ist traurig und dennoch lebensbejahend. Nicht selten blitzt eine gewisse Selbstironie auf. Es ergeben sich immer wieder Szenen, die ihr Hoffnung machen, dass es vielleicht doch ein Stück weit in die richtige Richtung geht.

Auf andere Patienten fällt ihr Blick ebenfalls, auch wenn es kaum möglich ist, so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl aufkommen zu lassen. Man hat zu viel mit sich selbst zu kämpfen.

Das Buch endet plötzlich. Martine Bjil starb 2019 an den Folgen des Schlaganfalls.

Rezension von Heike Rau

Martine Bijl
Königin außer Dienst
Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing
144 Seiten, gebunden
Paul Zsolnay Verlag, Janur 2021
ISBN-10: 3552072306
ISBN-13: 978-3552072305
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Gabriele von Arnim: Das Leben ist ein vorübergehender Zustand

Gabriele von Arnim: Das Leben ist ein vorübergehender Zustand

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Es gibt Bücher, die lösen Glücksgefühle beim Leser aus.

Gabriele von Arnims vorliegendes Buch ist so eines.
Nicht, weil es eine schöne, leichte Geschichte ist, sondern im Gegenteil: weil man ein Schicksal von ungeheurer Tragweite in einer Sprache und reflektierten Wiedergabe erzählt bekommt, wie sie vergleichbar kaum vorkommt. Am ehesten ist die Amerikanerin Joan Didion noch mit diesem Stil gleichzusetzen.

Aber beginnen wir von vorn.
Gabriele hat ihrem Mann gesagt, dass sie nicht länger mit ihm leben kann.
Spät abends erfährt sie, dass ihr Mann im Krankenhaus liegt.
Er hatte einen Schlaganfall.

Es beginnt eine Zeit, die sich keiner vorstellen mag. Noch zahlreiche weitere gesundheitliche Einbrüche folgen dem ersten. Er bleibt viele Wochen im Krankenhaus. Erst nach und nach wird erkennbar, wie geschädigt sein Gehirn ist.

Mit eindringlichem Ton und in abwägenden Worten erzählt Gabriele von Arnim über ihren Mann, wie er war, was sie vermissen wird, wie ihm die „Gefangenschaft“ im eigenen Körper zur Qual wird. Er, ein freiheitsliebender Mensch, ein Redner und Diskutant par excellence, wird nie wieder richtig artikulieren können; er wird nicht lesen und nicht schreiben können, keinen Sport mehr treiben können und lebenslänglich auf körperliche Hilfe angewiesen sein. Dazu bleibt er im Geist und Verstand wach und präsent.

Wie von Arnim sich der Tragödie nähert; wie sie ernst und aufrichtig, gescheit und ehrlich die verschiedenen Phasen dieser Jahre andauernden Leidenszeit schildert: das zeigt uns eine Frau von außerordentlicher Bildung und großer Charakterstärke, die Zitate vieler Autoren parat hat, mit denen sie ihre eigenen Gefühle jeweils noch untermauern kann.

Es ist überwältigend, wie sie auch intimste Gedanken preisgibt, von Stimmungsschwankungen berichtet und über die wechselnden Phasen sich selber fast vergessen hat. Es ist aber auch das Bekenntnis zu einer innigen Liebe, die im Angesicht dessen, was sie zusammen durchmachen, noch an Intensität gewinnt.

Die Erzählung geht ans Herz und öffnet dem Leser, der vielleicht vergleichbare Erfahrungen hatte, die Möglichkeit, in Gedanken just die gleiche Leidenszeit in passende Worte gefasst zu finden.

Viel mehr mag man nicht sagen, weil im Angesicht der Schwere dieses Schicksals jedes Wort aus fremden Mund zu viel sein könnte!

Gabriele von Arnim
Das Leben ist ein vorübergehender Zustand
Rowohlt Buchverlag, März 2021
240 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3498002457
ISBN-13: 978-3498002459
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