Navid Kermani : Wer ist wir? – Deutschland und seine Muslime

Navid Kermani : Wer ist wir? – Deutschland und seine Muslime

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Navid Kermani versucht in seiner Studie über das „Wir- Gefühl“ und die Identitätssuche bei interkulturell aufwachsenden Bürgern zu recherchieren, wie weit doktrinäre Religionsauffassungen und Vorschriften von Religionsführern als Grund für kulturelle Missklänge und Gegensätze interpretiert werden.

In seiner makellosen, gepflegten Sprache erzählt Kermani aus seiner eigenen Kindheit, die er im Raum Siegen in Westfalen wohl behütet im Kreise seiner iranischen Familie verbracht hat. Überzeugend und glaubwürdig hat er gespürt, dass soziale und ökonomische Einflüsse für die Zugehörigkeit zu einer Kultur viel bedeutsamer sind, als die Religionszugehörigkeit und die fremdartigen Lebensgewohnheiten unterschiedlicher Völkergemeinschaften. Er, dessen islamische Familie zur oberen Mittelschicht gehört, fühlte sich keineswegs als Außenseiter. Eher waren die Unordnung und eine sorglose Freiheit im Elternhaus bestimmend für seine Kindheit, so dass seine Freunde liebend gerne zu ihm zum Spielen kamen. Erst als er, der begeisterte Fußballspieler, in einem Verein spielte, zu dem vorwiegend Kinder aus minderbemittelten Familien gehörten, wurde ihm bewusst, dass er aus einer anderen Schicht stammte und eigentlich nicht dazu gehörte. An vielen kleinen Beispielen wie z.B. dem Umgang mit den Eltern, dem gegenüber den deutschen Mitschülern nachlässig verpackten Schulbrot und sprachlichen Differenzierungen macht Navid Kermani sein Aufwachsen in zwei verschiedenen Kulturen fest. Seine persönliche Entwicklung entschied er als eine zwischen dem Innen und dem Außen. Der Wechsel war verinnerlicht und gelang ihm mühelos.

Nach Kermani ist eine allgemeine Identitätssuche in allen Religionen zu beobachten, ob im Hinduismus, im Islam oder bei den Evangelikalen in Amerika und bei christlich fundmentalistischen Gruppierungen überall in der Welt. Die Ausgrenzung Andersgläubiger und der Zusammenschluss innerhalb einzelner Religionsgruppen mit festen Ritualen sind Merkmale einer Suche nach Halt und Zugehörigkeit. Die Angst vor dem Identitätsverlust ist in ungebildeten und einfachen strukturierten Bevölkerungsschichten ungleich tiefer verankert als in denen, die in besser gesicherten ökonomischen und bildungsorientierten Sphären leben. Dennoch kommen Fundamentalisten und Terroristen mehrheitlich aus besser situierten Familien. Hier kommen Ideologien und Fanatismus mit ins Spiel, die als Grundlagen für die Übernahme von Macht und Herrschaft dienen.

Nach und nach entfaltet Kermani eine breite Palette sozialer Verhaltensweisen und ideologischer Aussagen bei Vertretern der verschiedenen Religionen. Indem das eigene Verhalten und die eigenen Glaubensgrundsätze für allein gültig erklärt werden, grenzt man Minderheiten als Gefährdung für die eigene Identität aus. Das klingt so simpel und wird doch erst durch Beispiele aus Indien, Indonesien und Iran fassbar veranschaulicht.

Kermani befasst sich in weiteren Kapiteln mit Einzelaspekten kultureller Konflikte und nicht zu übersehenden Gemeinsamkeiten. Insofern bieten seine Ausführungen im Wechsel zwischen Theorie und Praxis differenzierte Einblicke in den multikulturellen Alltag unseres Lebens. Er analysiert aber wertet nicht, wenn ihm auch gelegentlich polemische Bemerkungen unterlaufen. Mit klarem Verstand zeigt er die Ambivalenzen und Konflikte, die aus unterschiedlichen Anschauungen und Lebensgewohnheiten entstehen. Diese werden zwar über Religion und Volkszugehörigkeit erklärt, sind aber nicht zuletzt ein allgemein zwischenmenschliches Phänomen. Der Autor weitet den Blick vom kleinen in eine unfassende Ansicht auf kulturelle Gegensätze und die dadurch bedingten internationalen Streitigkeiten und beschränkt sich nicht nur auf den deutschen Alltag.

Man kann den Autor nach seinen Ausführungen fast als überkonfessionell bezeichnen, so klar und durchsichtig geht er die Probleme an. Dass der Orientalist und Schriftsteller Mitglied der deutschen Islamkonferenz ist, kann der Arbeit im Hinblick auf Verständigung, Toleranz und Offenheit für alle Themen von interkultureller Relevanz nur dienlich sein. Sein verständlich geschriebenes Buch ist ein beachtenswerter Beitrag zur gegenseitigen Völkerverständigung.

Navid Kermani
Wer ist wir? – Deutschland und seine Muslime
189 Seiten, broschiert
C.H.Beck, 4. Auflage, November 2015
ISBN-10: 3406685862
ISBN-13: 978-3406685866
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