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Diane Meur: Die Lebenden und die Geister

Diane Meur: Die Lebenden und die Geister

Das Herrenhaus auf einem Gut in Galizien, dem kleinen Marktflecken Grynow, ist etwas ganz Besonderes. Es hat Augen und Ohren und kann erzählen, was in seinem Inneren vor sich geht. Zwar hat es ein Herz aus Stein, doch es lebt für seine Bewohner und ist gleichermaßen von ihnen abhängig.

Erzählt wird die Geschichte der Familie Zemka. Josef Zemka ist der Gutsverwalter des Barons von Kotz. Sein gesellschaftlicher Aufstieg nimmt seinen Anfang, als die Tochter des Barons schwanger von ihm wird. Im Sommer 1821 findet die Hochzeit statt, auch wenn die Ungleichheit des Brautpaares als anstößig empfunden wird. Die erste Tochter kommt als angebliche Frühgeburt zur Welt. Dennoch triumphiert Jozef. Zumal Baron und Baronin sich weitere Schmach ersparen und nach Wien zurückkehren.
Jozef arbeitet hart, hält das Gut am Laufen und vergrößert die Zuckerfabrik seines Vaters. 1829, nach dem Tod der Baronin und des Barons, erbt Jozef das Gut. Er steigt vom Verwalter zum Gutsbesitzer auf. Die Ponarskis, Jozef ist ein Nachkomme des Grafen Ponarski, sind zurück.
Doch Hindernisse stellen sich Jozef in den Weg. Seine Frau bekommt nur Töchter. Es ist kein Erbe für sein Lebenswerkes in Sicht. Es bleibt Jozef nur eins. Er muss seine älteste Tochter Maria mit dem Sohn seines Bruders verheiraten. Doch Jeans politisches Engagement läuft ihm zuwider. Gesellschaftliche und politische Umbrüche bestimmen dennoch bald auch das Leben auf dem Gut.

Die Familiensaga umreißt das Schicksal der Familie Jozef Zemkas über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren. Erzählt wird diese Geschichte aus der Sicht des Gutshauses, das die Zeiten überdauert. Das ist natürlich eine erstaunliche Perspektive, zumal das Hause sehr menschliche Züge zeigt und mit seinen Bewohnern mitfühlt. Dennoch ist sein Blick eingeschränkt. Weder hat es seine Augen und Ohren überall, noch kann es seine durch den Standort bestimmten Grenzen überwinden. Genau wie seine Bewohner altert das Haus. Die vielen Jahrzehnte setzen ihm zu.
Die Familiengeschichte ist beeindruckend. Aufstieg und Fall der Familie Zemka werden auf sehr persönliche Art und Weise beschrieben. Die Zeiten wandeln sich. Das erlebt man als Leser hautnah mit. Man ist beeindruckt von den Einblicken, die man erhält. Jozef hat seinen Aufstieg genau geplant. So ganz durchsetzen, kann er seine Vorstellungen jedoch nicht. Die Mitglieder seiner Familie lassen sich nur eingeschränkt manipulieren. Der Leser wird hineingezogen in eine familiäres Drama, das schließlich zum Fall der Familie führt. Die guten Zeiten auf dem Gut gehen zu Ende. Manch einer gibt sich geschlagen, andere geben ihre Hoffnung nicht auf. Große Gefühle kommen zum Tragen. Und auch, wenn das Gutshaus zwischendurch einmal die Augen schließt, da das Alter ihm zu schaffen macht oder die Geister, man wird von den Geschehnissen in den Bann gezogen.

Rezension von Heike Rau

Diane Meur
Die Lebenden und die Geister
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
524 Seiten, gebunden
Nagel & Kimche
ISBN: 978-3312004485

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