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Schlagwort: Flucht

Ivar Leon Menger: Als das Böse kam

Ivar Leon Menger: Als das Böse kam

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Die 16-jährige Juno lebt mit ihrem Bruder Boy und den Eltern seit 12 Jahren isoliert auf einer Insel und findet das normal. Außer dem Postboten, der mit einem kleinen Boot kommt, lässt sich hier niemand blicken. Vor ihm müssen sich die Kinder jedoch verstecken. Wenn der Alarm losgeht, sind Fremde in der Nähe. Böse Menschen, die auf Rache aus sind und die Familie umbringen wollen. Die Kinder leben in ständiger Angst davor und sind froh, dass es den Schutzraum gibt. Hier lagern Vorräte, sodass sie es notfalls für mindestens zwei Wochen hier aushalten könnten. Genug Zeit für die Wächter, ihnen zu Hilfe zu eilen.

Doch Juno wird durch ein Ereignis misstrauisch. Sie fragt sich, was auf der andern Seite des Meeres ist. Wer die Fremdlinge sind, die ihnen Böses wollen? Doch verlassen darf sie die Insel nicht. Das ist eines der Gebote, an das sie sich zu halten hat. Vielleicht findet sich etwas Interessantes in Vaters Bibliothek. Doch die Kinder dürfen sie nicht betreten. Harte Strafen drohen.

Angangs scheint es, als würde das Buch in einer anderen Zeit spielen oder in einer anderen Welt. Das ist verwirrend. Doch schnell wird klar, dass sich alles in der Gegenwart zuträgt, auch wenn die Familie in sehr einfachen Verhältnissen lebt. Es gibt nur einen offensichtlichen Kontakt zur Außenwelt. Es herrscht eine beklemmende Stimmung, aber man hat sich offenbar arrangiert. Hat Rituale entwickelt, die dem Leben auf der Insel eine Struktur geben. Doch warum?

Kinder halten sich selten an Regeln, schon gar nicht, wenn sie älter werden und diese Regeln fragwürdig sind. Auch Juno entwickelt ein Misstrauen. Die Geschichte ist aus ihrer Sicht geschrieben, sodass der Leser direkt von ihren Beobachtungen und Gedanken erfährt. Strickt sie sich da etwas zurecht? Die Stimmung kippt immer mehr. Ganz langsam und in feinen Nuancen bis immer deutlicher wird, was hier gespielt wird. Die Gefahr steigt und damit die Spannung. Der Spannungsbogen ist in diesem Buch wirklich perfekt ausgearbeitet.

Dem Autor ist es gelungen, mich zu fesseln. Von Anfang an ist zu ahnen, dass hier etwas vertuscht wird und die Kinder aus einem bestimmten Grund isoliert werden. Der Kontrollverlust der Eltern ist es schließlich, der der Handlung eine Wendung gibt, die mich überrascht hat. Da die Handlung auf einer Insel spielt, erhöht die Spannung natürlich noch zusätzlich. Bleibt noch zu sagen, dass der Autor einen sehr angenehm zu lesenden Schreibstil hat.

Rezension von Heike Rau

Ivar Leon Menger
Als das Böse kam
320 Seiten, broschiert
dtv Verlagsgesellschaft, Juli 2022
ISBN-10:‎ 3423263393
ISBN-13: 978-3423263399
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Sasa Stanisic: Herkunft

Sasa Stanisic: Herkunft

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Wie erinnert man sich seiner Herkunft?

Herkunft ist ein Hörbuch von höchst bemerkenswerter Eigendynamik.
Der Autor Sasa Stanisic stammt aus einem Land, das einmal ein Land, dann zwei dann viele waren. Ursprünglich hieß es Jugoslawien, das dann in so viele verschiedene Länder zerfiel.
In den Erinnerungen von Sasa Stasinic verwischen sich allerdings seine Herkunftsorte zu Serbien, Bosnien oder zuvor eben unter Tito Jugoslawien. Religionen sind ihm ganz fremd, und naiv macht er die muslimische Mutter daran fest, dass sie kein Schweinefleisch isst, quasi als eine Form der Diät.
Stanisic’s Großmutter kommt zunächst häufig zu Wort; doch alle Erinnerungen sind assoziativ, kreisen um Sommer, Winter, Vögel, Schlangen und das Gefühl von Heimat.
Auf die Frage „wo komme ich her“ gibt es nur die Antwort “von hier, du kommst von hier.“
Auch Gebäude geben die Herkunft an.Hier es gibt die Bessergestellten und dort die Ärmeren.

Stanisic liest seine Geschichten selber mit einem angenehmen, etwas rauchig oder beinahe heiser klingenden Tonfall. Fast hat man den Eindruck, seine Gedanken entstehen im Moment des Sprechens. Akzente entstehen in kurzen Sätzen, wechseln Zeit und Ort, einmal 1992, das Fluchtdatum, dann wieder 2018 in der Gegenwart.

Sasa Stanisic ist ein Wortakrobat und ein Trapezkünstler der Sprache. Voller Lebensfreude, z.T. auch melancholisch, dann wieder amüsiert und hingerissen klingen seine Worte und er landet bei Eichendorf, dem wehmütig- sehnsüchtigen Lyriker. Stasinic zuzuhören erzeugt Glücksgefühle, denn es gibt keine fortlaufende Handlung. Man lässt sich auf den Klang seiner Aussprache und seines Singsangs mit seinen momentanen Eingaben ein; er scheut sich nicht in Ansätzen Lieder zu singen.

Heidelberg ist die Station seiner Bildung und Ausbildung. Wie er diese Stadt beschreibt kommt einem vertonten Gemälde gleich.
Die Herkunft ist das Leitmotiv und sicher sind seine Erinnerungen tiefenscharf. Doch geht es auch um das Fremdsein, eine Identität des Wanderers zwischen dem Herkunftsland und dem jetzigen Wohnort Deutschland. Und Herkunft findet immer wieder auch seinen Platz bei der Großmutter. Er beschreibt sie als festen Hort in seiner Erinnerung bis hin zu Gegenwart: sie wird liebevoll und skurril skizziert, und man spürt eine stille Zärtlichkeit.

Nachdem ich zunächst ein wenig skeptisch war, mich auf die assoziative Melodie des Hörens einzulassen, geriet ich mehr und mehr in den Sog dieses lebendig pulsierenden Sprachgesangs. Zuletzt hat es mich vollkommen mitgerissen!

Man sollte das Buch in seiner wunderschönen Prosa lesen oder besser noch hören!

Sasa Stanisic
Herkunft
368 Seiten, gebunden
Audible Hörbuch
Der Hörverlag
ISBN-10: 3630874738
ISBN-13: 978-3630874739
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Jürgen Seidel: Die Rettung einer ganzen Welt

Jürgen Seidel: Die Rettung einer ganzen Welt

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Mit diesem Roman eröffnet sich nochmal das Panorama zur zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Angefangen bei Hitlerdeutschland mit der Verschärfung der Judenverfolgung 1939 geht es über Berlin mit Bella, der Hauptprotagonistin, zum Ende hin nach Amerika.

Das Versteck für die jüdische Familie in Berlin bietet ein Ägyptischer Arzt, der auch eine arrangierte Hochzeit für Bella organisiert, womit sie nicht mehr Jüdin ist sondern zur Muslima wird.

Abenteuerreich und fantasievoll geht es durch das ganze Buch. Bella wird Ärztin, heiratet in Amerika einen lieben Mann, der früh stirbt. Mit 43 Jahren ist sie Witwe mit zwei kleinen Töchtern.

Ein Familientreffen alle paar Jahre führt die Familie immer einmal wieder zusammen. Bei dieser Gelegenheit erfährt man die Schicksale und Lebenswege der verschiedenen Familienzweige und ihrer Sprösslinge, die auch in Irland Wurzeln hat.

Die Vielfalt der Charaktere und das Auf und Ab der Lebenswege ist von spannender Detailgenauigkeit. Zeitsprünge machen den Zusammenhang zuweilen etwas unübersichtlich, so dass man Mühe hat, immer richtig Schritt zu halten. Dass Bella ihre große Liebe in Berlin zurücklassen musste und ihn später unter anderem Namen in Amerika wiederentdeckt, gibt der Geschichte den besonderen Kick.

Alles in allem ist das Buch ein lesenswerter Schmöker mit zahlreichen Verwicklungen, die sowohl jüdisches als auch muslimisches Leben widerspiegeln. Amerika mit seinem Gesellschaftsbild spielt eine eher nachrangige Rolle. Allerdings ist New York ein Schmelztiegel der Nationen, was durchaus eine Rolle bei der ganzen Geschichte spielt.

Jürgen Seidel
Die Rettung einer ganzen Welt
480 Seiten, broschiert
dtv Verlagsgesellschaft, Februar 2018
ISBN-10: 3423261668
ISBN-13: 978-3423261661
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Iain Levison: Gedankenjäger

Iain Levison: Gedankenjäger

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Brooks Denny ist zum Tode verurteilt. Er verfügt allerdings über eine Fähigkeit, die höchst interessant ist. Er kann Gedanken lesen. So wird er kurz vor seiner Hinrichtung von Terry Dyer eingesetzt, um die Gedanken eines Geschäftsmannes zu lesen. Die Aktion ist ein voller Erfolg. Jedoch hat Brooks Denny nichts zu verlieren. Er wagt einen Fluchtversuch, der ihm zu seiner Überraschung gelingt.

Polizist Jared Snowe stellt bei einem Einsatz fest, dass er die Gedanken anderer erfassen kann. Zunächst gefällt ihm diese Fähigkeit. Es hilft beim Lösen der Fälle, die er zu bearbeiten kann. Wie es aussieht, wissen andere, was er kann. Terry Dyer, die selbst nicht lesbar ist, kommt auf ihn zu. Er soll ihr helfen, Brooks Denny aufzuspüren. Sie glaubt, dass er das mit seiner Fähigkeit leicht schaffen kann. Tatsächlich findet er den Gesuchten. Doch er setzt ihn nicht sofort außer Gefecht, denn der nicht zu verhindernde Gedankenaustausch offenbart Überraschendes.

Der Thriller ist spannend gemacht. Vor allem die Protagonisten Brooks Denny und Jared Snowe, die nicht einzuschätzen sind und die durch das Gedankenlesen viel mehr erfahren, als sonst möglich ist, sind interessant. Lügen werden sofort von ihnen aufgedeckt und Informationen gnadenlos ausgenutzt. So beginnt ein aufregendes Hin und Her. Als Gegenspieler fungiert Terry Dyer, deren Gedanken nicht lesbar sind. Sie ist eine geheimnisvolle Frau mit scheinbar unbegrenzter Macht.

Dass sehr viel mehr hinter dieser Geschichte steckt, als anfangs offenbart wird, ist sofort klar. Allerdings verläuft alles etwas holprig, wirkt konstruiert und ist teilweise doch recht unglaubwürdig. Ich habe mich dennoch darauf eingelassen und das hat sich gelohnt. Das Buch liest sich leicht und unterhält gut. Das Ende ist in Ordnung, auch wenn einiges offen bleibt und nicht alle Fragen geklärt werden.

Rezension von Heike Rau

Iain Levison
Gedankenjäger
Aus dem Englischen von Walter Goidinger
304 Seiten, gebunden
Deuticke Verlag
ISBN-10: 3552063285
ISBN-13: 978-3552063280
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Birgit Vanderbeke: Ich freue mich, dass ich geboren bin

Birgit Vanderbeke: Ich freue mich, dass ich geboren bin

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Sie hat heute ihren siebten Geburtstag und freut sich auf die Geschenke. Doch es gehen ihr an diesem Tag so viele Gedanken durch den Kopf. Deshalb erzählt sie uns davon. Sie erzählt von ihren Großeltern, von Mutter und Vater, vom Abhauen aus dem Osten in den Westen, von Tante Eka im Flüchtlingslager mit ihren zwei Männern Onkel Grewatsch und Onkel Winkelmann mit seinen vielen Büchern und Geschichten. „Das war das Schöne im Flüchtlingslager gewesen. Weil Onkel Winkelmann mir das alles erzählte und aus seinen Büchern vorlas, konnte ich mich an all die fremden Gewürze in der Gemeinschaftsküche sofort erinnern, obwohl ich sie gar nicht kannte und niemals gerochen hatte, aber Onkel Winkelmann und die aufgefädelten Buchstabengeschichten in seinen Büchern erzählten sie so genau, dass ich sie in der Nase hatte und jedes Mal Lust bekam, einen Löffel davon zu probieren.“ Sie erzählt vom Leben im Flüchtlingslager und von der Arbeitersiedlung, die danach folgte.

Ihr siebter Geburtstag ist irgendwann in den 1960er Jahren. Einen Namen hat sie in dieser Geschichte nicht. Denn schließlich sagt Mutter immer. Kind, was soll ich mit dir bloß machen? Oder: Kind, was soll aus dir bloß werden?
Birgit Vanderbeke hat als Erzählstil den eines siebenjährigen Mädchens, bzw. das, was sich ein Erwachsener darunter vorstellt, gewählt. Das ist im ersten Moment ungewohnt. Doch nach wenigen Seiten gibt sich das. Der Stil wird einem vertraut, man lässt sich darauf ein, dass ein Kind erzählt. Er wirkt sehr authentisch, und der Leser kann feine Ironie und leichten Sarkasmus spüren. Humor wäre jetzt zu weit hergeholt, denn das, was sie in ihrer kurzen Kindheit alles schon erlebt hat, ist alles andere als lustig. In ganz wenigen Momenten erzählt sie alles andere als von einer heilen Welt in den sechziger Jahren. Doch das Mädchen sucht sich ihre Fluchtpunkte. Ob es „solch eine Person wie“ Tante Eka mit ihren zwei Männern, ihre Freundin Gisela, oder ihr italienischer Freund Tassilo sind. Und irgendwann findet sie für sich einen Weg in die ganz große Freiheit. Sie lernt, ihrer Familie zu entfliehen.

Vanderbeke gibt eine genaue Milieustudie der 1960er Jahre wider. Mit der kindlichen Sprache wird die verlogene und bigotte Welt der westlichen Kleinbürger besonders gut akzentuiert. Das Thema Flucht aus dem Osten in den Westen schlägt genauso einen Bogen in die heutige Zeit wie die Flüchtlingszüge am Ende des Zweiten Weltkriegs in die westlichen Gebiete Deutschlands. Auch wenn sich die Erzählung auf die damalige Zeit bezieht, spiegeln sich im Verhalten der Figuren die aktuellen gesellschaftlichen Probleme wider und es zeigt sich, dass kaum etwas von damals getilgt worden ist.

Der Umstand, dass es über den gesamten Roman hinweg kein klar definiertes Ziel in der Geschichte gibt, macht den Roman nicht weniger lesenswert. Denn er fesselt zweifelsohne aufgrund der spielerischen Erzählweise. Interessierte Leser werden an den Figuren und dem Umfeld kleben bleiben.

Vanderbeke, Birgit
Ich freue mich, dass ich geboren bin
Piper Verlag, München
ISBN 9783492057547

© Detlef Knut, Düsseldorf 2016
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Benjamin Cors: Küstenstrich

Benjamin Cors: Küstenstrich

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Nicolas Guerlain kehrt, nachdem er lange Zeit in psychologischer Behandlung war, langsam in seinen Job als Personenschützer zurück. So ganz traut man ihm noch nicht über den Weg. Er kommt ja selbst nicht wirklich klar. Aber er findet sich auf dem großzügigen Landgut in der Normandie ein und beginnt mit der Arbeit.

Der Graf von Tancarville erhält präzise Morddrohungen. Dass man das ernst nehmen muss, ist spätestens dann klar, als eine Leiche gefunden wird. Der Mann, der auf brutale Weise ermordet wurde, war auf der Suche nach zwei jungen Mädchen, Flüchtlinge, die mutmaßlich von einem Kinderhändler entführt worden sind. Seine Erkenntnisse gehören nun der Polizei.

Die Handlung wird von allen Seiten aufgerollt, Zeitsprünge inbegriffen. Zusammenhänge sind unklar, auch wenn es diese natürlich geben muss. Der Krimi ist sehr komplex im Aufbau. Das macht einen großen Teil der Spannung aus. Die Geschichte dahinter wird vertuscht, wo es nur geht. Der Täter ist raffiniert und dabei skrupellos. Und der unnahbare Nicolas Guerlain ist derjenige, der diesen Hintergründen auf die Spur kommen muss, wenn er Leben retten will. Er beobachtet, versucht nachzuspüren und sich einzufühlen. Dabei muss er seine privaten Probleme zurückdrängen, was ihm aber nie wirklich gelingt. Immer wieder muss er an Julie denken, die einfach aus seinem Leben verschwunden ist.

Ich bin beeindruckt von diesem Krimi. Die Spannung ist mörderisch. Man wird als Leser in die Irre geleitet, auf Abwege gebracht und nicht selten geschockt. Nicolas Guerlains Arbeit ist verbunden mit anderen brisanten Fällen, denen die Polizei nachgeht und die in Zusammenhang stehen könnten. Bis zum Ende hin bleibt viel offen. Dass man zum Schluss überrascht werden wird, zeichnet sich ab. Aber mit diesem bitteren Ende, kann man dann doch nicht rechnen.

Rezension von Heike Rau

Benjamin Cors
Küstenstrich
Kriminalroman
384 Seiten, Klappenbroschur
Deutscher Taschenbuch Verlag
ISBN-10: 3423261021
ISBN-13: 978-3423261029
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Cora Stephan: Ab heute heiße ich Margo

Cora Stephan: Ab heute heiße ich Margo

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Weit ist der Bogen gespannt…

Verpackt in eine Familiengeschichte mit mehreren Hauptfiguren und deren berührender Vergangenheit erzählt Cora Stephan in ihrem neuen Roman noch einmal von der Nazizeit und den wechselnden geschichtlichen Strömungen in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts.

Der Bogen wird weit gespannt: er reicht von der Nazizeit über die Schrecken des Krieges und Kriegsendes bis zu den Verbrechen in der DDR, zum westdeutschen Wirtschaftswunder und zuletzt zum Ende des 20. Jahrhunderts in eine neue Zeit.

Die Ereignisse beginnen in den dreißiger Jahren in Stendal.

Margarete Hegewald, genannt Margo, kommt aus einer einfachen Familie mit einer Schwester, einem tyrannischen Vater und einer verschüchterten Mutter. Sie verlässt die Schule mit ca 17 Jahren und beginnt in einem Fotogeschäft zu arbeiten. Im Fotogeschäft lernt sie die erfahrene und hübsche Helene kennen, eine Fotografin, die schon im spanischen Bürgerkrieg zwischen alle Fronten geraten war. Beide Mädchen verlieben sich in den schlesischen Adligen und Diplomaten Alard von Sedlitz.

Die Jahre schreiten fort und mit ihnen die Auswüchse von Hitlers Macht und Kriegstreiberei. Die Atmosphäre um die Figuren herum erscheint konspirativ. Wer ist auf wessen Seite?

Voller Spannung und im Detail sehr lebensnah steigert Cora Stephan ihre Erzählung. Die äußeren Einflüsse brachten Verhältnisse durcheinander und lösten bei den Figuren mit den verschiedensten Charakteren Irritationen aus. Beziehungen wurden unterminiert, und Freundschaften und Feindschaften verwischten sich. Margo und Helene haben jeweils besondere Rollen in dem vom Ost -Westkonflikt beherrschten Drama; zum einen als Feindinnen und Rivalinnen um die Liebe zu dem charismatischen Alard und darüber hinaus in ihrem politischen Selbstverständnis. Beide erleben den Einmarsch der Russen in Schlesien. Margo überlebt nur knapp und schwer verletzt die Schikanen durch russische Soldaten, Helene flieht und wird nach Kriegsende aktive Mitarbeiterin bei der Stasi in der DDR. Margo wird eine erfolgreiche Geschäftsfrau in Westdeutschland. Dazwischen spielen Liebschaften und Kindergeburten eine dramatische Rolle.

Cora Stephan versteht ihre Erzählung so anzulegen, dass man sowohl einen absolut wirklichkeitsnahen Eindruck bekommt von den Verhältnissen im Zweiten Weltkrieg und Deutschlands Untergang. Darüber hinaus beschreibt sie gekonnt die unterschiedlichen Strömungen in West- und Ostdeutschland nach Kriegsende. Den Familienverstrickungen und Freundschaftsbeziehungen kommt elementare Bedeutung zu. Töchter und Mütter sind uneins, Liebe und Ablehnung finden sich, Vertrauen steht gegen Lüge, Verrat und Betrug führen zu Misstrauen und Feindschaft. Ohne Unterlass folgt ein Erzählstrang dem nächsten und man bleibt bis zur letzten Seite gespannt, wie sich die Verhältnisse auflösen bzw. zurechtrücken werden. Atmosphärisch wird der Roman den beschriebenen Verhältnissen immer gerecht.

Selten liest man einen so spannenden Roman mit unablässiger Aufmerksamkeit, um zu erfahren, wie alles zusammenhängt und welche Schicksalsschläge und Herausforderungen jeder einzelne für sich verkraften muss. Dennoch bleibt der Faden immer erhalten, so dass einen die Lektüre unaufhörlich weitertreibt. Einen so anhaltend spannenden und zugleich in seiner Diktion unterhaltsamen Roman habe ich lange nicht gelesen.

Cora Stephan
Ab heute heiße ich Margo
640 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, März 2016
ISBN-10: 3462048953
ISBN-13: 978-3462048957
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Irmgard Keun: Kind aller Länder

Irmgard Keun: Kind aller Länder

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Eine abenteuerliche Reise…

Dieser wieder aufgelegte Roman von Irmgard Keun aus dem Jahr 1938 ist eine Neuentdeckung für alle jene, die das Nazireich nicht miterlebt haben.

Spontan beginnt die Geschichte der kleinen zehnjährigen Kully, als sie sich zu ihrem Leben in Hotels äußert. Dorthin nämlich verschlägt es sie in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer wieder: nach Brüssel, dann nach Ostende, Nizza, bis Amerika, nach Holland und wo nicht noch überall hin.

Sie lebt mit ihrer Mutter ständig in Geldnot, während ihr Vater, ein Schriftsteller, von Land zu Land reist, um bei diversen Verlegern Geld aufzutreiben. Er trinkt, er prasst und er vertröstet alle: seine Frau, seine Tochter und die zahlreichen Schuldner, die ihm immer auf den Fersen bleiben. Geflohen ist die Familie aus Deutschland, als Hitler sein Zerstörungswerk an den Juden und progressiven Denkern begann und zu immer neuen Auswüchsen trieb. Das Leben auf der Flucht von Ort zu Ort, heimatlos und verloren, fasst Irmgard Keun in die naiven Sätze und Worte der kleinen Kully. Diese spricht kindlich, denkt nach und lässt uns an ihren unvergorenen Vorstellungen über die Welt und die Welt der Erwachsenen in einfachen Worten teilhaben.

Wie sollte ein Kind damit fertig werden, das sich ständig von Verfolgern umringt sah, und das in einfachen Worten die Scham beschreibt, die es ergriffen hat, wenn Kellner und Hoteliers sie loswerden wollten? Die Geldnot zwang zu Hunger und ständiger Lügerei mit der stillen Hoffnung auf Versprechungen des Vaters, dass er sie schon bald mit einer großen Summe freikaufen würde.

Gerade die naive Sprechweise und der unschuldige Blick des Kindes öffnen den Blick auf die Grausamkeit von Vertreibung und Not, von Kälte und Armut ohne Perspektive für das Weiterkommen. Da muss die Kleine in einem Kaffee ausharren, weil der Vater sie erst des Abends wieder abholt. Sie weiß nicht, ob er denn wirklich kommen wird. Sein Verhalten ist so unzuverlässig und vage, dass das Kind sich oft verlassen und vergessen vorkommen muss. Die Mutter weint viel und bedarf häufig selber des Trostes. Auch reisen sie sehr plötzlich immer wieder von irgendwo ab, ohne dass das Ziel oder Warum ersichtlich wird. Der Vater organisiert die Reisen, aber man weiß zuweilen nicht, wo er selber denn nun steckt.

Die kurzen Sätze mit dem naiven Unterton kindlichen Denkens und den Folgerungen, die das Kind aus seinen Beobachtungen zieht, sind sehr anrührend.

Nichts klingt larmoyant oder altklug.

Das Sprichwort „Kindermund tut Wahrheit kund“ scheint sich hier zu bestätigen. Wie soll man das Verhalten Erwachsener verstehen, wenn man noch klein ist, und die Welt voller Geheimnisse steckt? Das Leben für Kully war ein Herumzigeunern mit unbekanntem Ziel und Sinn. Die Autorin hat sich die Sichtweise eines herumgestoßenen Kindes zueigen gemacht. Da darf man vieles sagen, was die Erwachsenen nicht äußern, auch weil sie dem ständigen Überleben selber ausgesetzt sind und dem Kind nichts erklären wollen. Das Kind bleibt mit seinen Träumen und Ängsten sich selbst überlassen.

Irmgard Keun gehörte selber zu den Flüchtlingen aus Hitler Deutschland, in dem für Juden und Andersdenkende keines Bleibens mehr war. In Ostende hatte Irmgard Keun eine Affäre mit Joseph Roth. In diesem Buch mag man sich an das Paar erinnern, das, immer auf der Suche nach Unterkunft und Nahrung, heimatlos geworden waren.

Irmgard Keun
Kind aller Länder
224 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, Februar 2016
ISBN-10: 346204897X
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Ram Oren: Gertrudas Versprechen

Ram Oren: Gertrudas Versprechen

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Dieser Bericht stützt sich auf eine wahre Begebenheit.

Er handelt von der Nazizeit, von Bedrängnis und aufkommende Verfolgung bis hin zu Flucht und Vernichtung aller menschlichen Würde und des jüdischen Lebens.

Gertruda hat nach einigen schweren Enttäuschungen in ihrem Leben eine Stelle als Kinderfrau bei einer sehr reichen polnisch-jüdischen Familie angenommen. Sie selber ist katholisch. Michael ist das einzige Kind der Familie, heiß ersehnt und fürstlich umgeben von Reichtum, Fürsorge und der Liebe seiner Eltern. Er ist ein reizendes Kind, für das Gertruda von Beginn an eine tiefe Zuneigung hegt.

Als die Nazis in Deutschland an die Macht kommen, mehren sich die Anzeichen, die auf schwere Verfolgungen bis hin zu Folter, Tod und Vernichtung aller Juden hinweisen. Der Millionär Jakob Stolowitzky und seine Frau Lydia können lange nicht glauben, das da in Deutschland passiert.

Parallel zu dieser Geschichte gibt es in Deutschland Karl Rink mit seiner jüdischen Frau Mira und Tochter Helga. Karl hat während der Arbeitslosigkeit Aufnahme in die SS gesucht und gefunden. Auch er will nicht glauben, dass die angekündigten Exzesse Hitlers und seiner Nazibonzen zum Erfolg führen könnten, bis es so aussieht, als wäre es zu spät für Frau und Kind, dieser Hölle zu entkommen.

Ram Oren hat eine dramatische Geschichte zu erzählen. Ihm gelingt es, die Verdichtung von guten und friedlichen Zeiten und großem Glück hin zu der Zeit des Terrors, der Angst und schlimmster Verfolgung mit klugen und ausgewählten Beschreibungen herauf zu beschwören. Man fühlt sich ganz dicht am Geschehen, fürchtet sich und freut sich, je nach Schilderung, mit den Protagonisten. Wenn Dichtung und Wahrheit hier dicht beieinander liegen, so ist das Stilmittel der Dichtung durchaus erlaubt, um die schauerliche Zeit des Nationalsozialismus hautnah vor Augen zu führen. Der Erzählstrang führt gelegentlich alle erwähnten Personen zusammen.

Alles überragend wird hier auch die Geschichte einer Mutterliebe und einer Treue erzählt, wie sie ihresgleichen sucht.

Wie man das aus zahlreichen Erzählungen und vielen Biographien kennt, war die Hitlerzeit das Schlimmste, was in einem aufgeklärten christlichen Land geschehen konnte. Ram Oren besticht durch die Macht seiner Erzählkunst, mit der er die Geschichte so erzählt, dass man meint, man sei dabei gewesen. Unvorstellbare Strapazen, Ängste und Zufälle bestimmen das Geschehen, das in seiner Dramatik kaum zu überbieten ist. Man lese das Buch und erfahre erneut, wie die Barbarei in unserem Land Platz gefunden hatte.

Ram Oren
Gertrudas Versprechen
352 Seiten, gebunden
DuMont Buchverlag, Mai 2015
ISBN-10: 3832163336
ISBN-13: 978-3832163334
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Lisa Moore: Der leichteste Fehler

Lisa Moore: Der leichteste Fehler

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Die in Neufundland geborene kanadische Schriftstellerin Lisa Moore hatte bereits mit ihrem Debütroman „Im Rachen des Alligators“ einen nationalen Bestseller gelandet und befindet sich immer noch auf dem wachsenden Ast. In ihrem 2013 erschienenen Roman „Der leichteste Fehler“ geht es um einen jungen Mann namens David Slaney, der vor wenigen Jahren auf die schiefe Bahn gerutscht ist. Der Roman beginnt mit dem Ausbruch Slaneys kurz vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis, in welchem er die letzten vier Jahre verbracht hat. Naiv und blauäugig hatte er damals mit seinem Freund Hearn geglaubt, mal eben so 2 t Marihuana durch den Atlantik von Kolumbien nach Kanada zu schmuggeln. Sie waren von kanadischen Fischern entdeckt worden. In ihrer Unerfahrenheit glaubten sie, die Fischer würden es bei einem Kopfschütteln belassen. Das taten diese natürlich nicht, sondern informierten die Polizei. Das Ergebnis: Slaney geht für vier Jahre in den Knast, während sein Freund Hearn durch einen guten Rechtsanwalt freikommt. Kurz vor seinem Geburtstag bricht Slaney aus dem Knast aus, um so schnell wie möglich wieder zu Hearn zu gelangen, denn der nächste Coup steht auf dem Plan. Nun begleitet der Leser den Protagonisten auf einem road trip durch Kanada. Dabei erfährt er viele Hintergründe aus dem Leben des jungen Mannes, erfährt, warum Hearn freigekommen war, wie Slaney aufgewachsen ist, welchen Umgang er mit Mädchen pflegt und viele weitere einzelne Details. Geht es ihm zunächst darum, seine Freundin Jennifer wieder zu treffen, so ist das wesentliche Ziel doch sein Freund. Slaney selbst ist in den Jahren erfahrener geworden und würde lieber nicht so risikobereit in das nächste Geschäft einsteigen. Doch schließlich kann ihn sein Freund davon überzeugen, dass alles in Ordnung geht und er sich keine Sorgen machen bräuchte. Letztendlich vertraut Slaney wieder seinem Freund, denn schließlich war es dieser, der in den letzten Jahren diesen neuen Deal organisiert hat. Slaney begibt sich erneut auf eine waghalsige Tour, doch die wahre Gefahr kann er nicht einmal erahnen.

Lisa Moore ist ein stiller Roman gelungen, der Ende der 1970er Jahre in Kanada spielt und den Drogenschmuggel von Kolumbien nach Neufundland zum Thema macht. Sie zeigt den großen Drang nach Freiheit, den ein Mensch verspüren kann, und dabei die Berücksichtigung aller Risiken vernachlässigt. Erzählt wird außerdem eine Geschichte von Freundschaft. Es ist eine Geschichte zwischen den Jugendfreunden von damals und deren Entwicklung bis zur aktuellen Handlungszeit des Romans. Faszinierend ist die Stimmung, die sie erzeugt, wenn der Leser versucht, eine Sympathie zum Protagonisten aufzubauen und, ähnlich wie in den Geschichten des großen amerikanischen Schriftsteller T. C. Boyle, erkennen muss, dass der Protagonist auf ein riesiges Desaster zuläuft. Zwar kann der Leser versuchen, den Protagonisten Glück zu wünschen, aber letztendlich ahnt er, dass dieser Wunsch nicht sehr viel helfen wird.

Kritisch an dem Buch finde ich zwei Sachen, auf die die Schriftstellerin wahrscheinlich weniger Einfluss hatte. Das ist einerseits der Umschlag der deutschen Ausgabe, dessen Bild gar nichts zu dem Inhalt des Romans aussagt. Zum anderen sind es die fehlenden Anführungszeichen für die wörtliche Rede. Künstlerische Freiheit hin oder her, eine Autorin hat die Pflicht, ihren Lesern das Lesen weitgehend zu erleichtern und ihnen dabei Hilfestellung zu geben. Wenn die Dialoge ohne Kennzeichnung ausgeführt werden, dann erschwert dies das Lesen ungemein. Ständig muss sich der Leser orientierten, und bei jedem Satz versuchen, herauszufinden, ob es sich um eine wörtliche Rede, die Stimme des Erzählers oder gar die Gedanken einer Figur handelt. Nach etlichen Seiten Lesens gewöhnt sich der Leser zwar an diesen Stil, aber besonders attraktiv wird es ihm nicht gemacht.

Da bei mir die Geschichten im Vordergrund stehen, vergebe ich dennoch eine klare Empfehlung und sehe dabei über die genannten Kritikpunkte hinweg.

Moore, Lisa
Der leichteste Fehler
Aus dem Englischen von Kathrine Razum
Hanser Verlag, München
ISBN: 9783446247239

© Detlef Knut, Düsseldorf 2015
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