Browsed by
Schlagwort: Marcus Hammerschmitt

PolyPlay

PolyPlay

3. April 2000: Oberleutnant Kramer wird zu einem Tatort gerufen – ein 16-Jähriger liegt mit zertrümmertem Schädel vor einem Computerspielautomaten in einem Jugendclub. Die Stasi lädt Kramer ein und in Gegenwart von Markus Wolf erzählt man ihm was von politischen Dimensionen… Tja, so hätte es kommen können, wenn Ende der 80er Jahre die BRD tief in einer Wirtschaftskrise versackt und an einem Miltärputsch zerbrochen wäre, während im Osten der Müller-Lohmann-Prozess für sagenhaft günstige Energie und damit rasanten Aufschwung gesorgt hätte…

Beginnen wir die Betrachtung des Textes mit dem Schlechten: Klammern gehören nicht in einen erzählenden Text (vor allem nicht so gehäuft); ich glaube nicht, dass in der DDR und in Berlin jemals Leichen rumgelegen sind (sondern rumgelegen haben); ich erinnere mich nicht, dass es in der DDR Schulbuben gab (nur Schuljungs); die Ineinandersteck-Puppen heißen Matrjoschkas und nicht Babuschkas; und warum Kramer sich als Kind die Trickserie mit dem Kleinen Maulwurf im Westfernsehen anschauen musste, obwohl es auch im Osten lief, entzieht sich meiner Vorstellungskraft.

Damit wäre dieser Punkt abgehakt und ich kann mit dem Lob weitermachen. Und zwar mit viel davon. Da wäre zum einen ein ganz und gar glaubwürdiger Parallelwelt-Entwurf. Bar jeder Sentimentalität – bei einem westdeutschen Autor nicht verwunderlich – und bar jeder „Osten = schlecht / Westen = gut“-Propaganda – bei einem Westdeutschen eher ungewohnt. Ich habe selten… Nein: Ich habe noch nie eine so realistische Kurzanalyse der Vorwendesituation in der DDR gelesen, wie in diesem Buch.

In derselben Qualität erschuf Hammerschmitt auch seine Figuren: Nicht stereotyp und dennoch deutlich durch ihre jeweilige Rolle und Position geprägt. Lebendig eben.

Die Handlung läuft von Episode zu Episode: Nichts passt zusammen und immer, wenn Kramer einem Beweis nahe ist, der seine vagen Ahnung eventueller Zusammenhänge stützen soll, wird ihm dieser Beweis entrissen. Dafür werden ihm andere Beweise vor die Füße gelegt, die neue Zusammenhänge andeuten, und wenn er sich denen auf der Spur wähnt – schwupp, ist auch dieser Beweis futsch.

Erzählt wird das Ganze in einer kraftvollen, farbigen aber schnörkellosen, orginellen Sprache. Es wirkt fast wie ein hochangereicherter Extrakt. Aufs Wesentliche konzentriert, nichts daran ist langatmig oder langweilig. Ich habe – selbst als ich am Ende doch etwas unbefriedigt die Lösung des Ganzen zur Kenntnis nahm – bis zur letzten Zeile unangestrengt aber aufmerksam gelesen.

Apropos Lösung: Die ist dergestalt, dass die oben erwähnten DDR-Irrtümer vielleicht gar keine des Autors sind… Wie das sein kann? Selber lesen!

Marcus Hammerschmitt
PolyPlay
erschien 2002 in der Reihe
Social Fantasies des
Argument Verlag • Hamburg • Berlin

Marcus Hammerschmitt
PolyPlay
Ein Kriminalfall in der vereinigten DDR im Jahr 2000… und eine unglaublich dichte Sprache.
ISBN:3886199746
Bestellen