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Schlagwort: Familienleben

Jean Luc Seigle: Der Gedanke an das Glück und an das Ende

Jean Luc Seigle: Der Gedanke an das Glück und an das Ende

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In diesem Roman geht es um Erinnern und Durchhalten.

Dem Leser wird ein Blick in eine Familiengeschichte in Frankreich im Jahr 1961 gestattet. Die Familie Chassaing erwartet den ersten Fernseher im Dorf! Alle werden sich um das Gerät versammeln, um eine Reportage über die Soldaten im Algerienkrieg zu sehen. Der älteste Sohn von Suzanne und Albert ist als Soldat in diesem Krieg. Bei Albert weckt die Reportage Erinnerungen an seine eigene Kriegsgeschichte im Zweiten Weltkrieg.

Henri ist Suzannes Lieblingssohn, und er soll in dieser Sendung zu sehen sein. Das Paar hat noch einen jüngeren Sohn, der sich an der Grenze zur Pubertät befindet. Er ist ein Büchernarr und Einzelgänger.

Die Familie lebt in einem Industriegebiet. Das Land wurde früher von Bauern bewirtschaftet. Albert geht seiner Arbeit in einer Reifenfabrik nach, und Suzanne führt den Haushalt und kümmert sich um Alberts alte und demenzkranke Mutter. Freudige Ereignisse sind rar. Das Feuer in der Ehe von Suzanne und Albert ist schon lange erloschen. Suzanne ist hübsch und lebenslustig und verliebt sich in einen anderen.

In zahlreichen Szenen aus dem Alltag der Familie kristallisiert sich ihr tägliches Leben heraus. Albert findet mit seinem Sohn Gilles Kontakt zu dem pensionierten Lehrer Antoine, der in der Nachbarschaft wohnt und dem Jungen die Bücherwelt erschließt. Vielleicht kann er ihm auch bei seiner Rechtschreibschwäche helfen!

Nachdenklich und tiefschürfend geht Jean-Luc Seigle den Gedanken der Protagonisten nach, und man erfährt, wie es innerlich um sie bestellt ist. Der intime Umgang mit dem Körper seiner Mutter löst bei Albert eine besondere Traurigkeit aus“ sie erlaubte für den Bruchteil einer Sekunde den Schleier zu zerreißen, hinter dem sich eine Wahrheit versteckt, die uns zwingt, die kleine Welt um uns herum mit einem schonungslosen Blick zu betrachten“.

Alberts Traurigkeit überschattet das Ehe- und Familienleben. Er hat im Zweiten Weltkrieg viel gelitten. Seine Erfahrungen verdunkeln sein gesamtes Leben. Häufig denkt er an das „Schlussmachen“, und man muss besorgt sein um diesen Mann.

Es geht um das Glück und um das Ende derer, die im Leben schwer Fuss fassen.

Jean-Luc Seigle hat einen wunderbaren, leicht melancholischen Familienroman geschrieben. Das Ende überrascht, und war wohl ursprünglich nicht diesem Roman zugeordnet. Es verdeutlicht noch einmal den Zeitenwandel im Rückblick auf einen Krieg, den die Franzosen nicht gewinnen konnten. Das Trauma des Verlierens bleibt bei jenen, die diesen Krieg überlebt haben.

Jean Luc Seigle
Der Gedanke an das Glück und an das Ende
224 Seiten, gebunden
C.H.Beck, 2014
ISBN-10: 3406667554
ISBN-13: 978-3406667558
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Rosemary McLoughlin: Die Frauen von Tyringham Park

Rosemary McLoughlin: Die Frauen von Tyringham Park

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Familiensagas sind die Domäne des weihnachtlichen TV-Programms. Aber es muss nicht immer nur Fernsehen sein, um sich mit dem dramatischen Leben einer ganzen Familie, welches über mehrere Jahrzehnte hinweg dargestellt wird, zu unterhalten. In der Romanwelt sind ebensolche Epen bekannt. Eines davon ist der vorliegende Roman „Die Frauen von Tyringham Park“ der Schriftstellerin Rosemary McLoughlin.

Der zum größten Teil in Irland spielende Roman beginnt während des ersten Weltkrieges im Jahre 1917, als die Suche nach der gerade zweijährigen Victoria in vollem Gange ist. Das kleine Töchterchen derer von Blackshaws ist just verschwunden, nachdem wenige Tage zuvor ein Kindermädchen den Herrensitz verlassen hat. Alle sind zutiefst betroffen vom Verschwinden des Kindes. Selbst die Dienstboten zeigen tiefes Mitgefühl. Die achtjährige Schwester Charlotte verliert sogar ihre Stimme nach diesem Vorfall. Die Leute gehen davon aus, dass sie sich die Schuld an dem Verschwinden von Victoria gibt. Nur ihre Mutter Edwina interessiert sich nicht im Mindesten, wie es ihrer größeren Tochter geht. Für sie hängt Victorias Verschwinden unmittelbar mit dem des Kindermädchens zusammen. Den Vater, der in London im Kriegsministerium arbeitet, macht diese Sache am allerwenigsten aus. Er hat keine Zeit, auf den Herrensitz zurückzukehren und wäre dienstlich sehr stark eingebunden, ließ er seine Frau in einem Brief wissen.

Charlotte ist die Protagonistin dieses Romans, obwohl der Klappentext mit dem Hinweis auf das Verschwinden Victorias leicht in eine andere Richtung weist. Die Spannung des gesamten Romans nährt sich aus der Entwicklung des achtjährigen Mädchens zu einer stattlichen Frau, die viele Höhen und Tiefen durchleben muss. Von dem eigenen Kindermädchen und selbst von der Mutter gehasst, hat sie eine schwere Kindheit. Doch der Leser wünscht ihr, dass sie aus diesem Sumpf von Abscheu herauskommt. Dabei ist Charlotte selbst nicht unfehlbar. So manches Mal, wenn sie ohne Argwohn denkt, auch sie hätte ein Anrecht darauf, ein paar Sonnenstrahlen abzubekommen, greift sie zu verkehrten Mitteln. Das Desaster kann nur schlimmer werden. Sehr geschickt ist hier die Autorin mit den Konflikten umgegangen. Immer, wenn der Leser denkt, jetzt hat Charlotte es geschafft, gibt es den nächsten Tiefschlag. So müssen spannende Romane sein. Dabei werden die zuvor lose liegengelassenen Fäden zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen. Die Konflikte werden gelöst.

Unwillkürlich wird der Leser an die Erzählungen von James Joyce erinnert. Das liegt weniger an dem Stil dieser Schriftstellerin als an das gesamte Setting. Joyce hat zu der Romanzeit des vorliegenden Romans gelebt und seine Geschichten aus dem Irland Anfang des 20. Jahrhunderts geschöpft. So erscheinen die Straßenzüge, die Freizeitvergnügen der Herrschaften, das Reden der Leute aus der Upper Class sehr bekannt.

Der Verlag zieht auf dem Klappentext den Vergleich zu der englischen Fernsehserie „Downton Abbey“. Dem kann man nur bedingt folgen. Doch genau wie bei den Erzählungen von Joyce stimmt das Ambiente in Zeit (zwischen ersten und zweiten Weltkrieg), Ort (Herrensitz) und Figurenensemble (Adelige, Bürger und Dienstboten) überein.

Ein historischer Roman, der nicht im Mittelalter spielt, aber dennoch nichts an Dramatik, Spannung und Unterhaltung vermissen lässt. Es sind nahezu alle Genres in ihm enthalten: Liebe, Abenteuer und Verbrechen. Es macht großen Spaß, ihn zu lesen.

McLoughlin, Rosemary
Die Frauen von Tyringham Park
Aus dem Englischem von Dietmar Schmidt
Bastei Lübbe, Köln
ISBN-10: 3404169301
ISBN-13: 9783404169306

© Detlef Knut, Düsseldorf 2014
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Ayana Mathis: Zwölf Leben

Ayana Mathis: Zwölf Leben

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Vom vergeblichem Aufwärtsstreben und Niedergang…

Mit dem hier vorliegenden Roman gilt es, eine begabte amerikanische Erzählerin zu entdecken!

Die Geschichte handelt von einer farbigen Familie, die sich aus bitterer Armut aus den Südstaaten der USA in der Hoffnung auf ein besseres Leben in den Norden begibt.

Aus Georgia zieht es Hattie mit Mutter und zwei Schwestern nach Philadelphia. Hattie ist erst 15 Jahre alt, und die Jahreszahl 1925 steht über dem ersten Kapitel. Die Zeit des großen Aufbruchs farbiger Afroamerikaner aus dem Süden der USA in die Nordstaaten von Amerika war in vollem Gange. Dort im Norden hoffte man auf bessere Lebensbedingungen. Die Bürgerrechtsbewegung mit dem Ziel der Gleichstellung von Farbigen zog sich von 1910 bis 1970 hin und ist bis heute im Land der großen Freiheit nicht überall gelungen.

In Philadelphia beginnt Hattie ihr Leben als Familienmutter mit zahlreichen Kindern.

Doch das Glück ist ihr nicht hold. Ihre ersten beiden Kinder, ein Zwillingspärchen mit den hoffnungsvollen Namen Philadelphia und Jubilee, sterben an einer Lungenentzündung. Ihre weiteren Kinder gehen nach Jahren der Armut in die Welt, um ihr Glück zu versuchen. Hattie bleibt als immer währender Hort der Stärke für alle zurück. Liebe und Zärtlichkeit waren nicht ihre besten Seiten. Dazu musste sie sich zu sehr plagen, um alle zu kleiden und zu ernähren.

Die Geschichten ihrer Kinder sind voller Widersprüche. Ihre Lebenskreise ziehen sich durch das ganze 20. Jahrhundert und bieten ein Stück amerikanischer Zeitgeschichte, die aufschlussreich ist.

Wenn auch das Unglück überwiegt, so ist die Darstellung von Ayana Mathis’ atmosphärischen Geschichten so geartet, dass man sich mit den Menschen verbunden fühlt und an ihren Schicksalen Anteil nimmt. In weitem Bogen umspannt die Autorin von den frühen bis zu den späten Lebensjahren das Ergehen von Hattie mit ihren Sorgen und gelegentlichem Versagen, von ihrem Mann, ihren Kindern und ihrem einzigen Liebhaber.

Farbig und belebend sind die Schilderungen der Milieus, in denen die Kinder ihr Leben gestalten. Man spürt die Kälte im Winter und die Hitze im Sommer. Und man erfährt einiges über die Lage der Schwarzen, die noch lange nicht rosig aussieht. Arbeitslosigkeit, Trunksucht und die Spielleidenschaft der Männer lassen in zahlreichen Familien ihre Mitglieder auf der Strecke. Die Liebe zwischen Hattie und ihrem Mann August verliert sich in Küchendunst, im Hunger und in der Not der Kinder. Hattie sieht die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage, und alle Ausweichmanöver misslingen. Sie bleibt stolz und unbeugsam in den wenigen glücklichen Augenblicken und im Unglück. Doch sie kann auch böse, bitter und zornig sein.

Ayana Mathis zeigt herausragendes Erzähltalent bei den Schilderungen dieses großen Familienromans.

Ihre Figuren sind aus Fleisch und Blut. Man kann sie spüren mit allen ihren Emotionen und auf ihren verwinkelten Lebenswegen.

Ayana Mathis wird in der Nachfolge von Toni Morrison gehandelt, die 1993 als einzige Amerikanerin in langen Jahren den Literaturnobelpreis erhalten hat. Ayana Mathis neuer Roman ist ein absolutes Muss für die Freunde gehobener Literaturgattungen.

Ayana Mathis
Zwölf Leben
368 Seiten, gebunden
Deutscher Taschenbuch Verlag, Mai 2014
ISBN-10: 342328028X
ISBN-13: 978-3423280280
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Julia Stagg: Madame Josette oder ein Dorf trumpft auf

Julia Stagg: Madame Josette oder ein Dorf trumpft auf

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Dieser Roman ist der unmittelbare Nachfolger des ein Jahr zuvor erschienenen Romans „Monsieur Papon oder ein Dorf steht Kopf“ Er beginnt etwa wenige Tage nach der Handlung des ersten Romans. Hautnah kann der Leser den Mikrokosmos in einem Bergdorf in Frankreich erleben. Während im ersten Roman die Einwohner des Dorfes Fogas durch den Zuzug eines englischen Ehepaares, die die Dorfschenke betreiben wollen, erschüttert, so werden die Einwohner in diesem zweiten Roman auf ein neues durcheinandergewirbelt.

Fabian, der Neffe von Josette, die die Inhaberin des kleinen Tante-Emma-Ladens ist, hat in Paris studiert und gearbeitet. Nun kehrt er nach Fogas zurück. Zurück deshalb, weil er als Kind jedes Jahr von seinen Eltern hier hergeschickt wurde, um die Sommerferien zu verbringen. Deshalb ist ihm das Dorfleben nicht unbekannt. Nach all dem Trubel in der Metropole Paris sehnt er sich nach dem Landleben und hat die großartige Idee, seiner Tante beim Betrieb des Tante-Emma-Ladens unter die Arme zu greifen. Diese Idee kommt natürlich nicht von ungefähr, schließlich ist aus den Erbschaftsunterlagen von Jacques, dem verstorbenen Onkel, herauszulesen, dass Fabian die Hälfte des Ladens geerbt hat. Weil sich Josette nicht im komplizierten Erbschaftsrecht auskennt, war sie nie auf den Gedanken gekommen, dass ihr der Laden nicht allein gehörte. Getreu dem Sprichwort „Neue Besen kehren gut“ hat der junge Banker ganz frische und mutige Ideen, den Laden im Dorf wieder in Schwung zu bringen. Selbstverständlich kommt er nicht auf die Idee, irgendjemanden, und schon gar nicht seine Tante, zu fragen, ob sie damit einverstanden sei. Dass er damit alle Vorurteile der Dorfbewohner gegenüber den Großstädten unterstützt, fällt ihm nicht im Traum ein.
Parallel dazu erleben wir die Geschichte von Stephanie, die auch vor kurzer Zeit in das Dorf gekommen war mit ihrer Tochter Chloé. Keiner ahnt, dass Stephanie vor ihrem Mann geflüchtet ist, um mit ihrer Tochter den ständigen Wutausbrüchen ihres ewig betrunkenen Ehemanns zu entgehen. Stephanie hatte sich in Fogas bereits ein neues Heim aufgebaut und sich hervorragend in die Dorfgemeinschaft eingearbeitet.
Doch Stephanie und Fabian geraten des Öfteren mächtig aneinander. Zwischen den beiden scheint sich eine Mauer des Unglücks aufgerichtet zu haben.

Wie schon im ersten Roman hat sich die englische Schriftstellerin auf einen kleinen Trick zurückgezogen, um die Geschichte mit einem zusätzlichen zwinkernden Auge erzählen zu können: Der Geist von Jacques, dem verstorbenen Inhaber des Tante-Emma-Ladens, lebt noch in diesem Dorfladen. Meist sitzt er auf dem Kaminsims. Doch manchmal starrt er auch aus dem Fenster. Jacques ist eigentlich für alle Dorfbewohner unsichtbar außer für zwei von ihnen. Seine Witwe Josette kann ihn sehen und mit ihm sprechen genauso wie die kleine Chloé, Stephanies Tochter. Dieser Geist gibt oft Anlass zu amüsanten Szenen, wenn sich Fabian beispielsweise wundert, dass seine Tante ständig irgendwelche Selbstgespräche führt. Oder wenn Jacques Stephanie warnen möchte. Dazu schreibt er etwas in den Staub. Aber als Geist kann er nicht mit seinen Fingern im Staub schreiben, sondern er muss pusten. Und das bringt den Geist im wahrsten Sinne des Wortes außer Atem. Aber nicht nur dieser Trick ist es, der das Buch besonders reizvoll macht, sondern auch die stets wechselnde Perspektive, aus der die einzelnen Szenen geschildert werden, ist wunderbar gelungen. Nahezu alle wichtigen Dorfbewohner in dieser Geschichte kommen einmal zu Wort, um aus ihrer Sicht die Dinge zu erzählen. Damit der Leser damit nicht zu sehr überfordert wird, ist in jeder neuen Szene im ersten Absatz jeweils der Name der erzählenden Figur aufgeschrieben. Eine schöne Vorgehensweise, die ich so in anderen Romanen noch nicht entdeckt habe.

Volle Punktzahl für einen wunderschönen Roman, der in Frankreich spielt. Wer den Spielfilm um die „Schtis“ kennt, kann sich etwa eine Vorstellung von diesem Roman machen, wer den Film der „Schtis“ liebt, der wird auch dieser Roman lieben.

Stagg, Julia
Madame Josette oder ein Dorf trumpft auf
348 Seiten, gebunden
Hoffmann und Campe, Hamburg
ISBN-10: 3455404316
ISBN-13: 978-3455404319

© Detlef Knut, Düsseldorf 2013
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Gina Mayer: Das Lied meiner Schwester

Gina Mayer: Das Lied meiner Schwester

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Die in Düsseldorf lebende Schriftstellerin Gina Mayer entführt den Leser mit diesem Roman in die Zeit des Dritten Reiches. Im Mittelpunkt des Romans stehen die beiden Schwestern Anna und Orlanda. Anna, die ältere von beiden, arbeitet als Krankenschwester in einem Krankenhaus, während Orlanda als Sängerin eine Anstellung an der Düsseldorfer Oper hat. Nachdem sie diese verloren hat, entdeckt sie die Swingmusik für sich und wird Sängerin der Melody Girls. Sie wird hin und her gerissen von der Liebe zu dem Jazz-Geiger Leopold und dessen Freund Clemens, der ebenfalls an der Oper arbeiten. Als im Krankenhaus ein neuer Chefarzt erscheint, steigt Anna zur OP-Schwester auf. Seit der Machtübernahme der Nazis wird das Leben in Deutschland immer schwerer. Auch Orlanda wird mit einem Berufsverbot belegt, weil Swingmusik zur entarteten Musik gehört und die Melody Girls nicht mehr auftreten dürfen. Aber auch im Krankenhaus sind Ärzte und Krankenschwestern unterschiedlicher Meinung zu den Geschehnissen in Deutschland. Anna kann und will nicht allem zustimmen, was die Nazis anstellen. Als die Situation im Verlauf der Jahre immer schwieriger wird, schließt sich die religiöse Anna einer Gruppe an, die im Untergrund Widerstand leistet. Erst viel später erzählt sie ihrer jüngeren Schwester Orlanda davon. Die ist sofort hellauf begeistert und möchte so schnell wie möglich ebenfalls am Widerstand teilnehmen.

Sehr vielschichtig und mit vielen Details aus dem damaligen Düsseldorf, aber auch aus der Zeit des Dritten Reiches, wird von Gina Mayer einen anrührende Geschichte zweier Schwestern im Widerstand gezeichnet. Schwerpunkt liegt dabei ganz klar auf der Entwicklung der Figuren. Während einzelne Nebenfiguren noch einem klassischen Schwarzweißbild entsprechen, so ist dies bei den Hauptfiguren nicht mehr erkennbar. Sie bestehen aus unendlich vielen Grautönen. Auf diese Weise versucht die Schriftstellerin dem Leser nahezubringen, dass die Zeit des Dritten Reiches nicht einfach schwarz-weiß gesehen werden darf. Obwohl die Schwestern bei weitem nicht immer einer Meinung sind, gehen sie doch einen gemeinsamen Weg auf ein gemeinsames Ziel zu. Bei den Freunden und anderen ist dies nicht mehr der Fall. Während der Jazzmusiker Leopold an seinem Berufsverbot beinahe zu Grunde geht, schafft es der Opernsänger Clemens bis in die höchsten Kreise und wird sogar von Göbbels hofiert. Eine gemeinsame Freundin Fritzi, die schon in ihrer Jugend ihren jüdischen Nachnamen abgelegt hat, weil sie nichts mit der jüdischen Religion zu tun hat, zeigt, dass auch Juden nicht in einen gemeinsamen Topf zu werfen sind. Annas Chefarzt ist ein Mensch, der durchaus Verständnis für das menschliche Miteinander aufbringt, der den Nazis aber keinen Widerstand entgegenbringt und eher, seinen Wohlstand und seine Karriere im Sinn, bei öffentlichen Anlässen den Nazis nach dem Mund redet. Diese Vielschichtigkeit von Figuren und Charaktereigenschaften wird von der Autorin in eine spannende Handlung gepackt und mit sehr vielen Bildern und Detailtreue in die Köpfe der Leser gepflanzt. Während der Leser lange Zeit im Glauben gelassen wird, dass die Fronten innerhalb dieser Figurenkonstellation ziemlich klar sind, gibt es zum Ende hin immer mehr Überraschungen. Die Hinundhergerissenheit zwischen den beiden Männern Leopold und Clemens zieht sich durch den gesamten Roman und immer wieder muss sich der Leser fragen, wie sich Orlanda am Ende entscheiden wird. Wird sie sich überhaupt entscheiden müssen, oder macht die Liebe ihr eigenes Spiel mit ihr?

Ein hinreißender Roman, der in Düsseldorf spielt und viel Liebe zur Musik durchschauen lässt. Ein Roman, der die Gefühle anspricht, und den Menschen von heute, die meistens die Zeit des Dritten Reiches nicht am eigenen Leib erfahren haben, emotional nahe bringt. Ein solcher Roman hat einfach die volle Punktzahl verdient.

Gina Mayer
Das Lied meiner Schwester
544 Seiten, broschiert
Aufbau, Berlin
ISBN-10: 3746628679
ISBN-13: 9783746628677
© Detlef Knut, Düsseldorf 2013

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Nina George: Die Mondspielerin

Nina George: Die Mondspielerin

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Dieser Roman der inzwischen zu einigen schriftstellerischen Ehren gelangten Nina George ist bereits 2011 erschienen. In ihm lässt die Autorin bereits die sanften und sinnlichen Töne anklingen, durch die sie im Roman „Das Lavendelzimmer“ berühmt geworden ist. Er besticht durch seine gefühlvolle und besinnliche Art, Dinge und Geschehnisse zu beschreiben, als würde man in die Protagonistin hinein schauen.

Wir befinden uns in Paris an der Seine, in die sich Marianne hineinstürzt, um aus dem Leben zu scheiden. Sie hat es satt, an der Seite ihres Mannes weiterhin das graue Mäuschen zu spielen, sie hat es satt, nicht mehr zu wissen, wo sie im Leben steht, sie mag einfach nicht mehr und will einen Schlussstrich unter ihr Leben ziehen. Doch so leicht wird es der Deutschen nicht gemacht. Sie wird aus dem Fluss gerettet. Enttäuscht darüber dass ihr der gewählte Weg versagt bleibt, schlägt sie einen neuen Weg ein. Ihr Mann zeigt nach wie vor kein großes Interesse an ihr. Er begreift einfach nicht, wie sie sich fühlt. Mariannes neuer Weg führt in die Bretagne. Hier, in einem kleinen Ort, lernt sie viele nette Menschen kennen, die ihr eine zweite Chance zum Leben geben. Marianne lernt französisch sprechen und sie bekommt einen Job in der Küche eines kleinen Restaurants. Sie wird mit viel Wärme und Liebe in die kleine Gemeinschaft der Bretonen aufgenommen. Doch Marianne bleibt hin- und hergerissen zwischen ihrem alten Leben an der Seite ihres Ehemannes und dem neuen, freien Leben an der Seite eines Malers, in den sie sich verliebt, so wie sie bislang noch nie verliebt gewesen war.

Mariannes Gefühle fahren auf der Achterbahn und Nina George lässt den Leser ganz tief eintauchen in die Gefühlswelt der Protagonistin. Das Schwanken zwischen dem alten und dem neuen Leben wird unheimlich nachvollziehbar und authentisch. George hat einerseits einen Blick und ein Ohr für das feinsinnige in den Beziehungen der Menschen untereinander, andererseits ist sie dank ihres handwerklichen Könnens in der Lage, diese Feinsinnigkeit so akkurat in ihre niedergeschriebenen Worte zu legen, dass dem Leser nichts anderes übrig bleibt, als mit allen Sinnen das Geschehen mitzuerleben und die Gefühlswelt der Menschen nachzuempfinden.

Angenehm ist auch der Ausklang des Buches, in welchem in kurzen Abschnitten die Bretagne von A bis Z erläutert wird. Dem einen oder anderen mag dies eine Hilfe sein, im Nachhinein so manche Kleinigkeit im Roman mit anderen Augen zu sehen.

„Die Mondspielerin“ ist ein Entwicklungsroman, bei der eine von Lethargie und Gram gebeugte Frau jenseits der 50 den aufrechten Gang lernt und sich von ihrem bisherigen Leben lossagt und vom Ehemann emanzipiert. Es ist ein großartiger Roman für alle, die Frankreich lieben, die die Bretagne lieben, und die, die nicht auf actionreiche Szenen aus sind, sondern vielmehr auf das Kopfkino, welches sich bei feinfühligen Sätzen, wie die von George, etabliert. Ich komme nicht umhin und muss diesem Roman, genauso wie zuvor schon seinem Nachfolger, die volle Punktzahl geben.

George, Nina
Die Mondspielerin
Taschenbuch
Knaur, München
ISBN-10: 342650135X
ISBN-13: 978-3426501351

© Detlef Knut, Düsseldorf 2013

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Ferdinand von Schirach: Tabu

Ferdinand von Schirach: Tabu

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Mord, Totschlag oder doch keines von beiden?

Die Hauptfigur in diesem Krimi ist Sebastian von Eschburg. Er lebt auf dem Schloss einer ansonsten verarmten Adelsfamilie. Mit zehn Jahren kommt er wie seine Vorväter in ein Schweizer Internat.

Der Junge kann Farben in ungeahnter Weise sehen, und in seiner Wahrnehmung assoziiert er eine Vielzahl von Farben in der Zuordnung bestimmter Dinge. Mit dem Vater geht er zur Jagt und erlebt den Schuss auf ein Reh. Er empfindet das als unendlich grausam. Als sein Vater an einem Selbstschuss stirbt, von dem man erst später erfährt, dass es kein Unfall sondern Selbstmord war, bleibt der Junge mit der stoischen und schweigsamen Mutter alleine zurück.
Später wird er Fotograf, der insbesondere Frauen in den verschiedensten Lagen fotografiert. Er wird als Künstler berühmt, lernt Frauen kennen und lebt dennoch ein merkwürdig steriles und lebloses Leben. Es beschleicht einen unweigerlich der Gedanke, dass etwas mit ihm nicht stimmt.

Die Sätze in diesem Roman kommen gestochen klar daher. Kurz und ohne Umschweife werden Situationen und Ereignisse beschrieben. Fast empfindet man den Helden als eine surreale Figur, die nicht wirklich in unsere Zeit zu passen scheint. Die Schnitte zwischen den einzelnen Kapiteln sind ebenfalls krass, kurz und fast übergangslos. Die Faszination entsteht aus dem unheimlichen Gefühl, dass da etwas passieren wird.
Und in der Tat: Mit rasanten Zügen geht es weiter im Text, in dem es um Mord, Schuld und den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Wahrheit geht.

Ferdinand von Schirach ist ein unbestechlicher Beobachter, wenn es um gerichtsfähige Straftatbestände geht. Nicht die Wahrheit zählt, sondern dass man bei Gericht seine ordentliche Arbeit tut. Die besteht aus beweisbaren Fakten und sonst nichts!

Klug, stilsicher, prägnant und sauber berichtet von Schirach schon in seinen anderen Büchern über Verbrechen, Strafe, Schuld und Sühne und um gerichtliche Verfahrensweisen. Man gerät unweigerlich in die tieferen Schichten menschlichen Seins bei seiner Lektüre und legt die Schrift mit dem Wissen um die Rätselhaftigkeit unseres Daseins beiseite.

Ferdinand von Schirach
Tabu
256 Seiten, gebunden
Piper Verlag, September 2013
ISBN-10:3492055699
ISBN-13:978-3492055697
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Thomas C. Boyle: San Miguel

Thomas C. Boyle: San Miguel

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Der amerikanische Bestsellerautor T. C. Boyle hat sich mit diesem Roman der Geschichte zweier Familien angenommen, die auf der kleinen Pazifikinsel San Miguel vor der kalifornischen Küste lebten. Aufmerksam geworden auf diese Geschichte ist er während seiner Recherchen zu dem vorhergehenden Roman „Wenn das Schlachten vorbei ist“. Mit den beiden nacherzählten Familiengeschichten, die in unterschiedlichen Epochen spielen, die erste im 19. Jahrhundert und die zweite 50 Jahre später im 20. Jahrhundert, nimmt sich Boyle dem Phänomen des immer weiter nach Westen strebenden Pioniers an. Wir finden den über 400 Seiten starken Roman in drei Teile untergliedert vor. Die ersten beiden Teile, die um 1880 spielen, sind der Familie Waters gewidmet. Der dritte Teil rückt dann in die Zeit ab 1930 vor, ragt bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein und erzählt die Geschichte der Familie Lester. Die kleine Kanalinsel, auf die die beiden Familien ziehen, ist geprägt von kargem Land. Kaum Vegetation ist lediglich Schafzucht in diesem minimalistischen Lebensraum möglich. Der Autor stellt zu Recht die Frage, was bewegte diese Menschen, auf diese Insel zu ziehen. Während Marantha Waters und ihre Tochter Edith nur dem Ruf von Maranthas Ehemann folgen und das Gefühl haben, auf der Insel wie in einem Gefängnis zu leben, geht Elise Lester mit ihrem Mann aus freien Stücken auf die Insel und lebt sehr gerne auf dieser Insel.

Beide Familien haben tatsächlich existiert und es liegen Dokumente über deren Leben auf der Insel vor. Das besondere Verdienst Boyles ist es, die real existierenden Familien in eine fiktive Handlung eingebettet zu haben, um sie plastischer vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen zu lassen. Erst durch die Handlungen und Dialoge, wie sie nur in einem fiktiven Roman, zudem von einem wortgewandten Schriftsteller wie T. C. Boyle und seinem präzise und ebenso wortgewandten Übersetzer Dirk van Gunsteren machen die Verhältnisse und das Leben auf dieser Insel spürbar. Auch die Herausarbeitung von Figuren, wie sie vom Schriftsteller bezeichnet werden, sind nur in einer fiktiven Geschichte möglich. Dies macht die Charakterstudien der beiden Familien äußerst lesenswert.

Wer mit dem Roman jedoch ein spannendes Abenteuer wie „Drop City“ oder „Amerika“ erwartet, der wird enttäuscht werden. Harte Auseinandersetzungen und Konflikte zwischen zwei Menschengruppen stehen nicht im Vordergrund. Wohl aber eben solch harte Konflikte zwischen den Bewohnern dieser Insel und den Naturgewalten. Diese brechen herein in Form von Stürmen, in Form des Zweiten Weltkrieges, in Form von Krankheiten. Mit San Miguel kann man sich einlassen auf einen eine historische Fiktion. Es besticht durch die vom Autor gewohnten präzisen Charakterstudien und detailreichen Beschreibungen der Landschaft, die Heimat des Inselfuchses ist, der nur auf dieser und fünf anderen kleinen Kanalinsel lebt.

Obwohl das Leben auf dieser Insel einem Abenteuer gleicht, ist der Roman kein Abenteuerbuch und man muss sich auf den Inhalt einlassen. Nichtsdestotrotz ist es hervorragend geschrieben und hat meine volle Punktzahl verdient. Ich freue mich auf ein Treffen mit dem Autor, wenn er in den nächsten Wochen durch Deutschland lesetourt.

Boyle, Thomas Coraghessan
San Miguel
Hanser, München
ISBN 9783446243231

© Detlef Knut, Düsseldorf 2013
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Richard Russo: Diese alte Sehnsucht

Richard Russo: Diese alte Sehnsucht

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Familienleben und anderes…

Wieder kann man mit diesem Roman einen hervorragenden amerikanischen Schriftsteller entdecken. Richard Russo gilt als herausragendes Erzähltalent, und den Beweis liefert er mit seinem Roman über ein Ehepaar im Kontext zu ihren Herkunftsfamilien.

Griffin und Joy sind die Hauptprotagonisten, deren Ehe und Familienleben sich Prüfungen aller Art ausgesetzt sieht.

Griffin ist ein glückloser Drehbuchbuchautor und Professor an einem kleineren College im mittleren Westen der USA. Cape Cod ist Ort heimlicher Sehnsüchte und Ferienerinnerungen von Griffin, der sogar ein Drehbuch nach der frühen Ferienbegegnung mit der Familie Brown schreiben will.

Jetzt ist er Mitte fünfzig und hat den undankbaren Auftrag seiner Eltern, ihre Asche ins Meer zu streuen! Aber nicht zu nah beieinander!

Während der ganzen Erzählung drehen sich Griffins Gedanken um die Liebe zwischen Eltern, Kind, Geliebter und Ehefrau.

Joy entstammt einer wohl angesehenen Ehe mit zahlreichen Geschwistern. Die Ehe ihrer Eltern war glücklich, – aber war sie das wirklich?

Griffin hingegen hatte Professoreneltern, die sich trennten als er älter wurde. Er weiß nie, ob sie sich nicht seinetwegen scheiden ließen, denn Kinder mochten sie gar nicht so gerne. Er wuchs ohne Geschwister aber mit umso mehr Sehnsucht nach Gesellschaft Gleichaltriger auf.

Bildet die Erinnerung an frühere Jahre einen Teil der Erzählung, so ereignen sich später slapstickgleich mehr oder weniger verunglückte Familientreffen bei diversen Hochzeiten. Bei den zu überwindenden Schwierigkeiten spielen zukünftige Schwiegereltern keine geringe Rolle. Die Ehe von Griffin und Joy ist zu Beginn sehr glücklich. Nach Jahren aber zeigen sich Abnutzungserscheinungen. Innerhalb eines Jahres nimmt die Ehe der beiden schließlich ernsthaften Schaden, denn über dreißig Jahre Eheleben haben ihre Spuren hinterlassen.

Glück kann fließend in Enttäuschung übergehen.

In teils melancholischen und teils naiv abwartenden Betrachtungen bietet Griffin mit seinen Reflexionen Einblicke in Familienleben, wie man sie überall auf der Welt antreffen kann. Durch die Komik neben der Tragik mit amüsanten und witzig vorgetragenen Bildern aus dem Leben von Joy und Griffin zeigt sich, dass Eheleben glücklich und entsagungsvoll sein kann, einmal für den einen und ein anderes Mal für den anderen zweier Partner. Melancholie, Nachdenklichkeit, Humor und Liebe zählen in diesem Buch. Man liest es angeregt und mit Gewinn.

Richard Russo weiß zu unterhalten, ohne Langeweile aufkommen zu lassen. Bis zuletzt bleibt man in Erwartung der Wechselfälle des Lebens für dieses eindrucksvolle Paar und hofft, dass alles gut enden möge!

Richard Russo
Diese alte Sehnsucht
348 Seiten, broschiert
Dumont Buchverlag, Februar 2012
ISBN-10: 3832161848
ISBN-13: 978-3832161842
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Klaus Kordon: Das Karussell

Klaus Kordon: Das Karussell

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Der 450 Seiten starke Roman erzählt eine Familiengeschichte über zwei Weltkriege hinweg. Zunächst wird in parallelen Handlungssträngen von den beiden Kindern Herbert Josef Lenz und Elisabeth Gerber erzählt. Herbert, genannt Berti, ist das Kind einer Vergewaltigung. Seine Mutter war als Dienstmagd von ihrem Dienstherrn vergewaltigt worden. Kein Wunder, dass er von ihr nur halbherzig geliebt wird und sie ihn in ein Waisenheim abschiebt. Als die Mutter später wieder einen Mann findet, hat Berti erst recht keinen Platz mehr in ihrem Leben. Das Waisenhaus wird von einem strengen Pater und einem strengen Lehrer geleitet. Gutes hat Berti von diesen Leuten nicht zu erwarten. Schon als kleines Kind von sechs Jahren, als der Erste Weltkrieg 1914 ausbricht, fragt er sich unentwegt, warum seine Mutter ihn nicht zuhause aufwachsen lässt. Sie kommt ihn zwar oft besuchen, aber das ist nicht das, was er sich wünscht. Die Frage, ob er ein ungeliebtes Kind ist, nagt sehr stark an ihm. Aber er lernt, sich im Heim durchzusetzen und wird zu einem so genannten Rüpel, letztendlich zu einem wahren Prügelknaben. Immer wieder kommt er bei Wasser und Brot in den Karzer oder muss sich über den Prügelbock legen und wird windelweich geprügelt.

Parallel dazu wird die Geschichte von Elisabeth Gerber, genannt Lisa, erzählt. Lisa wächst im Harz, in Thale, als Tochter des Sohns eines Fleischermeisters auf. Die Mutter hatte sich die Hochzeit mit einem Kleinbürger erkämpft, was deren Vater, Hüttenwerker und überzeugter Sozialdemokrat, gar nicht gerne sah. Jedoch spätestens nach der Geburt von Lisa ergab er sich in sein Opadasein mit einem bürgerlichen Schwiegersohn. Ihre Mutter betreibt eine Wirtschaft, doch mit dem Ersten Weltkrieg bricht das Unheil für die kleine Familie ein und der Vater wird in den Krieg berufen. Von nun an musste sich die Mutter mit Lisa und ihren drei Geschwistern alleine durchschlagen, denn der Vater kehrte aus diesem Krieg nicht zurück.

Der Autor hat einen besonders schönen Stil gefunden, diese in Geschichte, die wie eine Familienbiografie anmutet, niederzuschreiben und zu erzählen. Eigentlich wird die Geschichte aus der Perspektive von Bertis Sohn erzählt. Doch dem stehen nur zwei Kapitel zur Verfügung: der Anfang und am Ende der Epilog. Erst im Epilog erfährt der Leser, wie der Erzähler, der ja gar nicht alles miterlebt haben kann, an die Informationen über seine Familie gelangte. Dazwischen wird das gesamte Buch von einem auktorialen Erzähler vermittelt. Über Jugendzeit und Kindheit der beiden Protagonisten Lisa und Berti bis weit in die erste Ehe hinein verläuft die Handlung beider bis zur Hälfte des Buches separat und parallel voneinander. Man erfährt vom Aufwachsen beider über die grausamen Umstände mit denen sie fertigwerden mussten, auch die schönen Momente, die sie im Leben hatten. Man erfährt, wie Lisa einen Menschen heiratet, obwohl sie ihn vielleicht nicht liebte, aber der ihr ein Zuhause bot, und den sie bis über seinen Tod hinaus respektierte. Man erfährt auch von Berti, dass er eigentlich kein Schläger werden wollte. Aber dass er doch ein großes Stück seines Lebens in diesem Waisenhaus verbrachte und sich dort durchsetzen musste, was wiederum dazu führte, dass er sehr wohl austragen konnte, um sich zu verteidigen.

In teils humorvollen Episoden werden viele Lebensabschnitte dieser beiden Personen geschildert. Der aufmerksame Leser wird erwarten, dass sich die Wege von Lisa und Berti irgendwann einmal treffen müssen. Sie werden auch einen gemeinsamen Weg beschreiten. Nahezu anrührend wird das Bemühen der beiden umeinander aufgezeigt.

Der sehr authentisch wirkende Roman ist ein Musterbeispiel für alle diejenigen, die sich berufen fühlen, aus ihrem eigenen Leben oder aus dem Leben naher Verwandter berichten zu müssen. Es gibt sehr viele Lebensgeschichten, sehr viele Lebensberichte aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges und davor. Aber meistens sind diese Berichte Tatsachenberichte, die einfach und schnörkellos erzählt werden. Als solche lassen sie jedoch oft die Spannung vermissen. Dem ist nicht so bei dem vorliegenden Roman. Dieser Roman ist dramaturgisch inszeniert, auch wenn viele Elemente davon autobiografisch oder biografisch sein sollten, ist zu spüren, dass an der Dramaturgie gefeilt wurde, damit die Leser nicht nur an die Informationen gelangen, sondern auch noch Spaß dabei haben. Ein einfühlsamer, bewegender Roman mit einem Ende, wie es sie auch geben mag. Von mir gibt es dafür fünf Sterne.

Kordon, Klaus
Das Karussell
Hardcover
Beltz & Gelberg, Weinheim
ISBN-10: 3407811144
ISBN-13: 978-3407811141

© Detlef Knut, Düsseldorf 2013

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