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Schlagwort: Heimatlos

Irmgard Keun: Kind aller Länder

Irmgard Keun: Kind aller Länder

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Eine abenteuerliche Reise…

Dieser wieder aufgelegte Roman von Irmgard Keun aus dem Jahr 1938 ist eine Neuentdeckung für alle jene, die das Nazireich nicht miterlebt haben.

Spontan beginnt die Geschichte der kleinen zehnjährigen Kully, als sie sich zu ihrem Leben in Hotels äußert. Dorthin nämlich verschlägt es sie in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer wieder: nach Brüssel, dann nach Ostende, Nizza, bis Amerika, nach Holland und wo nicht noch überall hin.

Sie lebt mit ihrer Mutter ständig in Geldnot, während ihr Vater, ein Schriftsteller, von Land zu Land reist, um bei diversen Verlegern Geld aufzutreiben. Er trinkt, er prasst und er vertröstet alle: seine Frau, seine Tochter und die zahlreichen Schuldner, die ihm immer auf den Fersen bleiben. Geflohen ist die Familie aus Deutschland, als Hitler sein Zerstörungswerk an den Juden und progressiven Denkern begann und zu immer neuen Auswüchsen trieb. Das Leben auf der Flucht von Ort zu Ort, heimatlos und verloren, fasst Irmgard Keun in die naiven Sätze und Worte der kleinen Kully. Diese spricht kindlich, denkt nach und lässt uns an ihren unvergorenen Vorstellungen über die Welt und die Welt der Erwachsenen in einfachen Worten teilhaben.

Wie sollte ein Kind damit fertig werden, das sich ständig von Verfolgern umringt sah, und das in einfachen Worten die Scham beschreibt, die es ergriffen hat, wenn Kellner und Hoteliers sie loswerden wollten? Die Geldnot zwang zu Hunger und ständiger Lügerei mit der stillen Hoffnung auf Versprechungen des Vaters, dass er sie schon bald mit einer großen Summe freikaufen würde.

Gerade die naive Sprechweise und der unschuldige Blick des Kindes öffnen den Blick auf die Grausamkeit von Vertreibung und Not, von Kälte und Armut ohne Perspektive für das Weiterkommen. Da muss die Kleine in einem Kaffee ausharren, weil der Vater sie erst des Abends wieder abholt. Sie weiß nicht, ob er denn wirklich kommen wird. Sein Verhalten ist so unzuverlässig und vage, dass das Kind sich oft verlassen und vergessen vorkommen muss. Die Mutter weint viel und bedarf häufig selber des Trostes. Auch reisen sie sehr plötzlich immer wieder von irgendwo ab, ohne dass das Ziel oder Warum ersichtlich wird. Der Vater organisiert die Reisen, aber man weiß zuweilen nicht, wo er selber denn nun steckt.

Die kurzen Sätze mit dem naiven Unterton kindlichen Denkens und den Folgerungen, die das Kind aus seinen Beobachtungen zieht, sind sehr anrührend.

Nichts klingt larmoyant oder altklug.

Das Sprichwort „Kindermund tut Wahrheit kund“ scheint sich hier zu bestätigen. Wie soll man das Verhalten Erwachsener verstehen, wenn man noch klein ist, und die Welt voller Geheimnisse steckt? Das Leben für Kully war ein Herumzigeunern mit unbekanntem Ziel und Sinn. Die Autorin hat sich die Sichtweise eines herumgestoßenen Kindes zueigen gemacht. Da darf man vieles sagen, was die Erwachsenen nicht äußern, auch weil sie dem ständigen Überleben selber ausgesetzt sind und dem Kind nichts erklären wollen. Das Kind bleibt mit seinen Träumen und Ängsten sich selbst überlassen.

Irmgard Keun gehörte selber zu den Flüchtlingen aus Hitler Deutschland, in dem für Juden und Andersdenkende keines Bleibens mehr war. In Ostende hatte Irmgard Keun eine Affäre mit Joseph Roth. In diesem Buch mag man sich an das Paar erinnern, das, immer auf der Suche nach Unterkunft und Nahrung, heimatlos geworden waren.

Irmgard Keun
Kind aller Länder
224 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, Februar 2016
ISBN-10: 346204897X
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Shida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran

Shida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran

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Verlassene Heimat.

1979 wurde der Schah von Persien aus Teheran vertrieben, und durch eine Revolution, die vom Volke aus ging, gelangten die Mullahs an die Macht. Doch alle Hoffnungen auf Freiheit zerschlugen sich im Terror unter der neuen Herrschaft. Viele Freiheitskämpfer sahen sich zur Flucht aus dem Land gezwungen. Hier setzt der Roman von Shida Bazyar ein: ihr Held Behsad, dem Kommunismus verbunden, flieht und mit ihm seine geliebte Frau Nahid. In Deutschland leben sie und verfolgen von hier aus die Entwicklung in ihrem Orientgeknechteten Land. Behsad ist nach eigenem Bekunden Atheist. Menschen mit dieser Denkungsart können in einem Gottesstaat nicht leben, da sie sich damit der Verfolgung und dem Tod aussetzen.

1989 erleben wir Behsad mit seiner Frau und mehreren Kindern in Deutschland wieder. Hier ist man frei, hier darf man Brecht und andere linke Autoren lesen.

Über die Kinderbücher von Erich Kästner lernt man Deutsch und erfährt etwas über das Land, das ein Nazireich hervorgebracht hat.

Geheimnisvoll und in Andeutungen verläuft die Erzählung, die zu Beginn den Zauber des Orients atmet. In Deutschland erwarten die Flüchtlinge andere Sitten und eine andere Kultur. Sie trennt die Familie von den Gebräuchen ihrer Heimat. Behsad und Nahid gehören zu den ersten Emigranten, die ihr Land, das sie lieben, verlassen und in Deutschland ihr Heil suchen. Zurück ließen sie ihren guten Freund Peyman, von dem sie hinfort nur gelegentlich Nachrichten aus der Heimat erhalten.

Die Erzählung verläuft durch geringe Absätze und wenige direkte Reden in einer fast monotonen Weise. Vielleicht aber löst gerade diese Erzählweise Neugierde aus, denn sie unterstreicht die unterschiedliche Denkweise in Religion und Lebensweise der Völker des Orients von denen des Okzidents.

Behsad schaut genau hin und meint, etwas über den Kapitalismus zu lernen. Doch hier gibt es arm und reich, ohne dass die Rechte des Einzelnen eingeschränkt werden.

In Zehnjahresabschnitte wird aus den Augen der Kinder von Behsad und Nahid ein Bild aus dem Leben der Emigration gezeichnet. Die Kinder sind nach und nach assimilierte Deutsche geworden. Die Bindung an die Heimat ist zuletzt nur noch Erinnerung mit einer stillen Sehnsucht nach dem Land ihrer Väter.

Das Buch liest sich nicht leicht, weil die Zeitebenen zuweilen wechseln. Allerdings bekommt man einen Eindruck vom Leben in der Fremde. Kulturen wachsen in ihren eigenen Lebensräumen, und sie zu wechseln bedeutet Verlust, Sehnsucht und Heimweh. Politische Verhältnisse erfordern Anpassungen, die häufig gegen das eigene Gewissen stehen.

Shida Bazyar hat sicher persische Wurzeln, lebt aber schon lange in Deutschland, wo sie auch geboren wurde.

Ihr Buch bietet gerade unter den gegenwärtigen politischen Verwerfungen in Nahost und West einen emotional gewichtigen Beitrag zum Verständnis kultureller, politischer und religiöser Völkerdifferenzen.

Es ist ein eindrucksvolles Buch, das doch eine gewisse Fremdheit im Aufbau und Ausdruck vermittelt.

Shida Bazyar
Nachts ist es leise in Teheran
288 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, Februar 2016
ISBN-10: 3462048910
ISBN-13: 978-3462048919
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David Bezmozgis: Die freie Welt

David Bezmozgis: Die freie Welt

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Warten auf eine bessere Welt!

Die Familie Krasnansky, die aus drei Generationen besteht, sucht aus dem Baltikum den Weg in die freie Welt. Sie sind auf der Flucht vor den Russen, die ihre jüdischen Mitbürger wie in vielen Ländern der Welt verfolgen und vertreiben. Man weiß ja, dass das Baltikum von 1940 bis 1990 von den Russen okkupiert war. Jetzt, 1978, gilt es, sich auf dem Weg über Wien nach Rom durchzuschlagen und irgendwo ein Plätzchen als vorübergehende Bleibe zu finden.

Der Vater von Karl und Alec, Samuel und seine Frau Emma, sind noch ganz dem alten Leben in der Sowjetunion verhaftet. Samuel war und ist überzeugter Kommunist. Sein Sohn Karl, dessen Frau Rosa und die beiden Söhne finden in einer kleinen Wohnung mit den Großeltern Unterschlupf. Man teilt sich zu mehreren Bad und Küche. Samuels jüngerer Sohn Alec sucht unterdessen abseits der Großfamilie eine Bleibe. Er findet sie mit seiner aktuellen Frau Polina bei Sjomka, ebenfalls einem Exilrussen. Die zentrale Frage dreht sich um mögliche Einwanderungsländer. Damit hat es seine Tücken, denn jedes Land hat eigene Einwanderungsbedingungen. Amerika, Australien oder Kanada sind im Gespräch. Doch auch Israel wird von den Großeltern in Betracht gezogen.

In seiner Geschichte zeichnet Bezmozgis das Leben auf der Flucht mit den Eigenheiten jedes Protagonisten in einer Welt, in der nichts sicher und die Zukunft nur vage vorstellbar ist. Man hat aber nicht nur diese unsichere Zukunft vor sich, sondern jeder hat auch schon je nach Alter ein Leben hinter sich. So schweifen die Erinnerungen zurück zu den Zeiten des Krieges, zu frühen Liebesaffären, und man denkt an das karge Leben im Osten und an die mühseligen Versuche, den bösartigen Pogromen zu entgehen. Ein vielschichtiges und lebensnahes Bild jüdischen Lebens ersteht vor dem geistigen Auge des Lesers. Man begreift, wie hart das Leben und Überleben von Juden war, die in aller Welt immer wieder Misstrauen und Ablehnung ertragen mussten. Zugleich wird mit Humor an den Zusammenhalt gemahnt, mit dem allein man überleben konnte. Beziehungen, gute wie schlechte, Verwandtschaftsverhältnisse aber auch gegenseitiger Hass konnten einem das Leben erleichtern oder erschweren. Die Existenz spielt zwischen einem Gestern und Morgen, und die Gegenwart ist voll gepackt mit allem, was einem im Leben auch sonst so passieren kann: betrogene Liebe, Alter und Tod. Teils melancholisch und teilweise komisch sind die Erinnerungen durchmischt mit der Sehnsucht nach einem Ort der Geborgenheit und Heimat. Davon aber ist man auf der Zwischenstation in Rom noch weit entfernt. Eine anrührende und aufschlussreiche Geschichte ist dem Autor gelungen, die wieder einmal tiefe Einblicke in das  jüdische Leben in der Diaspora vermittelt. Man wünscht den Protagonisten die ganze Zeit Erfolg bei der Heimatsuche und einem Leben in Würde!

David Bezmozgis
Die freie Welt
360 Seiten, gebunden
Kiepenheuer & Witsch, Februar 2012
ISBN-10: 3462044028
ISBN-13: 978-3462044027
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