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Schlagwort: Lebensläufe

Julian Barnes: Die einzige Geschichte

Julian Barnes: Die einzige Geschichte

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Julian Barnes führt uns in seiner einzigartigen Erzählweise die Geschichte seines Icherzählers und dessen erster großer Liebe vor.

Auf dem Tennisplatz, wohin Paul im Alter von 19 Jahren auf Drängeln seiner Mutter zur Ausschau nach einer geeigneten Partnerin fürs Leben geschickt wurde, lernt er die zwanzig Jahre ältere Susan kennen.

Paul lebt mit seinen Eltern in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einer bürgerlichen Siedlung südlich von London in Gemeinschaft mit saturierten Bürgern der Mittelschicht.

Paul ist reichlich angeödet von dem englischen, prüden und langweiligen Milieu, in dem er aufwuchs, und das ihn nach dem ersten Studiensemester noch mehr auf die Nerven geht. Seine pauschale Bezeichnung für die Kinder dieser Schicht sind Hugos und Carolines, die nur darauf warten, in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten. Dort gibt es dann die obligatorische Eheschließung, Kinder, Hund und Haus.

Paul aber sucht anderes und rebelliert gegen die Vorgaben seiner Eltern.

In Susan findet er den Gegenpart zum Spießerleben seiner Umgebung. Sie hat Mann und Töchter, die sogar älter als Paul sind, ist lustig, lebt dem Augenblick, und freut sich an ihrer gemeinsamen Liebe. Ihr sexuelles Eheleben ist schon lange erloschen. Umso euphorischer ist die Erkenntnis, dass sie von ihrem jungen Liebhaber als anziehend und liebenswert empfunden wird. Leider bleibt die Zeit nicht stehen, nie, und so verliert sich die Geschichte nach und nach in einer tragischen Lebensform. Susan trennt sich von Mann und Kindern und lebt mit Paul zusammen. Er vollendet sein Jurastudium. Die Leidenschaft der Anfangszeit weicht bald einem langweiligen Alltag.

Beide wollen das lange nicht wahrhaben und klammern sich an die Erinnerung ihrer frühen ersten Begegnung.

Daneben ereignet sich eine innere Wandlung, die in erschütternder Weise Susan als innerlich leer und dem Alkohol verfallende Frau zeigt. Der Alltag spielt nun bald keine Rolle mehr. Barnes geht in die Tiefe und versucht vergeblich zu ergründen, was zu der entgleisenden Entwicklung beigetragen haben könnte. Paul ist gewissenhaft und hilft noch lange, wo und wie er kann, gibt aber schließlich auf.

Die Mischung aus Alltagsgeschichten und Beleuchtung des spießigen Bürgertums mit Ausflügen in philosophische Gedankenwelten sind es, die uns die Geschichte nahebringt, zu eigenem Nachdenken reizt und von tiefer Weisheit zeugt. Die nach und nach enthüllende Leere zwischen dem Paar lässt keine Hoffnung keimen.

In einem dritten Teil des Romans zieht Paul seiner Wege und lebt in Zukunft ein einsames Leben. Eine neue Liebesgeschichte ist nach kurzen Versuchen nicht in Sicht.

Julian Barnes wäre nicht der Schriftsteller von Weltruf, wenn er seine Geschichte nicht mit Erkenntnissen, Weisheiten, Reflexionen und der Darstellung momentaner Gefühlslagen gespickt hätte. Poetisch und brillant sind seine Stimmungsbilder, mit denen er äußere und innere Befindlichkeiten ans Licht bringt. Man ist tief bewegt und angerührt darüber, wie Lebenswege verlaufen können. Was ist determiniert, und was selbst verschuldet? Die Frage nach der Schuld stellt sich nicht. Es wird seziert und wiedergegeben, was passiert. Fazit: Lebensläufe werden von unerwarteten äußeren und inneren Entwicklungen mitbestimmt.

Am Ende erfahren wir eine resignierte Weltsicht, nüchtern und ohne Zukunftsvision oder Hoffnung.

Was bleibt ist die Erkenntnis, dass hier ein Autor wirklich viel vom Leben und von seinen Höhen und Tiefen versteht und dieses Wissen in geeigneter Form dem Leser zu vermitteln versteht. Dr Bogen von erster Liebe bis zum Aus ist weit gespannt und fasziniert von der ersten bis zur letzten Zeile!

Julian Barnes
Die einzige Geschichte
304 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, Februar 2019
ISBN-10: 3462051547
ISBN-13: 978-3462051544
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Der Körper meines Lebens

Der Körper meines Lebens

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Des Lebens Fülle!

In einer seltenen Erzählform berichtet Daniel Pennac vom Leben seines Helden, der seine körperlichen Entwicklungen zum Leitmotiv aller seiner Erinnerungen macht. Seine Eintragungen beginnen kurz vor dem Zweiten Weltkrieg im Alter von 12 Jahren und enden mit seinem 87. Lebensjahr.

Wie muss man sich das vorstellen?

Jahr und Tag und Alter bilden die jeweilige Überschrift zu den Aufzeichnungen.

Erstaunlich genug gibt es zahlreiche körperliche Erfahrungen, die dem Erzähler erwähnenswert erscheinen. Angefangen von den Gerüchen, den Ausscheidungen, den immer wieder assoziierten Erinnerungen an die erste Kinderfrau bis hin zu den körperlichen Ertüchtigungen im Jungenalter lassen sich viele Geschichten erzählen. Natürlich gehören erste Sexgelüste und die ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht zu den erinnerungsträchtigsten Geschichten.

Hormone steuern unser Verhalten und tragen zu unserer Charakterentwicklung bei. Erst mit diesem Roman wird einem so recht bewusst, welche Bedeutung dem Körper und der körperlichen Entwicklung beim Verfassen von Lebenserinnerungen zukommen kann. Poetisch, sensibel und feinfühlig, zuweilen allerdings auch drastisch bis deftig erleben wir einen Mann, der sich seiner Ängste nicht schämt und der ein feines Gespür für die Wechselwirkung zwischen den Funktionen von Körper und Geist hat. Erste Lieben, schließlich die Frau fürs Leben und die Geburten seiner Kinder und Kindeskinder bieten einen ebenso intimen Blick in die Seele unseres Helden wie körperliche Leiden, die ihn plagen. Er scheut nicht die Fäkaliensprache und die narzisstischen Genüsse, die auch von diesen Ausscheidungen ausgehen können. Als schönstes Beispiel dafür gilt die Geschichte von den Blähungen, die einem beim Verdrängen in den Himmel katapultieren könnten und beim Entweichung zur Bruchlandung führen würden.

„Ich sagte ihnen, zurückgehaltene Winde könnten der Gesundheit schaden. Warum? Weil, wenn wir unseren Körper sich mit Gas füllen lassen, Kinder, also dann steigen wir hoch in die Luft, wie ein Ballon. Darum!“ S. 427

Das Lebensbild ist komplett und eindringlich in seiner Ausdruckskraft. Tiefschürfend und einfühlsam, liebevoll, zärtlich und hintergründig erzählt uns Pennac von den Wechselfällen des Lebens und seinen Folgen; vom Aufwachsen, Älterwerden und dem Tod, von der Liebe, der Hoffnung und der Vergänglichkeit: alles zusammen macht unseren Lebenszyklus aus.

Überraschend für den Leser bleibt bei allen deftigen Beschreibungen der Eindruck einer gewissen Vornehmheit im Denken. Zuweilen meint man: muss das alles so ausgesprochen werden? Und dann merkt man: ja, das muss so ausgesprochen werden. Denn hier geht es um Körper und Geist, und das Eine ist ohne das Andere nicht denkbar. Vom Beginn bis zum Ende unseres Lebens sind wir mit unserer Körperlichkeit befasst. Sie kann uns höchstes Glück, Freude, Schmerz und Leiden bescheren.

Zuletzt bekommt man der Eindruck, dass der Autor Gefühle und Wahrnehmungen in unnachahmlicher Weise thematisiert hat. In der Tat ist da eine Spur zu Proust zu ahnen.

Daniel Pennac lebt in Paris, wo er sich der Schriftstellerei widmet und schöngeistigen Beschäftigungen nachgeht.

Daniel Pennac
Der Körper meines Lebens
448 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, April 2014
ISBN-10: 3462046195
ISBN-13: 978-3462046199
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Husch Josten: Das Glück von Frau Pfeiffer

Husch Josten: Das Glück von Frau Pfeiffer

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Hohes Alter und makabere Taten…

Was erwartet den Leser wohl in dem auf dem Deckblatt des Umschlags abgebildeten Haus?

Auf jeden Fall haben wir es mit einer kuriosen Geschichte zu tun.

Lee Curtin, Tochter aus begütertem Elternhaus, betätigt sich in London als eine Art Voyeurin von Handygesprächen. Sie hört die unsinnigen Reden, die allenthalben und an allen Orten per Handy geführt werden. Die blödsinnigen Gespräche, unwichtig und nichtig, schreibt sie alle protokollarisch auf. Man kann es ihr nachfühlen: wie häufig ist man selber Zeuge von Privatem, wenn Menschen auf der Strasse, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, im Kaffee und von überall her ihre einseitigen Reden führen. Doch eines Tages hört Lee ein Gespräch mit, das sie alarmiert. Sie hat sofort den Eindruck, dass da jemand eine uralte Frau ihrem Schicksal überlassen will.

Bruno, Lees Freund in langen Jahren, ist gerade aus Amerika zurückgekehrt. Er ist Künstler und auf gewisse Art und Weise bindungsunfähig. Seine langjährige Freundschaft zu Lee ist ihm umso wichtiger. Sie teilt ihm ihren Verdacht um das belauschte Gespräch mit. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach einer in dem Gespräch erwähnten Frau Pfeiffer, ein zunächst recht aussichtsloses Unterfangen. Doch sie finden sie, und eine sehr amüsante Geschichte nimmt ihren Lauf. Frau Pfeiffer ist 99 Jahre alt und wird von ihrem alten Faktotum Emma betreut. Die beiden alten Damen zusammen mit dem jungen Paar geben den Plot zu einer Handlung, die in ihrer Komik und Alterweisheit bemerkenswert ist.

Es stellt sich heraus, dass Frau Pfeiffer gezielt nach Menschen gesucht hat, die ihr bei einem sehr ungewöhnlichen Unterfangen helfen sollen. Schließlich spürt man, dass Frau Pfeiffer eine weise alte Frau ist, die mit den vergleichsweise jungen Leuten Gespräche über das Leben hier und heute führt und ihnen gelegentlich gehörig die Meinung sagt. Sie weiß, wie das Leben so spielt und weist Lee darauf hin, was die Antriebsfeder für ihr sonderbares Verhalten wie z.B. ihre Scheidung, ihre Tätigkeiten und die Freundschaft zu Bruno sein könnte. Alles dreht sich schließlich um den Sinn und das Sein, in dem so manch’ einer die Orientierung verliert. Lees geschiedener Mann ist während der Finanzkrise gefeuert worden und kehrt genauso ratlos nach London zurück wie vor kurzem schon Bruno aus Amerika.

Komisch, makaber und äußerst witzig in Szene gesetzt folgt man einer Geschichte mit surrealem Hintergrund.

Die subtile Erzählweise lässt die Hintergrundgeschichten erst nach und nach aufleuchten und man hat seine liebe Müh’, zu erraten, was Frau Pfeiffer mit all’ ihrem Tun denn eigentlich im Schilde führt.

Das exzentrische Vierergespann bildet den Plot zu einer Geschichte, die neben dem witzigen Hauptereignis unsere Gegenwart und so manche Zeiterscheinung infrage stellt.

Amüsant und unterhaltsam weiß Husch Josten über Land und Leute, über Gegenwart und Vergangenheit zu erzählen. Läuft nicht am Ende alles auf die Sinnsuche und das Wesentliche im Leben hinaus?

Das Buch lässt eher an einen englischen Erzähler denken denn an eine deutsche Erzählerin. Die Komik und die Weltläufigkeit der Handlung vermitteln diesen Eindruck, und ich werte sie als positiv.

Der Leser darf gespannt sein und wird seine helle Freude an dem makaberen Sujet dieser Erzählung haben.

Husch Josten
Das Glück von Frau Pfeiffer
212 Seiten, gebunden
Berlin University Press, Februar 2012
ISBN-10: 3862800245
ISBN-13: 978-3862800247
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