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Schlagwort: Schicksale

Dani Shapiro: Leuchtfeuer

Dani Shapiro: Leuchtfeuer

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Der vorliegende Roman von Dani Shapiro behandelt eine Familiengeschichte mit berührenden Facetten. Die Erzählung wird nicht chronologisch erzählt, sondern sie verläuft in Zeitsprüngen zwischen 1970, 1985 und 2014 bis 2020.

Die Familie lebt in Avalon im Staat New York.
Beginnend mit einem tragischen Autounfall werden wir den Lebenslinien aller betroffenen Personen folgen.

Sarah ist 17 und Theo 15, als der Autounfall vor ihrem Elternhaus ihr Leben total verändert. Wir erfahren sogleich, was sich zugetragen hat, und wer sich schuldig gemacht hat. In einem stillen Übereinkommen wird über den Vorfall eisern geschwiegen.

Wir sehen Jahre später, wie Sarah sich zu einer erfolgreichen Drehbuchvermittlerin-und Produzentin entwickelt hat.
Sie hat Zwillinge und einen Mann Peter, der nicht gar so erfolgreich ist. Von New York ist ihre kleine Familie nach Los Angeles gezogen, wo sie im Kreise mehr oder weniger erfolgreicher Filmleute ihrem Alltag nachgehen.
Es geht ihnen wirtschaftlich gut. Leise deutet sich an, dass Sarah an einem geheimen Kummer leidet, der sie innerlich peinigt und unüberlegte Handlungen auslöst.

Theo ist am Ende seiner Jugend für viele Jahre verschwunden.
Ben und Mimi Wilf, die Eltern, altern über die Jahre. Auch an ihnen zehrt ein Kummer.

Das alltägliche Leben wird mit allen Schattierungen in den Fokus gerückt.
Jede Figur kommt in einem eigenen Kapitel zur Geltung.
Mimi, die fröhliche und glückliche Frau und Mutter, wird am Ende dement sein.

Wenn ein Kapitel endet, gerät für den Augenblick auch die Figur aus den Blick.

Es gibt neben den Wilfs noch eine Familie in der Nachbarschaft, die Shenkmans. Ben hat als Arzt dem kleinen Sohn ins Leben verholfen, als die Notfallhilfe zu spät kam. Der inzwischen zehnjährige Waldo hat eine tiefe Neigung zur Astronomie. Er ist hingerissen von fremden Himmelskörpern und verbringt viel Zeit damit, das Universum zu erforschen. Sein Vater ist streng und versucht, dem Sohn diese Leidenschaft auszutreiben. Später werden Waldo und Ben dem Rahmen der Handlung einen nachdenklichen Schlusspunkt verleihen.

Die Familien sind ihren Ritualen nach jüdische Familien.
Die eigenen Charaktere aller Protagonisten gewinnen durch die Schilderungen von Dani Shapiro Konturen.
Wie sie ihre Geschichte angeht, zeugt von überragender Fähigkeit, Geheimnisse als solche zu belassen. Sie baut Spannung auf, die den Leser fasziniert und irritiert zugleich.

Kleine Begegnungen, Gespräche und Handlungen leuchten kurz auf, um dem großen Ganzen wieder Raum zu geben. Die Nebengeschichten sind wichtig, weil sie den Blick öffnen, um die Lebensschicksale zu beleuchten und zu verstehen. Warum über das Geheimnis, das alle plagt, nicht gesprochen wird, und zu welchen Konsequenzen unausgesprochene Ereignisse mit belastendem Charakter führen können, das führt Dani Shapiro mit klugen Einlassungen aus.

Diese Familiengeschichte umfasst viele Jahre. Vom Beginn des Lebensglücks bis zu ihrem Fortgang und Ende sehen wir, was mit dem Vergehen der Zeit aus allen geworden ist.
Es ist ein faszinierendes Familienporträt.

Dani Shapiro
Leuchtfeuer
hanserblau, Februar 2024
288 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3446279350
ISBN-13: 978-3446279353
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Zeruya Shalev: Schicksal

Zeruya Shalev: Schicksal

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Zeruya Shalev hat die ganz große Begabung, die man ähnlich bei anderen israelischen Schriftstellern wie Amos Oz oder David Großmann findet: aus einer Vielzahl Assoziationen, träumerischen Erinnerungen und Gegenwartserlebnissen ein Geflecht von Beziehungsmustern sichtbar werden zu lassen.

In ihrem neuen Roman „Schicksal“ geht es um zwei Paare: Rachel und Menos und Atara mit Alex.

Rachel und Menos hatten sich 1948 in der Terrororganisation Lechi engagiert, die die Befreiung Israels aus der englischen Mandatsregierung zum Ziel hatte. Menos verschwindet schnell spurlos aus der Geschichte und aus Rachels Leben.

Die Icherzählerin Rachel ist inzwischen an die neunzig Jahre alt, als eine nicht mehr ganz jungen Frau zu ihr kommt. Wie sich herausstellt ist Atara die Tochter von Menos. Sie spürt der Geschichte ihres Vaters und seiner ersten Ehe nach.

Atara ist mit Alex verheiratet und hat mit ihm den gemeinsamen Sohn Eden. Beide hatten schon Kinder aus vorherigen Ehen. Die Beziehungen in dieser Familie sind kompliziert und konfliktträchtig.

So beginnt eine Erzählung, in der es um Krieg, Liebe, Verlust und psychisches Leid geht.

In der Erzählung laufen die Lebensgeschichten von Rachel und Atara parallel. Besonders Letztere ist in einem Netz aus Zweifeln und Selbstzweifeln gefangen. Als ihr Mann Alex sehr plötzlich und unerwartet stirbt, ist die Handlung weitgehend mit ihrem Schicksal und ihrer problematischen Ehe befasst.

Mühsam sind in der Folge die Zeitsprünge zwischen der Staatsgründung und dem späteren Israel. Man spürt die allgegenwärtige Gewalt kriegerischer Handlungen.

Nahe kommt einem in der Beschreibung von Zeruya Shalev die Landschaft, die Städte und das allgemeine politische Klima seit der Staatsgründung 1948, als es noch eine britische Mandatsbesatzung gab. Die Verfolgung, der Holocaust und die Jahrhunderte währende Ghettoisierung haben die Bewohner Israels zu Überlebenskünstlern und Kämpfern gemacht, die sich nie wieder einem Untergang ergeben werden.

Wenn der Roman auch zu Anfang interessante Einblicke in das Leben, die Geschichte und das Schicksals Israels verspricht, so kommt im Laufe der Erzählung Langweile auf. Zu wenig stringent und zu ausschweifend verliert sich die Autorin in langatmigen Schilderungen über die innerlichen Befindlichkeiten ihrer Protagonisten. Bei einer Autofahrt zu Rachel erlebt Atara lange Verzweiflungsausbrüche und unendliche Gefühlsberichte über ihre innere Zerrissenheit. Irgendwann fühlt man Überdruss, weil rein gar nichts vorangeht. Die Sprache ist schön, ästhetisch und ausdrucksvoll, gelegentlich fast biblisch; sie reicht aber nicht, den Roman zu einem anhaltend interessanten Leseerlebnis werden zu lassen.

Vom Ansatz her geht es um ein interessantes Familiengeflecht mit vielen Irrungen und Wirrungen, Enttäuschungen und Verlusten. Die Schilderung der Beziehungsdramen und Ataras Anklagen gegen sich und andere machen den Roman zu einem Stück tragischer Familiengeschichte.

Wer an dieser Art Psychodrama interessiert ist und ganz allgemein am Leben in Israel gerne teilnimmt, wird auf seine Kosten kommen.

Die Übersetzung von Anne Birkenheuer wird allenthalben als große Leistung gewürdigt.

Zeruya Shalev
Schicksal
Berlin Verlag: 2. Edition, Mai 2021
416 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3827011868
ISBN-13: 978-3827011862
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Simone Lappert: Der Sprung

Simone Lappert: Der Sprung

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Eine Frau Steht auf dem Dach eines Hauses in einer mittelgroßen Kleinstadt. Sie wird entdeckt von Menschen, die sie kennen und von anderen, die sich fürchten vor dem, was da kommen mag. 

In einer Reihe von literarischen Porträts der Zuschauer des aufregenden und beängstigenden Vorgangs erfährt man, wie ein jeder sein Leben lebt. Durch die Dramatik des Spektakels verlieren einige das innere Gleichgewicht. Andere sind eher sensationslüstern, erleben das Ganze als Nervenkitzel, das sie aus dem öden Alltag reißt.

Ja, diese Frau will offensichtlich Suizid begehen.

Klug aufgebaut macht uns die Autorin bekannt mit dem, was ein Kleinstadtleben ausmacht. Jeder hat sein eigenes Schicksal. Glück und Unglück, Eintönigkeit und Langeweile liegen nahe beieinander. Aber ein Einsatz wie den, den die Frau auf dem Dach bei Polizei und Feuerwehr auslöst, findet man nicht alle Tage. Schlagartig beleuchtet das Schicksal von Manu, so heißt die Frau auf dem Dach, auch die Schicksale der anderen. In einzelnen Kapiteln wird jeder/ jede in seinem Umfeld beobachtet.

Der Polizist wird früh morgens zum Einsatz gerufen, gerade als er sich überlegt, wie er sich seiner Frau verständlich machen könnte, die sich über sein ständiges Schweigen beschwert hat.

Finn bewundert seine Freundin, die Frau auf dem Dach, für ihre gärtnerischen Fähigkeiten und ihre Naturliebe.
Seine Äußerung „Ich kenne wirklich niemanden, der so ist wie du“ und ihre Antwort „Trifft das nicht auf jeden zu, dem man begegnet“ (S. 43) stehen in ihrer Einfachheit fast als Beispiel für alle Begegnungen in dem Roman.
Es sind zahlreiche Figuren, auf die man trifft. Fast möchte man meinen, eine jede Romanfigur gleicht in ihrer Darstellung einer eigenen kleinen abgeschlossenen Erzählung.
Doch eines treibt alle, auch den Leser, an: wie wird die Geschichte weitergehen, wie wird sie ausgehen?

Mit ihrer lebensklugen und feinen Beobachtungsgabe wird der Leser von Simone Lappert mitgenommen auf eine Reise ins Ungewisse. Der Alltag ringsum, und die Entwicklungen, die sich beim Lesen auftun, nehmen einen ganz gefangen. Bei einigen gibt es nur die Öde und Langeweile, die sie zu Zuschauern der Schauergeschichte machen. Denn Manu schmeißt auch noch mit Ziegeln um sich. Neugierde und Sensationslust füllt rundum die Straßen und Gaststätten mit Gaffern und Zuschauern. Simone Lappert gewährt einen Blick hinter die Kulissen des schönen Scheins. Aufgewühlt durch die Nähe des möglichen Suizids brechen Familienkonflikte auf und schwelende Wut, Eifersucht und gelegentlich auch Einsicht bringen die Menschen aus dem Gleichgewicht. Die Autorin wählt mir ihrer Darstellung das Soziogramm eines kleinen Bezirks der Stadt, in der die festgefügte Ordnung zwischen Freunden, Verwandten und losen Beziehungen innerhalb weniger Tage aufbricht.

Der Roman bietet Spannung pur ohne mit einer gewissen Ruhe im Detailreichtum der Geschichten einzelner für den Ausgleich zu sorgen, mit dem man sich geduldig dem Ende nähert. 

Sehr lesenswert!

Simone Lappert
Der Sprung
336 Seiten, gebunden
Diogenes, August 2019
ISBN-10: 3257070748
ISBN-13: 978-3257070743
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Anna Enquist: Denn es will Abend werden

Anna Enquist: Denn es will Abend werden

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In geheimnisvoller Weise führt uns Anna Enquist auf die Spuren eines Streichquartetts, dessen Mitglieder durch einen dramatischen Überfall und Unfall auseinandergerissen wurden. Holland ist der Ort des Geschehens.
Carolien ist die Hauptprotagonistin, aus deren Blickwinkel die Geschichte aufgerollt wird.

Sie hat durch den besagten Überfall einen kleinen Finger verloren und will keinesfalls mehr ihr Instrument, das Cello, anrühren. Auch ihrem Beruf als Ärztin glaubt sie nicht mehr nachgehen zu können. Ihr Mann Jochem, ein Instrumentenbauer, hat sich in ein Atelier verkrochen, in dem er sich mit vielerlei Sicherheitsvorkehrungen eingeigelt hat. Diese beiden scheint der Unfall ganz aus dem Gleise geworfen zu haben. Am wenigsten hört man von Heleen. Hugo, der Bootsbesitzer, dessen Boot bei dem Überfall in die Luft gesprengt wurde, hat sich als Konzertmanager nach China abgesetzt.
Dorthin führt dann auch eine Reise von Carolien, die damit ihrer Trauer zu entfliehen hofft. Die Chinaeindrücke beherrschen denn auch lange die ganze Geschichte.

Die Autorin umkreist ihr Sujet, und nur aus Andeutungen lässt sich die Geschichte nach und nach rekonstruieren. Alle sind sich fremd geworden und können keinen Gedankenaustausch finden. Gab es da nicht sogar Kinder von Carolien und Jochem? Darüber wissen wir gar nichts.

Wir tappen lange im Dunkeln, bis wir allmählich verstehen, dass besonders Carolien und Jochem doppelte Traumata zu verarbeiten haben.

Die Unfälle sind m.E. ein wenig zu zahlreich und drastisch aufgetragen. Wie die Fische im Wasser ziehen alle ihre eigenen Bahnen, um dem Unheil der Erinnerung zu entkommen. Man folgt gebannt den einzelnen Begegnungen, Handlungen und Gesprächen, um die Zusammenhänge zu verstehen. Charaktere sind unterschiedlich, und genauso unterschiedlich sind ihre Verarbeitungsstrategien. Missverständnisse, Naivität, mangelndes Selbstwertgefühl nach dem vorübergehenden Verlust der Selbstbestimmung und tiefe Ohnmachstgefühle bei einigen zeigen, was Schicksalsschläge aus Menschen machen können.

Die Atmosphäre, die in dem Roman beschrieben wird, ist melancholisch bis ängstlich-depressiv.
Wie werden die Beteiligten nur aus diesem Drama herauskommen?
Die Autorin zeigt uns mit ihrem Erzählstil, wie es um die Seelen ihrer Protagonisten bestellt ist.

Die Sprache ist subtil und differenziert, so dass man lange gefesselt bleibt.
Das Ende ist überraschend und sehr unerwartet aber gekonnt aus dem Wissen einer Therapeutin entwickelt.
Ein solches Ende erwartete man nicht. Es könnte leicht kitschig wirken, entgeht diesem Klischee aber knapp.

Anna Enquist ist neben ihrer Schriftstellerarbeit Psychoanalytikerin. Man merkt ihrem Roman an, dass sie sich aus langen Jahren der Erfahrungen mit den Ängsten, Sorgen und Nöten von traumatisierten Patienten gut auskennt.
Sie lebt in Amsterdam.

Anna Enquist
Denn es will Abend werden
288 Seiten, gebunden
Verlag: Luchterhand Literaturverlag, Juni 2019
ISBN-10: 3630876048
ISBN-13: 978-3630876047
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James Salter: Charisma

James Salter: Charisma

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Der im Jahr 2015 verstorbene Schriftsteller James Salter war ein wunderbarer Erzähler. Das stellte sich heraus, als er seine Karriere als Pilot der Air Force im Koreakrieg aufgegeben hatte. Er hat so wunderbare Romane geschrieben wie „Lichtjahre“ und „Alles, was ist“.

In diesem vom Berlin Verlag neu aufgelegten Band sind alle seine Erzählungen zusammengefasst. Im Anhang findet man drei Vorlesungen über Literatur.

Ob es sich um Familien, Zerfall menschlicher Beziehungen oder die Freude und das Glück handelt, ob es um Einzelschicksale oder Freundschaften geht: eine jede Geschichte ist ein Roman für sich.

Salter berichtet von gewöhnlichen Ereignisse aus dem Alltag. Er erzählt über vielerlei Begegnungen, er spricht über die Liebe, die das Leben mitbestimmt, und über schicksalhafte Wendungen, die unser Erdendasein beschweren können. Dazu gehören Familiendramen aller Art.

Das Leben ist kompliziert, und diese einfachsten Lebensgeschichten tragen romanhafte Züge. Sie in feinen Szenen einzufangen, ist das große Können dieses großartig beobachtenden Autors. Geschichten von großer Einfachheit mit einem Glanz zu versehen, dass man sich hineingezogen und in gebannt geschlagen fühlt, wird in einfachen Sätzen heraufbeschworen.

Erzählungen sind oftmals nicht leicht zu besprechen, weil immer nur Eindrücke über kürzere Zeiträume abgehandelt werden. Im Kontrast zu ganzen Romanen gibt es keinen einheitlichen Handlungsstrang. Und doch: auch und gerade Erzählungen bieten dem geneigten Leser die Chance, etwas über das Leben zu erfahren, ohne sich der Prozedur eines langen Lesevorgangs hingeben zu müssen. Ich fange an, sie zu mögen.

James Salter
Charisma
368 Seiten, gebunden
Berlin Verlag, Dezember 2016
ISBN-10: 3827013275
ISBN-13: 978-3827013279
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Cora Stephan: Ab heute heiße ich Margo

Cora Stephan: Ab heute heiße ich Margo

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Weit ist der Bogen gespannt…

Verpackt in eine Familiengeschichte mit mehreren Hauptfiguren und deren berührender Vergangenheit erzählt Cora Stephan in ihrem neuen Roman noch einmal von der Nazizeit und den wechselnden geschichtlichen Strömungen in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts.

Der Bogen wird weit gespannt: er reicht von der Nazizeit über die Schrecken des Krieges und Kriegsendes bis zu den Verbrechen in der DDR, zum westdeutschen Wirtschaftswunder und zuletzt zum Ende des 20. Jahrhunderts in eine neue Zeit.

Die Ereignisse beginnen in den dreißiger Jahren in Stendal.

Margarete Hegewald, genannt Margo, kommt aus einer einfachen Familie mit einer Schwester, einem tyrannischen Vater und einer verschüchterten Mutter. Sie verlässt die Schule mit ca 17 Jahren und beginnt in einem Fotogeschäft zu arbeiten. Im Fotogeschäft lernt sie die erfahrene und hübsche Helene kennen, eine Fotografin, die schon im spanischen Bürgerkrieg zwischen alle Fronten geraten war. Beide Mädchen verlieben sich in den schlesischen Adligen und Diplomaten Alard von Sedlitz.

Die Jahre schreiten fort und mit ihnen die Auswüchse von Hitlers Macht und Kriegstreiberei. Die Atmosphäre um die Figuren herum erscheint konspirativ. Wer ist auf wessen Seite?

Voller Spannung und im Detail sehr lebensnah steigert Cora Stephan ihre Erzählung. Die äußeren Einflüsse brachten Verhältnisse durcheinander und lösten bei den Figuren mit den verschiedensten Charakteren Irritationen aus. Beziehungen wurden unterminiert, und Freundschaften und Feindschaften verwischten sich. Margo und Helene haben jeweils besondere Rollen in dem vom Ost -Westkonflikt beherrschten Drama; zum einen als Feindinnen und Rivalinnen um die Liebe zu dem charismatischen Alard und darüber hinaus in ihrem politischen Selbstverständnis. Beide erleben den Einmarsch der Russen in Schlesien. Margo überlebt nur knapp und schwer verletzt die Schikanen durch russische Soldaten, Helene flieht und wird nach Kriegsende aktive Mitarbeiterin bei der Stasi in der DDR. Margo wird eine erfolgreiche Geschäftsfrau in Westdeutschland. Dazwischen spielen Liebschaften und Kindergeburten eine dramatische Rolle.

Cora Stephan versteht ihre Erzählung so anzulegen, dass man sowohl einen absolut wirklichkeitsnahen Eindruck bekommt von den Verhältnissen im Zweiten Weltkrieg und Deutschlands Untergang. Darüber hinaus beschreibt sie gekonnt die unterschiedlichen Strömungen in West- und Ostdeutschland nach Kriegsende. Den Familienverstrickungen und Freundschaftsbeziehungen kommt elementare Bedeutung zu. Töchter und Mütter sind uneins, Liebe und Ablehnung finden sich, Vertrauen steht gegen Lüge, Verrat und Betrug führen zu Misstrauen und Feindschaft. Ohne Unterlass folgt ein Erzählstrang dem nächsten und man bleibt bis zur letzten Seite gespannt, wie sich die Verhältnisse auflösen bzw. zurechtrücken werden. Atmosphärisch wird der Roman den beschriebenen Verhältnissen immer gerecht.

Selten liest man einen so spannenden Roman mit unablässiger Aufmerksamkeit, um zu erfahren, wie alles zusammenhängt und welche Schicksalsschläge und Herausforderungen jeder einzelne für sich verkraften muss. Dennoch bleibt der Faden immer erhalten, so dass einen die Lektüre unaufhörlich weitertreibt. Einen so anhaltend spannenden und zugleich in seiner Diktion unterhaltsamen Roman habe ich lange nicht gelesen.

Cora Stephan
Ab heute heiße ich Margo
640 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, März 2016
ISBN-10: 3462048953
ISBN-13: 978-3462048957
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Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit

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Um es gleich vorweg zu sagen: ich hatte von diesem Autor noch nichts gehört und gelesen. Umso freudiger war meine Überraschung, ihn mit diesem Roman kennenzulernen.

Es handelt sich um die Geschichte dreier Geschwister, die ihre Eltern bei einem Autounfall verloren haben und nun elternlos aufwachsen.

Die Erzählung beginnt schnell, schnörkellos und temporeich und ohne jegliche Sentimentalität. Der Kummer des jüngsten Sohnes Jules über den plötzlichen Verlust der Eltern ist dennoch hautnah nachzuempfinden. Die drei Geschwister wachsen in einem staatlichen Internat nach Jahrgängen getrennt auf. In der Vorgeschichte ist die Familie harmonisch und nett miteinander. Über allem steht eine Mutter, die ein gutes und freundliches Klima geschaffen hat. Die kurzen Urlaube in Frankreich bei der Mutter des Vaters, der Franzose ist, sind malerisch und naturverbunden, die Großmutter aber unbeliebt bei allen Familienmitgliedern. Zurück in München sind sie eine glückliche Familie.

Jules, der Jüngste der drei, ist der Icherzähler, der in langen Passagen das Geschehen bestimmt. Aus seinen Augen betrachtet passieren allerdings ab und zu seltsame Dinge, die er wahrnimmt, ohne sie zu verstehen.

In der Folge des Autounfalls nehmen die Geschwister sehr unterschiedliche Entwicklungen, verlieren sich über lange Zeit ganz aus den Augen, um im fortgeschrittenen Alter nach zahlreichen gelungenen und misslungenen Lebenserfahrungen wieder zusammenzufinden.

Zahlreiche Fragen nach dem Glück werden aufgeworfen. Die Antwort kann nicht anders sein, als sie hier gefunden wird: der Bruder Marty ist erfolgreich, zuverlässig und in seinem Glücksanspruch bescheiden. Zufriedenheit wiegt mehr als das überschäumende Glück. Die Schwester ist exzentrisch und findet nur langsam auf eine ruhige Spur. Jules aber ist der Melancholische, Zögerliche und Ängstliche, der erst nach vielen Umwegen zu sich und seiner großen Liebe findet.

Voller Poesie und malerischen Beschreibungen gerät man ganz in den Sog einer Familiengeschichte, die vielleicht exemplarisch für ähnliche Familienschicksale herhalten könnte.

Benedict Wells weiß seine Geschichte mit unerhörter Spannung zu steigern, so dass keine Minute Leerlauf oder Langeweile aufkommen kann. Reflektiert wird Gegenwart und Vergangenheit herangezogen, um von den Lebenswegen der Geschwister zu berichten. Diese sind voller Liebe, Schmerz und Abschiedskummer, nachdenklich, häufig tragisch und dann wieder von Glücksmomenten durchzogen. Die Phasen von Jugend, Pubertät und Erwachsenwerden unterliegen eigenen Gesetzen, die fürsorglicher Begleitung bedürfen. Hier ist sie nicht gegeben.

Poetisch, weise und klug vermittelt uns der Autor einen Eindruck davon, was Einsamkeit, Trauer und Glück für uns Menschen bedeuten. Die Palette der Erfahrungen ist breit gefächert. Sie bietet eine Ahnung davon, wie das Leben so spielt, welche Anteile wir oder unsere Ahnen an der Entwicklung haben, was vom Schicksal oder dem Zufall mit bestimmt sein könnte, und was unser Werden und Gedeihen prägt.

Alles in Allem ist das ein mitreißender Roman, den man sich nicht entgehen lassen sollte!

Benedict Wells

Vom Ende der Einsamkeit
368 Seiten, gebunden
Diogenes, Februar 2016
ISBN-10: 3257069588
ISBN-13: 978-3257069587
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Anne Tyler: Der leuchtend blaue Faden

Anne Tyler: Der leuchtend blaue Faden

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Familiengeschichten: wen interessieren die nicht?

Gleicht nicht jedes Leben, jede Familiengeschichte einem Roman?

Anne Tyler versteht sich darauf, das Panorama menschlichen Glücks und Leids in einer einfachen Mittelschichtfamilie in Amerika zu erfassen und den Leser in ihre Geschichten mitzunehmen, so dass man sich fast wie ein Besuch bei ihren Protagonisten fühlt.

Abby und Red Whitshank haben ihr gemeinsames Leben um 1959 in Baltimore begonnen. Sie bilden ein Paar in mittleren Lebensjahren.

Eines Abends bekommen sie einen Anruf von ihrem Sohn Denny, der sie mit einer schwer verdaulichen Nachricht konfrontiert.

Mitten in dieses Geschehen des Alltags wird man als Leser hineingezogen.

Alsbald tun sich die einzelnen Kinder mit ihren Gewohnheiten und ihren Eigenarten hervor. Vier Kinder haben die beiden Whitshanks. Der jüngste Spross, Stem genannt, ist kein unmittelbarer Abkömmling.

Red betreibt einen Holzwarenhandel größeren Ausmaßes, und Abby ist Sozialarbeiterin. Sie kümmert sich um alle möglichen Leute, die ihrer Hilfe bedürfen.

Ihre Kinder sind mittlerweile flügge geworden und haben schon eigene Kinder. Ein buntes Treiben tut sich auf. Die Geschwister mit ihren Ehepartnern und Kindern sind so unterschiedlich wie das Leben eben ist. Man hört zu, nimmt teil, leidet mit, wenn etwas nicht so gut geht, und fühlt sich in dieser Familie bald schon zu Hause.

Fast möchte man sich mit Rat und Tat beteiligen.

Und natürlich: niemals ist in Familien alles gut, niemals verlaufen Lebensschicksale ohne Einbrüche. Man muss sich mit jedem Tag und zu jeder Stunde auf gewöhnliche und ungewöhnliche Ereignisse einstellen. Auch Eltern haben ein eigenes Leben, das vor dem ihres Familienlebens mit eigenen Kindern stattgefunden hat. Davon berichtet Anne Tyler in zwei anschließenden Teilen ihres Romans, so dass man erst spät auf die Ursprünge der Beziehungen von Eltern- und Großeltern aufmerksam wird. Auch hier gab es Glück und Leid, schwierige Aufbrüche ins Leben und nicht immer einfache Lebensbedingungen. Immerhin erlebten die Großeltern die große Wirtschaftskrise mit, die mit dem New Yorker Börsenkrach im Jahr 1929 ihren Ausgang nahm.

Gewöhnliche Leben sind nicht immer illuster. Zuweilen finden sich Paare eher zufällig zusammen. Ob die Beziehung dann gut oder schlecht wird, das wird nicht immer durch die Liebe sondern häufig durch Einsicht, Gewöhnung und Beharrungsvermögen entschieden.

Über dieses Auf und Ab in Freude und Leid schreibt Anne Tyler so lebendig und mitteilsam, dass man gar nicht möchte, dass die Geschichten in dem Buch irgendwann aufhören.

Felicitas von Lovenberg beschrieb in der FAZ ihren Eindruck des Buches in dieser Weise. Ihrer Vorstellung kann ich mich nur anschließen!

Anne Tyler

Der leuchtend blaue Faden
452 Seiten, gebunden
Kein & Aber, März 2015
ISBN-10: 303695712X
ISBN-13: 978-3036957128
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Louis Begley: Schmidts Einsicht

Louis Begley: Schmidts Einsicht

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Lebensschicksale!

In seinem neuen Roman hat Louis Begley die Geschichte von Albert Schmidt, dem Protagonisten aus seinen früheren Romanen „About Schmidt“ und „Schmidts Bewährung“, fortgeschrieben. Die Person seines mittlerweile pensionierten Anwalts Schmidt ist laut Sandra Kegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nicht, wie man annehmen könnte, eine Art alter Ego Louis Begleys. Schmidt ist eine eigenständige Person. Er ist kein Jude und zeigt unverhohlen gelegentlich antisemitische Gefühlsregungen.

„Schmidtie“ wird er in Freundeskreisen liebevoll genannt. Er ist inzwischen ein rüstiger Siebziger, früh verwitwet und Vater einer erwachsenen Tochter.

Schmidts Tochter Charlotte ist mit dem von Schmidt verhassten Jon Riker verheiratet, einem in seinen Augen geldgierigen jüdischen Scheusal und Abkömmling zweier wenig erfolgreicher Psychoanalytiker. Das Verhältnis zur Tochter und deren neuer Familie ist verheerend. Charlotte begegnet ihrem Vater nur mit Hass und ständigen Geldforderungen. Zu allem Übel hat Carrie, eine Kellnerin und kurzzeitige junge Geliebte von Schmidt, inzwischen geheiratet und erwartet ein Baby. Schmidt hat sie in weiser Einsicht ziehen lassen, da diese Beziehung nicht von Dauer sein konnte.

Als Vorsitzender einer Stiftung, die ihn rund um die Welt führt, und ehemaliges Mitglied einer gut gehenden Kanzlei ist Schmidt sehr wohlhabend. In Paris trifft er die auch schon etwas ältere aber immer noch attraktive Frau seines einstigen Kollegen Tim. Sie haben eine kurze Affäre, von der sich Schmidt viel verspricht, denn er ist einsam. Doch seine Hoffnungen sind trügerisch wie sich später zeigen wird.

In diesem Zustand treffen wir Schmidt in dem neuen Roman von Louis Begley wieder.

Das Anwaltsmilieu, in dem Louis Begley selber lange Zeit tätig war, ist auch Schmidts Milieu. Hier spielen sich berufliche und menschliche Tragödien ab. Man feiert, isst und trinkt zusammen bei allen möglichen Gelegenheiten. Gute Freundschaften haben sich gebildet, eine origineller als die andere. Große Kanzleien mit ihren Riesenumsätzen und den Aufsteigern zu hoch qualifizierten Anwälten bieten den Nährboden, auf dem der Autor seine menschlichen Figuren agieren lässt.

Der Autor erzählt seine Geschichte so realistisch, dass man gebannt dem Schicksal dieses von Leidenschaften, Unglück und Liebessehnsucht geplagten Mannes folgt. Ein weit verzweigtes Panorama des neuenglischen Geldadels, menschlicher Begierden, Enttäuschungen und Tragödien öffnet unseren Blick für das, was sich hinter den Kulissen der New Yorker Gesellschaft abspielt. Glanzvoll zeigt uns der Autor die geheimen Wünsche und Sehnsüchte seiner Protagonisten. Schmidt ist eine vertraute Gestalt, die uns zum Lebensende hin erneut mit seinem klugen Blick und seinem Wunsch nach Harmonie und erfüllender Liebe nach einer  längeren Zeit innerer Nöte anrührt.

Wie immer sind Begleys Protagonisten durchaus fähig, ihre Schicksale zu reflektieren. Lebendigkeit und Gegenwartsnähe zeichnen den Inhalt der Erzählung aus. Keine ältliche oder melancholische Abgeklärtheit spielt hinein sondern eine leichte, dem Leben zugewandte Wendigkeit, die noch jegliche Zukunftshoffnungen möglich erscheinen lassen.

Geschichten aus dem wirklichen Leben sind es, die uns neugierig machen und uns zu stillen Teilhabern einer Handlung werden lassen. Hier ist das gelungen, und man hofft darauf, dass wir vom Schicksal Schmidts noch mehr erfahren dürfen.

Louis Begley
Schmidts Einsicht
415 Seiten, gebunden
Suhrkamp Verlag
ISBN-10: 3518422502
ISBN-13: 978-3518422502
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