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Schlagwort: Schuld

Hans Platzgumer: Bogners Abgang

Hans Platzgumer: Bogners Abgang

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Nicola Pammer, die in Innsbruck studiert, ist auf dem Weg nach Hause. Eigentlich sollte sie heute Abend nicht mehr nach Bregenz fahren. Sie ist nach einer Geburtstagsparty nicht mehr nüchtern. Und so passiert der Unfall. Sie verliert die Nerven und fährt einfach weiter. Da ein Schaden am Auto entstanden ist, sie hat es von ihrer Mutter geliehen, kann sie den Vorfall nicht verschweigen. Sie findet aber einen Weg, die Sache nicht ganz so dramatisch aussehen zu lassen. Ihre Mutter leitet Schritte ein und lässt das Auto von der Bildfläche verschwinden. Aus den Augen, aus dem Sinn. Doch Nicola kann die Schuld nicht abstreifen.

Damit ist sie nicht allein. Denn der Künstler Andreas Bogner fühlt sich ebenfalls schuldig am Unfall des Kunstkritikers Kurt Niederer. Aus Hass, weil dieser seine Kunst verkannt und ihn zum wiederholten Male öffentlich vorgeführt hat, war er mit einer Schusswaffe hinter ihm her gewesen, die nur geborgt und eigentlich sein neustes Studienobjekt ist. Bogner glaubt, den Unfall verursacht zu haben, denn schließlich hat er Niederer gehörig erschreckt, sodass dieser auf die Straße sprang. Oder ist dieser selbst schuld? Er hat Bogner doch erst so weit gebracht.

Die Ursache für den Autounfall scheint klar zu sein. Doch die Umstände werden im Buch erst nach und nach offengelegt. So verschiebt sich das Bild und die Schuldfrage lässt sich nicht eindeutig klären. Sicher ist, es gibt drei Beteiligte. Jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte. Bogner und Niederer begegneten sich nicht zum ersten Mal. Nicola kommt ihnen dazwischen. Sie weiß jedoch nicht, was sich auf der Straße abgespielt hat. So sucht sie die Schuld ganz allein bei sich. Das weckt Mitgefühl. Bogner mit seinen fragwürdigen Kunstexperimenten erscheint dagegen als recht fragwürdige Gestalt, wobei er hier wahrscheinlich durch Niederer inspiriert ist. Und Niederer macht sich durch seine völlig unsensible Art unbeliebt. Was hat dieser Mann eigentlich für ein Problem?

Ob einer sympathisch ist oder nicht, sagt jedoch nichts über seine Schuld oder Unschuld aus, auch wenn man vielleicht dazu neigen mag, eher der unsympathischen Person die Schuld in die Schuhe zu schieben. Man könnte, was geschehen ist, auf die Umstände schieben. Doch die lassen sich nicht vor Gericht zerren oder im Gefängnis einsperren. Sie können im Höchstfall die Schuld mindern oder erhöhen. Es ist schon interessant zu sehen, zu welchen Gedankengängen das Buch führt. Es ist eine sehr anregende Lektüre. Da es hier nicht um das wahre Leben geht, darf man der Fantasie freien Lauf lassen. Und während man das tut, kommt noch ein anderer Aspekt ins Spiel. Gewissensbisse machen Nicola Pammer und Andreas Bogner zu schaffen. Jeder der beiden geht auf seine Weise damit um.

Rezension von Heike Rau

Hans Platzgumer
Bogners Abgang
144 Seiten, gebunden
Paul Zsolnay Verlag, März 2021
ISBN-10 : 3552072047
ISBN-13 : 978-3552072046
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Sacha Batthyany: Und was hat das alles mit mir zu tun?

Sacha Batthyany: Und was hat das alles mit mir zu tun?

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Sacha Batthyany kommt eines Tages darauf, seiner Familiengeschichte nachzugehen, die in ihrer Entstehungsgeschichte viele Jahrhunderte zurückreicht und dramatische Züge während des dritten Reichs annahm.

Er entstammt einer angesehenen österreich-ungarischen Adelsfamilie, die einige hervorragende Persönlichkeiten und Staatsämtern hervorgebracht hat.

Nicht diese aber interessieren den Autor vordergründig. Er kommt eines Tages darauf, dass eine Großtante die Gräfin Margit Thyssen-Bornemisza war. Sie hatte den Bruder des Großvaters von Sacha geheiratet. Im Gegensatz zu den Batthyanys war sie sagenumwoben reich und ermöglichte ihrem verarmten ungarischen adeligen Mann nach dem Zweiten Weltkrieg ein komfortables Leben.

Eines Tages erfährt Sacha, dass sie an einem Judenmassaker kurz vor dem Ende des Krieges in dem kleinen Ort Rechnitz in Burgendland beteiligt gewesen sein soll. Eine Nachfahrin dieser getöteten Juden ist Agnes, die Sacha in Buenos Aires aufsucht. Hier beginnt eine Geschichte, die die weitverzweigten Familienereignisse zum Leben erweckt und den Autor auf eine weite Reise in die Vergangenheit führt.

Die Erinnerungen setzen sich aus den verschiedensten Begegnungen und Gesprächen zusammen. Nachforschungen und Reisen in die entferntesten Ecken der Welt ermöglichen die Rekonstruktion des Verbrechens an den Juden im Jahr 1945.

Man liest sich ein in die Konstruktion eines tagebuchartigen Schreibens, in der dieser oder jener fiktiv oder direkt zu Worte kommt. Wie so vielen Nachfahren der Kriegsgeneration ergeht es auch dem Autor: man spricht nicht über die Zeit und über die Verbrechen, durch die das Nazireich zu unrühmlicher Bekanntheit gelangt ist. Man kommt der Wahrheit nur durch beharrliche Nachforschungen auf die Spur.

Teilweise spricht Sacha bei seinem Psychoanalytiker über seine Empfindungen, Erinnerungen und Wahrnehmungen. Dadurch bekommt der Bericht ungewöhnliche Tiefe und zeigt selbstkritische Reflexionen. Den Leitfaden zu seinen Nachforschungen aber bildet das Tagebuch seiner Großmutter.

Es macht ein wenig Mühe, den einzelnen Strängen der Erzählung zu folgen. Den Verbrechen der Nazis sind auf vielfältigen Wegen viele Menschen als Täter oder Opfer erlegen. Dem weitverzweigten Gebilde aus Schuld und Sühne zu folgen, ist die Aufgabe, vor dem man bei der Lektüre dieser Zeilen steht.

Familiengeschichten können spannender sein als ein Roman. Sacha Bhattyanys Geschichte ist so eine Geschichte: warmherzig, wahrhaftig, schrecklich, menschlich und unglaublich!

Sacha Batthyany

Und was hat das alles mit mir zu tun?
256 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, Februar 2016
ISBN-10: 3462048317
ISBN-13: 978-3462048315
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Mirna Funk: Winter Nähe

Mirna Funk: Winter Nähe

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Findet man sein Ich in einer von der Nachkriegs- und Nazischuld geprägten Gesellschaft?

Weit ausholend schildert Mirna Funk das Leben von Lola in Deutschland und Israel.

Lola ist etwa 34 Jahre alt ist.

Sie lebt und arbeitet in Berlin und fühlt sich als Jüdin. Doch sie ist keine! Bekanntlich wird die Religionszugehörigkeit der Juden über die mütterliche Linie weiter gegeben. Ihre jüdischen Großeltern väterlicherseits haben sie aufgezogen. Sie lebt und liebt, ganz, wie es der Tag bringt. Ihre Arbeit als Fotografin im IT Bereich spielt keine große Rolle in dieser Geschichte. Man erfährt mehr über Lolas Liebschaften und ihr Innenleben als über ihre Arbeit.

Einst lernte sie Shlomo kennen, einen Israeli, den sie wirklich liebt. Doch er kehrt nach einer kurzen und glücklichen Zeit nach Israel zurück. Lola trauert ihm nach, so wie in der Vergangenheit ihrem Vater, der schon früh aus Ostberlin geflohen und im australischen Busch gelandet ist. Ihre Mutter hat sich noch früher aus dem Staub gemacht.

Das ständige Dilemma zwischen Schuld, Opfer und Vergänglichkeit in der Berliner Gegenwart begleitet Lolas Leben, und macht sie zuweilen wütend. Schuldangst nennt sie das, was die Menschen noch so viele Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs umtreibt. „Der christliche Wunsch, dass Jesus für die Sünden aller Menschen gestorben wäre, repräsentiert die tiefe Schuldangst der vom Christentum geprägten Gesellschaft.“(S.86)

Wer aber ist Lola, und zu wem darf sie sich zugehörig fühlen? Antisemiten und ehemalige Nazis kreuzen ihren Weg und machen ihr die Ichfindung schwer.

Man findet sie zu Zeiten in Israel und in Thailand, und immer scheint sie auf der Suche zu sein.

Mehr und mehr zieht sich die Geschichte Lolas zu einem allgemeinen Bericht über die Lage der Juden und ihrer Verlorenheit in der Welt zusammen.

Verkappter Antisemitismus mischt sich mit berechtigter Kritik an der Politik Israels im Palästinakonflikt.

Der Roman besticht durch die Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit. Immer wieder reichen die Erfahrungen während des Holocausts bis in die Gegenwart. Sie zeigen die Suche und die Heimatlosigkeit, der sich Juden seither ausgesetzt sehen. Palästina war englisches Mandatsgebiet, als Juden zu tausenden nach dem Krieg dorthin flüchteten. Bis in die heutige Zeit wissen wir von den Streitigkeiten um den Anspruch auf Heimat, der Palästinenser und Juden zu Feinden macht. Jeder in diesen beiden Lagern fühlt sich im Recht. Und Menschen auf beiden Seiten werden zu Opfern und Tätern.

Der Autorin ist ein markantes Werk gelungen, das zahlreiche Aspekte dieses konfliktträchtigen Geschehens tiefenscharf erfasst und heraus arbeitet.

Es ist ein differenziert angelegtes Werk, dem man sich mit zunehmender Spannung überlässt. Mirna Funk hat gerade den Uwe Johnson Förderpreis für das beste deutschsprachige Debüt der letzten zwei Jahre erhalten.

Mirna Funk
Winter Nähe
352 Seiten, gebunden
FISCHER; Auflage, Juli 2015
ISBN-10: 3100024192
ISBN-13: 978-3100024190
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Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken

Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken

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Eine Frage von Schuld und Sühne.

In diesem Roman handelt Gundar-Goshen die Liebe und das Leben ab in einer Weise, die fesselnd und tiefschürfend ist.

Worum geht es?

Etan Grien ist Neurochirurg. Er lebt glücklich und zufrieden mit seiner Frau, einer Polizeikommissarin, und seinen beiden Söhnen in Beer – Scheva. Die Familie bewohnt eine geräumige Villa. Nur die warmen Winde und der Wüstensand bereiten zuweilen Beschwerden. Etan Grien ist ein aufrechter Mann, den man aus Tel Aviv in das hiesige Krankenhaus versetzt hat, weil er allzu rebellisch gegen die Korruption seiner Vorgesetzten vorgegangen ist.

Vom Krankenhaus auf einer abendlichen Fahrt nach Hause fährt er einen illegal hier lebenden Eritreer an. Panik ergreift ihn, als er feststellen muss, dass der Mann tot ist. Was tun? In einer konfusen Reaktion beschließt er, seine Fahrt ohne weitere Rücksichten fortzusetzen. Sein glückliches Familienleben und sein zufriedenes Dasein wären seiner Meinung nach andernfalls abrupt zu Ende. Doch was folgt, ist schlimmer, als er es sich vorstellen konnte. Die Frau des Toten erpresst ihn, sich um andere illegale Flüchtlinge zu kümmern. Fortan muss er ein Doppelleben führen zwischen nächtlichen Behandlungen der kranken und verletzten Flüchtlinge und dem Tagesbetrieb im Krankenhaus seines Alltags. In der Wüste arbeitet er unter schlimmsten Bedingungen in einer alten Werkstatt.

Man wird unweigerlich in den Sog dieser tragischen Geschichte hineingezogen. Wie wird Etan sich aus der Affäre ziehen? Wie lange wird er dieses Leben aufrechterhalten können? Seine seelischen Qualen sind unübersehbar.

Die Autorin Ayelet Gundar-Goshen ist von einer begnadeten psychologischen Weitsicht. Sie lässt ihre Protagonistin Liat, Frau von Etan, sehr genau die Stimmungen und Gefühle ihres jeweiligen Gegenübers erkennen. Liat muss aufpassen, dass man ihr nicht anmerkt, wie sie zu einer ungewollten Beschauerin des Innenlebens anderer wird. „Eine vertrackte Angelegenheit, dieses Sehen. Denn wie groß und stark fühlt sie sich, wenn sie so in den Menschen stöbert, unbemerkt, ohne Durchsuchungsbeschluss.“

Mühelos versteht sie zu unterscheiden zwischen „Distanz aus Unsicherheit und Distanz aus Arroganz, zwischen künstlicher und ruhiger Gelassenheit, zwischen gesundem Flirt und echter Verführung…..“

In diesen Passagen zeigt sich die hervorragende Fähigkeit der Autorin, psychologische Vielfalt im Dunst des alltäglichen Lebens zu beschreiben. Doch Liat rätselt unermüdlich darüber, wie sie das unerklärliche Benehmen, die Unruhe und Veränderungen im Wesen ihre Mannes, mit dem sie sich bis dahin einig fühlte, verstehen soll. Misstrauen und Verdächtigungen versetzen sie in ein unerträgliches Wechselbad der Gefühle.

Gundar-Goshen baut ihren Roman zu einem gewaltigen Epos auf, in dem es um illegale Einwanderer in Israel geht und darum, wie es um die inneren Gefühle der sich nahe stehenden Menschen steht.

Spannend und subtil führt sie ihren Roman zu Ende, der keine Wünsche offen lässt: teils Krimi, teils Familiengeschichte und teils erfahrbare Verführungen, die das Fremdsein und die geheimnisvollen Verhaltensweisen einiger Protagonisten umgibt. Was zunächst wie ein einfacher Familienroman beginnt, wächst sich zuletzt zu einem gelungenen und sehr lesenswerten Thriller aus.

Ayelet Gundar-Goshen
Löwen wecken
432 Seiten, gebunden
Kein & Aber, Februar 2015
ISBN-10: 3036957146
ISBN-13: 978-3036957142
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Ian McEwan: Kindeswohl

Ian McEwan: Kindeswohl

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Recht, Gesetz und die Liebe…

In diesem neuesten Roman von McEwan erfährt man einiges über Richtersprüche, Gesetzt, Moral und Schuld.
Fiona ist eine erfolgreiche Richterin am High Court in London, die sich mit schwierigen Rechtsfällen befasst. Sie trachtet danach, nur nach rechtlichen Grundsätzen zu urteilen und allgemeine moralische Wertungen außer Acht zu lassen. Das ist besonders schwer, wenn in Streitfällen weltanschauliche und religiöse Begründungen vorgetragen werden. Da geht es um die Zeugen Jehovas, die keine Bluttransfusionen akzeptieren; oder kann im Falle von siamesischen Zwillingen bei einer operativen Trennung der Kinder der Tod des einen Zwillings in Kauf genommen werden? Auch die Frage jüdischer Erziehung in säkularen Schulen kann zwischen Paaren zu Rechtsstreitigkeiten führen.

Mit zahlreichen schwierigen Fällen befasst ist es Fiona ganz entgangen, dass sich ihr Mann Jack inzwischen nach anderen Frauen umsieht. Schockiert wird sie mit der Tatsache konfrontiert, dass er mit ihrer Zustimmung eine Affäre beginnen will. Er stellt sich nur eine Sexpartnerschaft vor, denn in dieser Beziehung ist bei den beiden Endfünfzigern nicht mehr allzu viel los. Jack schwört seiner Frau zugleich, wie sehr er sie liebt. Auch Fiona geht nicht unangefochten aus den vielfältigen Begegnungen, die ihr Berufsleben mit sich bringt, hervor.

McEwan hat sein Thema weit gefasst. Die zu bearbeitenden Rechtsfälle sind gekoppelt an die persönlichen Schwierigkeiten seiner Hauptprotagonisten. Mit feiner und sorgfältiger psychologischer Tiefenschärfe werden die über Jahre entstandenen ehelichen Konflikte abgehandelt. McEwan versteht sein Handwerk und kann mit ausgewiesen fachlichen Analysen aufwarten. Der Leser ist fasziniert und fühlt eigene Betroffenheit, wenn er sich in die Lage der Figuren hineindenkt. Selbstverständlich sucht jeder seine eigene Position zu den aufgeworfenen Fragen.

Der Roman erfüllt in überzeugender Weise die Kriterien, die einen guten Roman auszeichnen, in dem er Spannung erregt und zum Nachdenken ermuntert. Hervorragend sind die Abhandlungen über Recht und Moral, die sich durch die gesamte Lektüre ziehen. Daneben aber beweist McEwan wieder einmal sein psychologisches Feingefühl, mit dem er eine langjährige Ehe mit ihrer Tristesse, dem Verlust der Leidenschaft und der Verführung durch mögliche äußere Versuchungen beschreibt. Er wäre nicht Ian McEwan, wenn seine Geschichte nicht einen tiefen Einschnitt für alle Beteiligten bereithielte. Der Bogen zieht sich über ein langes Leben, und dem Autor gelingt eine Abhandlung, die fast aus dem wahren Leben zu stammen scheint.

Das gelungene Werk wird seine Leser wie immer begeistern!

Ian McEwan

Kindeswohl
224 Seiten, gebunden
Diogenes, Januar 2015
ISBN-10: 3257069162
ISBN-13: 978-3257069167
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Rachel Joyce: Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry

Rachel Joyce: Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry

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Liebesgeschichte aus besonderer Perspektive…

Der vorliegende Roman lässt keine Wünsche offen, was Unterhaltung und stilvolles Ambiente zu bieten hat. Worum geht es? Queenie Hennessy ist krank, so krank, dass sie bald sterben wird.

Sie begibt sich in ein Hospiz, wo sie ihre letzten Tage verbringen will. Da erreicht sie ein Brief von ihrem ehemaligen Kollegen Harold Fry, in dem er sie dringend auffordert, auf ihn zu warten! Doch er tritt seine Reise in den äußersten Norden Englands vom Süden her zu Fuss an. Wer weiß, ob er noch rechtzeitig bei Queenie eintreffen wird? Und warum will er sie unbedingt noch lebend sehen?

Queenie macht sich inzwischen an die Arbeit. Sie schreibt ihrer geheimen Liebe Harold einen langen Brief, in dem sie ihm verborgene Wahrheiten über sich selbst erzählen wird.

Queenie und Harold haben gemeinsam in einer Brauerei gearbeitet. Dabei sind sie sich näher gekommen. Doch Queenie ist die treibende Kraft der Liebe, die sie ihm nie offenbart hat. Harold ist verheiratet und hat einen Sohn, der keine ganz unbedeutende Rolle in dieser Geschichte spielt. Wie nicht anders zu erwarten breitet Queenie in ihrem Brief ihre Gedanken und Gefühle weit vor uns aus.

Begleitet von melancholischen und gelegentlich witzigen Beobachtungen berichtet sie über ihren Hospizalltag und über die Menschen, die dort, wie sie selbst, auf ihren Tod warten. Schließlich folgen in zahlreichen Einschüben Erinnerungen an das Verhältnis zwischen ihr und Harold. In ihren Aufzeichnungen holt sie alles hervor, was so lange in ihr geschlummert hat. Da ist von Schuld und Sühne ebenso die Rede wie von der gemeinsam verbrachten Arbeitszeit und ihrer stillen Zuneigung zu Harold.

Entstanden ist auf diese Weise ein Liebesroman ganz eigener Prägung. Unerwiderte Liebe, geheime Beobachtung des anderen und Zeiten des Glücks allein durch das Beisammensein machen den Roman zu einer stillen und zarten Liebesgeschichte. Rachel Joyce versteht es vorbildlich, Atmosphäre und Stimmungen auf leichte und poetische Weise einzufangen. Die Liebesgeschichte nimmt einen in ihrer rührenden Selbstlosigkeit und Verhaltenheit gefangen.

Rachel Joyce bietet keine harten Schnitte. Sie behält einen ruhigen und gemäßigten Gesprächsfluss bei. Der anheimelnde und gemütlich zu lesende Roman bietet Gelegenheit, sich bei der Lektüre entspannt zurückzulehnen und sich ganz den Bildern aus Natur, Träumerei und stiller Hoffnung und nicht zuletzt des Abschieds hinzugeben.

Rachel Joyce
Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry
400 Seiten, gebunden
FISCHER Krüger, Oktober 2014
ISBN-10: 3810521981
ISBN-13: 978-3810521989
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Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen

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Im bäuerlichen Umfeld einiger Höfe in der ehemaligen DDR nahe der Westgrenze spielt sich eine Amour fou ab, die es in sich hat.

Man lebt dort noch abgeschieden und einfach kurz nach der Wende im Jahr 1990.

In einem der Dörfer gibt es den Brendelhof. Hier leben die Mitglieder einer großen Familie zusammen unter einem Dach. Sie betreiben den Hof, die Landwirtschaft  und einen kleinen Laden. Maria hat bei ihrem Freund Johannes Unterschlupf gefunden,–weit weg von Mutter und Großeltern in einem Nachbardorf. Johannes ist ihr Freund, der gerade Abitur macht und Großes im Sinn hat. Maria schwänzt die Schule und liest lieber Dostojewski. Sie verliebt sich mit ihren 16 und bald 17 Jahren unsterblich in einen schwierigen und um viele Jahre älteren Mann auf dem Nachbarhof. Heimlich geht sie ihn besuchen und verheimlicht allen Mitbewohnern des Brendelhofes und auch ihrer Mutter ihre leidenschaftliche Liebe zu dem Mann, der sich als Sonderling zeigt.

In einer herben Sprache mit kurzen Sätzen erzählt Daniela Krien vom Landleben und deren Bewohnern. Die Mauer ist gerade gefallen und West- und Ostbürger suchen zaghafte Annäherung. Sehr genau beobachtet die Autorin die Verschiedenartigkeit der Welten in Ost und West und die Erfahrungen einer Vergangenheit, die beide Staaten auf lange Zeit getrennt hat. Doch im Zentrum ihrer Erzählung bleibt die große Liebe und die Schuld, die Maria mit ihrer heimlichen Liebe auf sich lädt. Ihr Freund Johannes, mit dem sie ja Zimmer und Bett teilt, ahnt nichts und ist schier blind in seine Arbeit als angehender Fotograph vertieft. In den Brüdern Karamasow liest Maria immer wieder und findet Trost in den Worten Alexejs, des jüngsten der Brüder Karamasows, der sagte: irgendwann werden wir alle auferstehen und uns wiedersehen und alles erzählen. Ein Ausspruch, der gleichsam als Synonym für ihre eigene Schuld und deren Folgen gelten kann.

Der Debütroman der jungen Autorin Daniela Krien fängt die Atmosphäre des Landlebens und der einfachen Lebensweise mit den Eigenarten ihrer Bewohner in dieser abgelegenen Gegend gekonnt ein. Glaubwürdig verfällt die Protagonistin Maria vollkommen ihrer seltsamen Liebe zu Henner, der nicht nur schwierig ist sondern auch unwiderstehlich anziehend auf das junge Mädchen wirkt.

Mit sich steigernder Spannung vertieft man sich in die Geschichte von Schuld, Verzweiflung und Verstrickung und fiebert dem unerwarteten Ende entgegen.

Daniela Krien
Irgendwann werden wir uns alles erzählen
240 Seiten, gebunden
Graf Verlag, September 2011
ISBN-10: 3862200191
ISBN-13: 978-3862200191
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Philip Roth: Nemesis

Philip Roth: Nemesis

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Schicksal, Fügung oder Gottes Wille?

Wieder einmal geht es bei Philip Roth in seinem neuen Roman um Glück und Unglück, um Schuld, Sühne, Moral und Verzweiflung.

Der Autor fabuliert aber nicht wie in seinen zuletzt erschienenen Romanen über das Alter und seine Gebrechen; dieses Mal geht es um eine Polioepidemie im Jahr 1944, von der viele Kinder dahingerafft werden, und die in ihren Auswirkungen tiefe Spuren bei dem Helden der Geschichte hinterlässt.

Bucky Cantor ist Sportlehrer im jüdischen Viertel von Newark/ New Yersey und einer der wenigen jungen Männer, die nicht im mörderischen Zweiten Weltkrieg kämpfen mussten. Er war nicht diensttauglich und sieht seine Aufgabe in seiner Rolle als Bezugsperson für seine Jungs, die er in der Schule, an Wochenenden und in den Ferien auf dem Sportplatz trainiert. Die Krankheit „Kinderlähmung“ platzt wie eine Bombe in das friedliche Leben der Stadt. Niemand kennt den genauen Verlauf der Krankheit. Es gibt keine Heilungsverfahren, keine Impfung, und in vielen Fällen endet sie mit dem Tod und häufig mit schwerster Behinderung. Wie soll man sich verhalten, wie vorbeugen, um sich zu schützen?

Heute kann sich kaum jemand mehr vorstellen, wie ernsthaft und bedrohlich diese Krankheit einmal war. Sie verkörperte die Apokalypse des vergangenen Jahrhunderts, bis man zu Beginn der sechziger Jahre einen Schutz gegen sie erfand.

Bucky Cantor gerät in das Räderwerk der Folgen dieser Krankheit, erkrankt selber und lebt mit dem Gefühl der Verbitterung und der Schuld, seinen Schülern die Krankheit womöglich weitergegeben zu haben, sein restliches Leben lang.

Der Kontrast zwischen dem jungen, sportlichen, gut erzogenen  und in seine erste Liebe vernarrten Helden und dem, was aus ihm wird, kann nicht gravierender ausfallen.

Philip Roth behandelt die tiefen moralischen Konflikte, in die sich der Held verstrickt. Subjektive Wahrnehmung von Schuld und Anklage gegen Gott behandeln die eine Seite der Geschichte; Selbstanklage und falsch verstandenes Ehrgefühl zeigen die andere Seite. Nach dreißig Jahren trifft Bucky eher zufällig einen seiner ehemaligen Schüler. Ein langer Dialog mit diesem, der sich als einer der Jungen vom Sportplatz zu erkennen gibt, und den das gleiche Schicksal wie Bucky ereilt hat, zeigt die unterschiedlichen Folgerungen, die jeder aus seinem persönlichen Geschick gezogen hat. Bucky verkörpert den Märtyrer und Selbstankläger; sein ehemaliger Schüler hat sein Schicksal angenommen und ist zufrieden und glücklich geworden. Letzterer spricht vom „Zufall“ und vom „Glück“, die man haben kann. Bucky aber schmäht einen Gott, der eigentlich diesen Zufall und das Glück verkörpert.

Philip Roth ist der hervorragende Erzähler, den wir aus vielen seiner Werke kennen. Das Thema hat ihn gepackt wie immer. Die Reflexionen des Helden Cantor sind mit der üblichen Tiefenschärfe gezeichnet. Weise, ein wenig sarkastisch und gelegentlich bissig zeichnet Philip Roth den Helden als den Irrgläubigen, der am Leben scheitert,weil er zu verbissen an die eigene Allmacht glaubt.

Philip Roth ist und bleibt der bemerkenswerte Erzähler, dessen neueste Bücher man immer wieder mit Freude liest.

Philip Roth
Nemesis
224 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag, Februar 2011
ISBN-10: 3446236422
ISBN-13: 978-3446236424
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Ferdinand von Schirach: Schuld

Ferdinand von Schirach: Schuld

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Mord, Totschlag, Grausamkeit und die Folgen.

Nach seinem Buch „Verbrechen“ beschäftigt sich Ferdinand von Schirach in diesem nunmehr zweiten Band mit Geschichten aus dem Gerichtsalltag, in dem er dem Begriff der „Schuld“ nachgeht.

Kurz, knapp und prägnant werden auch hier wie schon in seinem ersten Buch Geschichten aus dem Juristenalltag vorgetragen. Mysteriös und unklar sind nicht immer aber oftmals die Motive, die zu Unrechtstaten führen, deren Auswüchse uns vor Rätsel stellen. Als seien die Menschen Getriebene, die ihren Impulsen nicht mehr widerstehen könnten, erlebt man die absurdesten Übeltaten. Mord, Besudelung, Missbrauch und Torturen bieten die Anzeichen für verbrecherische Handlungen, die an Grausamkeit und Widerwärtigkeit kaum vorstellbar sind.

Der Jurist von Schirach ist ein Meister der kurzen Pointen. Seine Geschichten deuten an, ohne zu erklären, wie es zu den beschriebenen Verbrechen kommen konnte. Der Leser sieht sich mit den Absonderlichkeiten menschlicher Schwächen und Perversionen konfrontiert, die wie aus dem Nichts das Handeln entarten lassen. Gekonnt und ruhig, lakonisch und präzise beschreibt der Autor Geschehnisse, die an Erbarmungslosigkeit nicht zu überbieten sind. Ohne die tiefenpsychologischen Wissenschaften zu Rate zu ziehen, erklärt sich das Handeln der Täter und ihrer Motive aus sich selbst. Der Autor beschreibt drogensüchtige Freaks, die einen Perversen zur Strecke bringen und Schüler, die in einer Art Verblendung sich zu  Exorzisten erklären und einen Mitschüler mit ihren Torturen fast zu Tode quälen. Auch Drogenbosse und ihre Handlanger finden sich in einer Geschichte kopiert. Von Schirach zeigt die niedersten Instinkte, die im Menschen schlummern und sie zu Verbrechern werden lassen. Man wird zum Zuschauer des Verlust jeglicher Selbstkontrolle, mit denen Menschen zum Opfer der eigenen Triebe mutieren.  Die Beschriebenen Verbrechen enden entweder mit der Verurteilung, häufig mit Selbstjustiz unter den Schuldigen und kommen zuweilen nicht einmal zur Anklage. Der Schuldnachweis ist Voraussetzung  für ein Urteil, doch ist dieser Schuldnachweis nicht immer zu erbringen. Von Schirach lässt die Schuldfrage alleine durch die absurden Handlungen sichtbar werden.

Wortgewand und einfallsreich trägt von Schirach seine Fälle vor. Die Verfremdung von diffizilen Einzelfällen gelingt ihm hervorragend. Seine Fantasie in der Darstellung der Vielfalt abartiger Verhaltensweisen kennt scheinbar keine Grenzen.

Hervorragend und lesenswert sind diese Geschichten sicher für alle, die an Krimis und den Abgründe menschlichen Verhaltens Interesse haben. Man möchte als Fazit sagen: es gibt nichts, was es nicht gibt!

Hohes Lob gilt dem begabten und faszinierenden Erzähler, der als Anwalt und Strafverteidiger in Berlin lebt.

Ferdinand von Schirach
Schuld
208 Seiten, gebunden
Piper, August 2010
ISBN-10: 3492054226
ISBN-13: 978-3492054225
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Emmanuel Bove: Schuld

Emmanuel Bove: Schuld

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Schuld und Sühne in der Literatur.

Schuld und Sühne sind uns geläufig. In der Literaturgeschichte werden die Themen in unterschiedlicher Form abgehandelt. Am bekanntest ist der Roman „Schuld und Sühne“ von Dostojewski, der in einer Neuübersetzung mit dem Titel „Verbrechen und Strafe“ ausgewiesen ist.

Emmanuel Bove hat sich des Themas mit dem schlichten Titel „Schuld“ angenommen.

Einer Allegorie gleich zeigt E. Bove in einem düsteren Szenario den arbeitlosen und unglücklichen Pierre Changarnier, der in einem elenden Hotelzimmer haust. Seine Freundin Violette taucht auf, und er macht sie mit Worten nieder, die seine eigene Kläglichkeit überdecken sollen.

Beide gehen schließlich die Strassen im Schneetreiben entlang. Ihr innerer Zustand scheint dem äußeren zu gleichen.

Ohne, dass sich viel ereignet, werden sie von einem kleinen Mann verfolgt, der ihnen lästig ist. Seine Geschichte handelt von einer Schuld und der lebenslangen Reue, die er darüber empfindet, denn er hat seine Frau umgebracht.

Changarnier erlebt im Verlauf der Geschichte seine eigenen Unbilden. Er leidet halluzinatorisch ebenfalls an Reue und Schuld, ohne dass diese weiter benannt werden.

Wie Bove seine Figuren agieren lässt und sie als Getriebene und Verfolgte beschreibt, zeigt Meisterschaft. Er fängt die ganze Tristesse von verlorenen Menschenleben ein, die an sich und der Umwelt zugrunde gehen. In ichbezogener  und selbstzerstörender Manier neigen die Protagonisten zur Verdammnis ihres Selbst. Fragen nach der moralischen Verantwortung sind Maßstab für ein Dasein, das den Ansprüchen einer gerechten Welt nicht genügt. Da gibt es nur das eigene Leid und die Suche nach einem Erlöser. So und nie anders werden Mitmenschen zu Zuhörern, die durch ihr Mitleid Befreiung bieten könnten. Doch am Ende siegt der Fluch der Verdammnis. Keiner entkommt, der sich einmal in die Fänge von Schuld und Sühne begeben hat.

Als Abkömmling jüdischer Eltern blieb das Weltbild E. Boves nicht unbeeinflusst von den Verfolgungen, die er ebenso wie andere erdulden musste. Seine Intention galt der verlogenen bürgerlichen Moral, die er in seinen Werken entlarven wollte.

Emmanuel Bove hat von 1898 – 1945 gelebt und wird heute zu den Vertretern der klassischen Moderne in Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts gezählt.

Mit einem Nachwort und in der Übersetzung von Thomas Laux ist das Buch in einer feinen bibliophilen Aufmachung im Lilienfeld Verlag erschienen, der sich verdienstvoll fast vergessener und hervorragender Autoren aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts annimmt.

Emmanuel Bove
Schuld
120 Seiten, gebunden
Lilienfeld Verlag; Auflage, Juni 2010)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3940357162
ISBN-13: 978-3940357168