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Schlagwort: Verfolgung

Maarten Asscher: Das Haus meiner Kindheit

Maarten Asscher: Das Haus meiner Kindheit

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Das Haus der Kindheit: das ist das Haus der Großeltern von Maarten Asscher.

Dieses Haus stand in England, in Kew, nicht weit von London.
Detailliert berichtet der Autor über die Räumlichkeiten und über die Lebensgewohnheiten der Großeltern.
Man spürt, wie heimelig er sich fühlte und wie froh ihn das Zusammensein mit dem Oa, wie er genannte wurde, und Oma Roosje stimmte.

Fast Proust gleich geht es um die Gerüche und Geräusche im Hause. An Oma Roosje wurde mit den liebevollsten Gedanken erinnert. Sie war klug, lebendig und voller Tatendrang.

Die Erzählung ist ganz auf die Großeltern fokussiert. Wenig nur hört man von seinem Elternhaus in Holland. Es gab aber etwas, was den Jungen in späteren Jahren neugierig machte. Die Großeltern sind jüdisch, und im Krieg gab es Verfolgungen. Von Tanten und Onkeln ist die Rede, die in die KZs in Deutschland deportiert wurden und nie zurückkehrten. Wo waren die Großeltern, wie verlief ihr Schicksal?

In langen Passagen und Monologen kommt Maarten Asscher der Geschichte der Familie auf die Spur.
Oa, der Großvater, besaß neben der holländischen auch die englische Staatsbürgerschaft.
Es hat ihm bei seinen Bemühungen,1940 mit der Familie nach England zu fliehen, nicht geholfen.
Er war bei einem internationalen Shell Konzern angestellt. Da glaubte er sich als Halbjude sicher.
Doch beide Großeltern wurden 1942 nach den Haag und noch später ins Lager in Westerborg verschick. Die Repressionen wurden immer schärfer. Die Flucht gelang ihnen nicht.

Durch seine Nachforschungen gelingt dem Autor, zu rekapitulieren, wie seine Großeltern später nach England kamen.
Ein abenteuerlich fingierter „Arisierungsprozess“ brachte den Großvater mit seiner Familie aus der Zwangsevakuierung wieder in sein Haus zurück. Gleich nach dem Krieg zog es ihn in seine Heimat nach England.

Einmal mehr erfährt die Nachwelt, wie schrecklich die Nazizeit auch für Juden in dem besetzten Holland war. Der Großvater strich die Erinnerungen an 1940 – 1945 aus seinem Gedächtnis, so dass seine Enkel nur die schönsten Seiten der Kindheit mit den Großeltern erinnerten.

Wie so viele Geschichte aus der Nazizeit reiht sich auch diese Erzählung dazu!

Maarten Asscher
Das Haus meiner Kindheit
Luchterhand Literaturverlag, Oktober 2023
256 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3630876536
ISBN-13: 978-3630876535
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Jessica Durlacher: Die Stimme

Jessica Durlacher: Die Stimme

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Zelda und Bor heiraten in einem Augenblick höchster Gefahr. Sie werden von einem Rabbi in New York getraut, nachdem sie schon zehn Jahre lang mit nach und nach drei Kindern eine Familie gegründet hatten.
Just im Moment der Heirat passiert in den Twin Towers in New York das schreckliche Attentat vom 9. September.
Der apokalyptische Vorfall in NY ist der Auftakt zu einer dramatischen Beziehungsgeschichte zwischen einer jüdischen Familie und dem Islam.
Bor und Zelda flüchten aus der Nähe der brennenden Türme und retten sich und die Kinder.
Dann sind sie zurück in den Niederlanden. Hier arbeitet Zelda als Psychoanalytikerin; Bor ist ein angesehener Anwalt.

Jessica Durlacher führt uns langsam in das Leben ihrer Protagonisten ein.
Die Ehe von Bor und Zelda ist glücklich. Auch die Kinder nehmen ihren besonderen Platz in der Geschichte ein. Es ist eine gebildete, begüterte Familie, die im Fokus des Romans steht.

Zelda, die Icherzählerin, hatte schon einen ersten geliebten Ehemann, mit dem sie den Sohn Philip hat. Nach dessen frühem Tod hat Bor sie still und selbstverständlich umsorgt, bis sie schon bald zusammengezogen sind.

Nach einiger Zeit kamen Sam und Pol auf die Welt. Das Au Pair- Mädchen Ania verlässt die Familie, und Zelda sucht dringend eine neue Hilfe. Sie lernt eine Somalierin kennen, die, malerisch nach islamischer Sitte gekleidet, schön und exotisch anzusehen ist. Sie ist aus einer strengen Familie und vor einem prügelnden Ehemann als Flüchtling in die Niederlande gekommen. Zelda nimmt sie als Kindermädchen in ihre Familie auf.
Schon bald zeigt sich, dass sie eine sehr schöne Stimme hat.

Zelda ist mit der Erziehung ihrer Kinder sehr beschäftigt. Besonders Phil mit seinen heftigen Wutanfällen bringt sie in Unruhe. Wie soll sie damit umgehen? Wie macht sie alles richtig?
Der Beruf als Psychoanalytikerin lässt sie manches wahrnehmen, was andere vielleicht noch nicht sehen.
Wir erleben ein Geschehen, das voller innerer Spannungen und tiefgründigen Reflexionen steckt.

Neben der alltäglichen Familienroutine beginnt eine spannende Entwicklung. Amal wird zur Teilnahme eines Gesangswettbewerbs angenommen.
Sie wird eine berühmte Sängerin und zugleich Verfechterin für Freiheit und Gleichberechtigung der Frauen im Islam. Ihre Aktivitäten, ja fast Provokationen, führen zu Verfolgung und Feindschaft seitens islamischer Fanatiker. Damit bringt sie auch ihre Gastfamilie in große Gefahr.

Jessica Durlacher schreibt zügig und integer. Sie steigert ihre Erzählung zu immer neuen dramatischen Ereignissen, die den Leser total in Bann schlagen. In beispielloser Weise bringt sie die Verflechtungen der jeweiligen Ereignisse in einen Zusammenhang. Spannungen werden aufgebaut und Lösungen angedeutet. Zeldas Reflexionen zeugen vom tiefenpsychologischen Wissen der Autorin.

In den Roman ist viel hineingepackt: Islam und Judentum, Verlässlichkeit, Liebe, Engagement, Geheimdienste, Verfolgung und nicht zuletzt Mord und Betrug.
Die hier beschriebene zerrissene Welt ist glaubwürdig und die Dichte des Romans mitreißend.

Jessica Durlacher lebt mit ihrem Mann Leon de Winter und ihren Kindern in den Niederlanden.

Jessica Durlacher
Die Stimme
Diogenes, Mai 2022
544 Seiten, gebunden
ISBN-10: 325707185X
ISBN-13: 978-3257071856
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Doris Knecht: Die Nachricht

Doris Knecht: Die Nachricht

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In einem ruhigen und beschaulichen Garten sitzt Ruth mit ihrem Laptop, als sie eine sonderbare Nachricht erhält: man verkündet ihr hämisch auf Facebook, dass ihr Mann, der vor drei Jahren verstorben ist, eine Affäre hatte. Ja natürlich wusste sie davon! Aber wer erdreistet sich, in dieser Weise in ihr Leben einzudringen?

Doris Knecht beginnt ihren Roman über eine gestandene Frau in einem schönen, verwunschenen und herrlich einsam gelegenen Haus mit Garten. So lieblich mutet das Ganze an, dass man sich auf einen erbaulichen Roman einstellen möchte. Doch ganz so wunderbar bleibt es nicht!

Im Verlauf der Geschichte lässt Doris Knecht das Leben von Ruth, ihren Kindern und Ehemann vor unserem inneren Auge erstehen. Man merkt bald, dass in der Familie so einiges nicht zum Besten steht. Man kann sich aber nur schwer vorstellen, dass sie Anlass für Stalking bot.

Die Nachricht bildete erst den Anfang einer unendlichen Folge von Netzeinträgen mit diffamierendem Charakter und hässlichen Anschuldigungen, die auch an den Grundfesten der Beziehung zu ihren Freunden und Freundinnen rüttelt.

Doris Knecht versteht es hervorragend, einen Spannungsbogen aufzubauen, der den Leser*in immer mehr in seinen Sog zieht.

Die nächstliegende Frage bewegt allmählich schon sehr: wer könnte der Absender der boshaften Nachrichten sein?

Je mehr wir in die näheren Lebensumstände und Gewohnheiten von Ruth eingeweiht werden, desto enger wird das Netz der Beschmutzungen, die sie ereilen.

Doris Knecht steigert die Geschichte zu einem ausnehmend fesselnden Psychothriller. Das Netz der Beschuldigungen engt Ruth immer mehr ein. Man fasst es nicht und denkt darüber nach, dass es Psychotiker gibt, die keine Möglichkeit der Verfolgung auslassen. Dass es sogar in den besten Kreisen Menschen dieser Psychostruktur gibt, überrascht am Ende nicht.

Dem Leser*in bleibt fast der Atem stehen. Unweigerlich nimmt man innerlich Partei für die Hauptprotagonistin und bangt mit ihr um eine Lösung dieses Wahnsinns.

Ein so fesselnder und gut durchstrukturierter Roman dieser Dimension ist mir lange nicht begegnet!

Ich kann ihn nur sehr empfehlen, zumal diese Geschichte in unserer Zeit durchaus Wahrheitscharakter hat.

Doris Knecht
Die Nachricht
256 Seiten, gebunden
‎Hanser Berlin, Juli 2021
ISBN-10: 3446271031
ISBN-13: 978-3446271036
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Jan van Es: Das Mädchen mit dem Poesiealbum

Jan van Es: Das Mädchen mit dem Poesiealbum

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Bart van Es hat über eine wichtige Episode seiner Familiengeschichte geschrieben.

Er bedient sich dafür sehr genauer Recherchen über die Nazizeit und den Holocaust in Holland. Es ist auch ein Stück schlimmer holländischer Geschichte!

Das Land wurde schon zu Beginn des Zweiten Weltkrieges von deutschen Truppen besetzt.

Einmal mehr aber wird über den Mut und die Hilfsbereitschaft einer großen Anzahl von Hilfswilligen berichtet. Neben einer starken Widerstandsbewegung gab es wie überall auch Mitläufer und Handlanger des Systems.

Betroffen in diesem Bericht ist Bart van Es selber, als er herausfindet, dass seine Großeltern ein kleines jüdisches Mädchen vorübergehend versteckt hielten, bis sie ihr nach einem Verrat keinen Schutz mehr bieten konnten.

Die dramatische Geschichte von Lien de Jong beginnt 1941. Sie wohnte mit ihren Eltern in Den Haag, als es zu den ersten jüdischen Abtransporten kommt. 1942 schicken die Eltern sie mit einem Poesiealbum und einem Brief auf eine Reise ins Ungewisse. Es beginnt eine Odyssee, deren Verlauf voller Schrecken ist. Das kleine Mädchen wird immer weitergeschickt zu fremden Menschen und Orten. Als ihre Reise beginnt, ist sie 9 Jahre alt. Innerlich schottet sie sich allmählich ab. Wie soll ein Kind auch verstehen, was da mit ihm geschieht? Fühlt sie zuerst noch Kummer und Sehnsucht nach der Mutter, wird ihre Gefühlswelt schließlich ganz vom Sog des Untergangs mitgerissen.

Bart van Es holt weit aus, beschreibt Städte, Orte und Unterkünfte und findet vor allem Kontakt zu Lien, die ihm ihre ganze Geschichte nach und nach erzählt.

Die Familie van Es, aus der Bart van Es stammt, spielte die größte Rolle in ihrem Fluchtleben. Lien fühlte sich dort im Kreise der Kinder, die sie wie Geschwister empfand, sehr wohl. Sie muss das Versteckt verlassen, als sie aufgespürt wird. Und weiter geht es von einem Versteck in das andere, von einem Ort zum anderen und schließlich in die bigotte Familie van Laar, wo sie Dienstmädchenaufgaben verrichten muss.

Nach dem Krieg wünscht sich Lien in die Familie van Es zurück, wo sie auch wieder wie ein eigenes Kind aufgenommen wird, da ihre Eltern im KZ umgekommen sind. Unerklärlicherweise riss der Kontakt zu der Familie Jahre später ab. Warum?

Bart van Es beschreibt in einem angenehmen Tempo und mit zahlreichen intensiven und charakteristischen Ausschmückungen, was dem Mädchen Lien in ihrem jungen Leben alles passiert ist. Er folgt ihrer Lebensgeschichte auch nach dem Krieg und bis in ihr hohes Alter.

Man liest die Beschreibung dieser ganzen Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg mit Spannung und Empörung darüber, zu was Menschen, auch die angeblich guten, fähig sind. Immer wieder mag man es nicht glauben, wie die jüdische Tragödie während der Nazizeit und danach unser aller Leben und das unserer Nachbarstaaten verändert hat.

Dass es zu menschlichen Missverständnissen und Brüchen in Beziehungen kommen kann, ist eine der Begleiterscheinungen einer Familiengeschichte, die intensiv auch den zwischenmenschlichen Vorkommnissen nachgeht.

Zahlreiche Fotos dokumentieren Liens Leben und komplettieren eine Lebensgeschichte, die voller Dramatik und an guten und schlechten Erfahrungen reich war.

Wiewohl man  denken mag, nun ist es einmal genug mit den Erinnerungsbüchern an die jüdische Geschichte, ist gerade dieses Buch noch einmal von besonderen Bedeutung. Geht es doch hier um ein Familienporträt von außerordentlicher Brisanz in seiner Komplexität des menschlichen Miteinanders.

Die Aufmachung des Buches ist edel, die Übersetzung aus dem Englischen von Silvia Morawetz und Theresia Übelhör gelungen.

Der Autor lebt mit seiner Familie in England und lehrt Englische Literatur in Oxford.

Bart van Es
Das Mädchen mit dem Poesiealbum
320 Seiten, gebunden
DuMont Buchverlag, Februar 2019
ISBN-10: 3832198563
ISBN-13: 978-3832198565
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Adriana Altaras: Die jüdische Souffleuse

Adriana Altaras: Die jüdische Souffleuse

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Adriana Altaras ist Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin.

Sie hat mit ihrem Buch „Titos Brille“ s.Zt. einen Coup gelandet, der ihr hohe Anerkennung eingebracht hat. Seit dieser Zeit kennt man sie als schlagfertig, eloquent, witzig und fantasiebegabt. Genauso erlebt man sie in ihrem neuen Roman „Die jüdische Souffleuse“.

Schmissig, spitzig und flott beginnt die Autorin ihre Erzählung über eine jüdische Souffleuse, die sie auf einer ihrer Theatertourneen kennenlernt.

Adriana will in einer beliebigen deutschen Stadt eine Mozartoper einstudieren.

Ihre treuen Begleiter sind der Bühnenbildner Elio und die Kostümbildnerin Nora. Mit ihnen ist sie schon durch Dick und Dünn gegangen.

Dieses Mal aber erlebt sie eine ungewöhnliche Begegnung. Susanne oder besser „Sissele“, die Souffleuse des Theaters, wirkt überspannt und durchgedreht. Sie tischt der zunächst etwas gelangweilten Adriana eine Geschichte auf, von der man nicht recht weiß: ist sie erfunden oder entspricht sie der Wahrheit? Sie will Adriana bei der Suche nach ihren Verwandten um Hilfe bitten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in alle Welt verstreuten wurden.

Kurz gesagt geht es um ein jüdisches Schicksal, das einmal mehr höchst diffizil und wirklich kaum glaubhaft erscheint. Doch wird die Erzählerin mehr und mehr in Bann gezogen, und, wie könnte es anders sein, Adriana fühlt sich emotional angerührt.

Eingestreut in die Alltagserlebnisse der Regisseurin nimmt die Geschichte einen sehr spannenden und ungewöhnlichen Verlauf.

Der Lebenslauf von Sissele ist verwirrend. Sie wurde nach dem Krieg in Israel geboren, ist mit ihren Eltern nach Deutschland eingewandert als sie knapp 1 Jahr alt war und wurde früh nach dem Tod der Mutter Halbwaise. Damit nahm ihr unglückliches Schicksal seinen Lauf.

Der Vater ließ sie einmal hier und einmal dort und riss sie immer wieder aus den jeweils einigermaßen erträglichen Lebensstationen heraus. Zuletzt gab er sie zu Nonnen in ein katholisches Kloster. Auch sein Schicksal ist Nebenschauplatz der Erzählung.

In lockerer, leichter Manier rollt Adriana Altaras das Leben dieser an den Folgen des Zweiten Weltkriegs immer noch leidenden Mitbürgerin Sissele auf. Jüdisches Leben, Verfolgung und drastische Schilderungen aus den Kzs geben der Erzählung Tiefe und zeigen zugleich, wie schnell alles in Vergessenheit zu geraten droht. Herzenswärme und Mitgefühl ziehen Adriana hinein in die Suche, die auf ungewöhnlichem Wege zu einer glücklichen Lösung führt.

Zuweilen mutet die Erzählung ein wenig zu spöttisch und leicht erzählt an. Die eingestreuten Witze gehören wohl dazu, wenn man eine Erzählung beschwingter daherkommen lassen will, als sie ist. Der rote Faden muss immer wieder zwischen Theaterproben und Alltagsgeschichten gesucht werden. Eigenes Leben, Alltag und Gefühlsbeschreibungen nehmen ebenso viel Platz ein wie die Geschichte der jüdischen Souffleuse. Alles in allem ist der Roman leicht zu lesen, unterhaltsam und witzig.

Adriana Altaras
Die jüdische Souffleuse
208 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, Oktober 2018
ISBN-10: 3462051997
ISBN-13: 978-3462051995
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Jürgen Seidel: Die Rettung einer ganzen Welt

Jürgen Seidel: Die Rettung einer ganzen Welt

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Mit diesem Roman eröffnet sich nochmal das Panorama zur zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Angefangen bei Hitlerdeutschland mit der Verschärfung der Judenverfolgung 1939 geht es über Berlin mit Bella, der Hauptprotagonistin, zum Ende hin nach Amerika.

Das Versteck für die jüdische Familie in Berlin bietet ein Ägyptischer Arzt, der auch eine arrangierte Hochzeit für Bella organisiert, womit sie nicht mehr Jüdin ist sondern zur Muslima wird.

Abenteuerreich und fantasievoll geht es durch das ganze Buch. Bella wird Ärztin, heiratet in Amerika einen lieben Mann, der früh stirbt. Mit 43 Jahren ist sie Witwe mit zwei kleinen Töchtern.

Ein Familientreffen alle paar Jahre führt die Familie immer einmal wieder zusammen. Bei dieser Gelegenheit erfährt man die Schicksale und Lebenswege der verschiedenen Familienzweige und ihrer Sprösslinge, die auch in Irland Wurzeln hat.

Die Vielfalt der Charaktere und das Auf und Ab der Lebenswege ist von spannender Detailgenauigkeit. Zeitsprünge machen den Zusammenhang zuweilen etwas unübersichtlich, so dass man Mühe hat, immer richtig Schritt zu halten. Dass Bella ihre große Liebe in Berlin zurücklassen musste und ihn später unter anderem Namen in Amerika wiederentdeckt, gibt der Geschichte den besonderen Kick.

Alles in allem ist das Buch ein lesenswerter Schmöker mit zahlreichen Verwicklungen, die sowohl jüdisches als auch muslimisches Leben widerspiegeln. Amerika mit seinem Gesellschaftsbild spielt eine eher nachrangige Rolle. Allerdings ist New York ein Schmelztiegel der Nationen, was durchaus eine Rolle bei der ganzen Geschichte spielt.

Jürgen Seidel
Die Rettung einer ganzen Welt
480 Seiten, broschiert
dtv Verlagsgesellschaft, Februar 2018
ISBN-10: 3423261668
ISBN-13: 978-3423261661
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Julian Barnes: Der Lärm der Zeit

Julian Barnes: Der Lärm der Zeit

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Julian Barnes ist in seinem neuen Roman den Spuren des Komponisten Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch (1906 -1975) nachgegangen. Er war ein anerkannter russischer Komponist des 20. Jahrhunderts. Seine Kompositionen umfassten ein reiches Repertoire an sinfonischer, instrumentaler und Filmmusik, bevor er sich an die Komposition von Opern wagte.

Unter der Diktatur Stalins hatte der Musiker schwer zu leiden.  Wer denkt heute noch an die Tyrannei dieses Despoten, der seine Freunde und Feinde erzittern ließ ob seiner Grausamkeit und paranoiden „Säuberungen“, mit denen er Mitte der dreißiger Jahre sein Unwesen trieb?

Julian Barnes erzählt, wie Schostakowitsch auf die Gunst und Gnade Stalins angewiesen war. Dieser liebte Musik und eben auch Schostakowitsch. Doch als Stalin die Oper „Macbeth von Mzensk“ zwei Jahre nach der Erstaufführung, die 1934 für Furore gesorgt hatte und hoch umjubelt worden war, hörte, brach sein Zorn über den begnadeten Komponisten herein. Stalin mochte die Musik nicht. Nachdem letzterer seine Loge voller Zorn verlassen hat, so berichtet Barnes, wurde aus dem Komponisten ein von Angst überwältigtes Männlein. Er steht jede Nacht mit einem gepackten Köfferchen auf dem Flur vor seiner Wohnung und erwartet die Schergen des Diktators. Seine junge Frau und die gemeinsame Tochter sollen nicht in den Strudel Ereignisse hineingezogen werden. Zu dieser Zeit ist er dreißig Jahre alt.

Am Beispiel des berühmten Komponisten und seines künstlerischen Wohl und Gedeihens erfahren wir vom Autor etwas über die Dimensionen von Diktaturen damals und heute.

Lebendig und hautnah kann man erleben, wie die Angst um alle Ecken schaut, und die Unterdrückung zu Depression und Lähmung führen kann.

Schostakowitsch wird im Roman (wie wohl auch in der Realität) zu Verhören abgeholt, soll Kollegen beschuldigen, wird wieder nach Hause geschickt, mit Drohungen, die Wahrheit zu sagen, neu einbestellt, bis schließlich sogar der Verhörer verschwunden ist. Man ahnt, dass auch ihn die Rache des Diktators zu Fall gebracht haben könnte.

In diesem Stil und Umfang, präzise und dicht in Wort und Beschreibung geht es weiter. Julian Barnes zeigt uns die „Macht“ und ihre dräuende, einschüchternde Gewalt, die auch stärkere Naturen zum Stürzen bringt. Hier wird Schostakowitsch als sensibler und einfühlender Charakter geschildert, der dieser Macht nicht Herr wird. Er wird hin und her gerissen zwischen Folgsamkeit und Selbstverdammung, stiller Resignation und Niedergeschlagenheit.

Zitat aus der Besprechung des Romans in der Zeitschrift die „Zeit“ über die Komponisten unter Stalin: «Die einen waren am Leben und hatten Angst, die anderen waren tot.»

Die Macht des Stärkeren lässt den Schwächeren vergehen. Auf einer Reise nach Amerika wird Schostakowitsch zum Spielball öffentlicher Belobigung, propagandistischen Fehlberichten und seiner heimatlichen Angstzustände. Lug und Trug, Fremd- Selbstbezichtigung und Abwarten kennzeichnen das Leben des Künstlers, der dem Wechselbad von Lob und Tadel ausgeliefert ist. Immer auch wieder gibt es Hinweise auf sein Privatleben, das jedoch ganz unter der Last der alltäglichen äußeren Bedrohung und Not steht.

Barnes schreibt in seinem gewohnt eindringlichen, poetischen Stil mit psychologisch tiefenscharfen Blick. Es ist nur ein schmales Buch von 240 Seiten. Doch der Inhalt wiegt schwer und konfrontiert den Leser mit Erfahrungen, die kaum zu ertragen sind. Erschütternd sind immer wieder die Verzweiflung und der Strudel der Verleugnungen, in die die Opfer der seelischen und häufig auch physischen Zerstörungen hineingeraten.

Die Lektüre erfordert Aufmerksamkeit und Konzentration, um der Vielfalt der angeführten Ereignisse und Zustände zu folgen.

Ein ernstes und nachdenklich stimmendes Buch!

Julian Barnes
Der Lärm der Zeit
256 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, Februar 2017
ISBN-10: 3462048880
ISBN-13: 978-3462048889
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Reinhard Rohn: Morgen stirbst du

Reinhard Rohn: Morgen stirbst du

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Kommissarin Lena Larcher nimmt, weil sie ihren Mann und ihren Sohn verloren hat, an einer Selbsthilfegruppe teil. Hier begegnet sie einem Mann, der sie interessiert. Später dann wird er tot in einem Hotel aufgefunden. Es sieht nach Selbstmord aus. Die Gründe liegen auf der Hand. Der Journalist hat seine Frau und seinen Job verloren. Lena Larcher fällt natürlich auf, dass er in der Selbsthilfegruppe falsche Angaben über sich gemacht hat. Auch dass Mitchi Vogel, eine Bekannte von ihm, meint, dass es sich hier nicht um einen Selbstmord handeln kann, weckt Zweifel. Jörn Falk sollte für sie nach ihrem verschwundenen Liebhaber Ruben suchen, der an einem Buch über die Bilderberger gearbeitet hat. Da außer Lena Larcher jeder den Selbstmord für erwiesen hält, arbeitet die Ermittlerin auf eigene Faust an diesem Fall weiter. Währenddessen wird eine weitere Leiche aufgefunden. Es handelt sich um eine junge Frau. Ihr Gesicht ist nicht mehr zu erkennen, deshalb ist eine Identifizierung schwierig.

Das Buch ist interessant angelegt. Es gibt einen gegenwärtigen Erzählstrang und einen, der zurückgeht. Hier leben Jörn Falk und die junge Frau noch. Falk stößt auf etwas, an dem seine Frau, die Journalistin einer Frauenzeitschrift war, dran war. Möglicherweise war der Autounfall, bei dem sie gestorben ist, in Wirklichkeit von außen verursacht. Als Leser weiß man also, dass hier etwas passieren wird, das einigen Menschen das Leben kosten wird, kennt aber die Hintergründe nicht. Das erhöht die Spannung extrem.
Der Fall ist also sehr komplex. Das erfordert natürlich ein hohes Maß an Konzentration beim Lesen. Das Buch ist aber sehr flüssig und detailreich geschrieben. Das zieht problemlos durch die Handlung. Dazu kommt, dass man sich den Hauptpersonen Lena Larcher und Jörn Falk gut annähern kann, auch wenn sie von ihrer Persönlichkeit her doch eher schwierig sind.
„Morgen stirbst du“ ist ein Krimi, der mich sehr gut unterhalten hat.

Rezension von Heike Rau

Reinhard Rohn
Morgen stirbst du
400 Seiten, broschiert
Deutscher Taschenbuch Verlag
ISBN-10: 3423216522
ISBN-13: 978-3423216524
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Can Dündar: Lebenslang für die Wahrheit

Can Dündar: Lebenslang für die Wahrheit

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Das Leben eines freiheitlich gesinnten Geistes in düsterer Zeit…

Can Dündar gehört zu einem unter vielen aufgeklärten und anerkannten Journalisten in der Türkei. Er war Chefredakteur der bekannten türkischen Zeitung Cumhuriyet und wurde zum Sprachrohr der „prowestlichen, demokratischen und säkularen Freiheitsbewegung seines Landes“, wie es auf dem Klappentext heißt.

Als er sich mit dem türkischen Geheimdienst schon unter der Ägide Erdogans anlegte, war es, als stäche er in ein Wespennest. Er hatte Waffenlieferungen des MIT (türkischer Geheimdienst) an Syrien aufgedeckt und publik gemacht.

Täglich gab es in der Türkei ab Beginn des Jahres 2015 Verfolgungen, Verhaftungen und Verdächtigungen gegen liberale Intellektuelle und Journalisten.

Jeder weiß, wohin das bis heute führte.

Im November 2015 wurde Can Dündar unter dem Verdacht der Spionage (Weitergabe von Geheimdienstangelegenheiten) in Untersuchungshaft genommen. In einer Art Tagebuch beschreibt er seine Beobachtungen und Erfahrungen mit dem zunehmend despotischen Regime unter Erdogan.

Erst mit dem Putschversuch am 15. Juli 2016, der glücklicherweise niedergeschlagen wurde, verschlechterte sich die Lage in der Türkei gegen jegliche Art von demokratischen Reformen oder Regungen.

Dündar drohte erneut eine lange Haftstrafe, und er trat die Flucht ins Ausland an.

Die Geschichte und politische Entwicklung in der Türkei ist verworren und für einen Außenstehenden schwer zu durchschauen. Insofern bietet Dündars Bericht eine Innenansicht über das, was in der Türkei momentan geschieht.

In seinem vorliegenden Buch beschreibt er sein Leben vor und während der Haft von November 2015 bis Ende Februar 2016.

Der Bericht ist detailreich, informativ und sehr menschlich in der Offenheit der Mitteilungen.

Zahlreiche Freunde, Kollegen und Bürger haben ihn beständig unterstützt und öffentlich gegen seine Inhaftierung protestiert. Ganz nebenbei erfährt man von seiner glücklichen Familie, seiner Frau Dilek und dem Sohn Ege, die ihm emotional tief verbunden sind.

Mit dem hier vorliegenden Bericht erfährt man zahlreiche Einzelheiten über den Alltag im Gefängnis Silivri. Hier sitzen vorwiegend gebildete und intellektuelle Persönlichkeiten ein, deren Ausstrahlung und Kraft eine stete Bedrohung für die Machthaber zu verkörpern scheinen.

Mit Einfallsreichtum und geistiger Potenz versucht Dündar, die Isolierzelle zu ertragen. Es kommen ihm immer neue Einfälle, sei es aus der Literatur, sei es aus Gedanken und Spielen, die ihn die harte Haft durchstehen lassen. Er ist trotz aller Unbilden voller Zuversicht und Hoffnung, dass er bald entlassen wird. Durch die schwere Zeit wird er getragen von der Zustimmung einer breiten Öffentlichkeit, vieler guter Kollegen, Freunde und immer wieder auch von Frau und Sohn. Teilweise sind seine Betrachtungen von feinfühliger, liebevoller und poetischer Kraft.

Hier ist ein warmherziger, freiheitlich gesinnter und liberaler Geist aus seinem Heimatland vertrieben worden, an dem er hängt, und für das er noch viel Gutes im Sinne von kultureller Prägung für eine freiheitliche Gesellschaft hätte beitragen können. Hoffen wir, dass die Verhältnisse in der Türkei eines Tages die Menge der liberalen und gebildeten Freigeister zurückkehren und zum guten Leben in der Türkei beitragen lassen werden! Als Appel dazu kann man das Buch von Can Dündar nur begrüßen.

Can Dündar
Lebenslang für die Wahrheit
304 Seiten, gebunden
HOFFMANN UND CAMPE, September 2016
ISBN-10: 3455504248
ISBN-13: 978-3455504248
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David Foenkinos: Charlotte

David Foenkinos: Charlotte

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Biographie

Der wunderbare Erzähler David Foenkinos hat sich der Biographie einer ungewöhnlichen Frau genähert. Er ist fasziniert von einer Künstlerin, die durch die Nazis umgebracht wurde und in wunderbaren expressionistischen Bildern die Geschichte ihres Lebens hinterlassen hat. Auf dem Umschlagsbild sieht man das Selbstporträt der Künstlerin: skeptisch, trotzig und abwartend!

Charlotte Salomon, geb. 1917, war Zeichnerin und Malerin und hat ihr besonderes Talent für die Malerei nur kurz feiern können. Sie war Jüdin und musste eine lange Flucht mit Verlusten überstehen, als die Judenverfolgung in Deutschland mit ihren Auswüchsen ihren Anfang nahm.

Doch wie begann das alles?

David Foenkinos berichtet über seine Entdeckung der Malerin und der Suche nach ihren Wurzeln. Er ist begeistert von ihr und verwendet in seinem vorliegenden Roman die Form der klaren Erzählung im Wechsel mit seinen eigenen Forschungen nach ihrem Werdegang. Ohne hier alles vorwegzunehmen, kann man sagen, dass auf ihrer Familie ein schweres Schicksal lastete. Zahlreiche Suizide haben in ungewöhnlicher Weise einzelne Familienmitglieder aus dem Leben gerissen.

Charlotte erfährt erst spät, wie ihre Mutter gestorben ist und besuchte in frühester Kindheit schon das Grab der Schwester ihrer Mutter, die ihren Namen trug. Die Mutter starb 1926 ebenfalls durch Suizid.

Die Künstlerin wirkte wie ein erschrockener Mensch, der sich schon in frühester Kindheit tragischen Familienereignissen ausgesetzt sah, ohne diese zu verstehen. Sie machten sie einsam und ließen sie früh schon zum Zeichenstift greifen.

Der Vater hatte 1930 in zweiter Ehe eine bekannte Konzertsängerin geehelicht, die von Charlotte sehr akzeptiert wurde. Man führte in Berlin Charlottenburg ein großbürgerliches Leben. Bekannte jüdische Künstler, Wissenschaftler und Größen aus Forschung und Lehre verkehrten in dem geselligen Haus.

Nach Hitlers Machtergreifung 1933 wurde das Leben für Juden jedoch ungeheuer schwer. Jeder kennt die Folgen.

Charlotte gelingt dank ihrer außergewöhnlichen Begabung und Befürwortung durch einen Kunstlehrer zunächst noch die Aufnahme in die Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst. Doch auch das Glück dieser Tage endete durch die politischen Ereignisse.

Foenkinos hat eine Gabe, klar und nüchtern und doch ansprechend zu erzählen. Er beschreibt detailgenau, wie er für dieses Sujet zu eben dieser Erzählweise fand. Die knappen und kurzen Sätze ergeben ein ungeschöntes aber wahrheitsgetreues Bild der Künstlerin. Jeder Satz beginnt auf einer neuen Zeile, als solle ihm damit Nachdruck verliehen werden.

Durch die Erzählweise in dieser besonderen Form, in der das Leben von Charlotte Salomon noch einmal heraufbeschworen wird, erfährt man von einer Ausnahmekünstlerin mit ihrer besonderen Ausstrahlung.

Obwohl sie innerlich einsam war, besaß sie doch enorme seelische Kräfte. Eine kurze Liebesaffäre mit dem Gesangslehrer ihrer Stiefmutter ließ sie nie mehr los. Die Geschicke der Zeit im dritten Reich führten sie auf einem langen Weg über Frankreich und das Lager Gurs nach Südfrankreich, wo sie für einige Zeit sicher war.

Ihre Lebensgeschichte hat sie in einer Zeichenmappe mit dem Titel „Leben? Oder Theater?“ mit Bildern und Texten als Vermächtnis hinterlassen. In zahlreiche Ausstellungen waren ihre Bilder seither immer wieder zu betrachten. David Foenkinos ließen sie nie mehr los!

Man bleibt fasziniert und vertieft sich mit anhaltendem Interesse in die Geschichte dieser feinen, sensiblen und tief fühlenden Künstlerin, die wie so viele andere am Ende den Tod im KZ fand.

Foenkinos hat ihr mit seiner fabelhaften Erzählweise in der Übersetzung von Christian Kolb Ausdruck und Leben verliehen.

David Foenkinos
Charlotte
240 Seiten, gebunden
Deutsche Verlags-Anstalt, August 2015
ISBN-10: 3421047081
ISBN-13: 978-3421047083
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