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Schlagwort: Wandel

Annie Ernaux: Die Jahre

Annie Ernaux: Die Jahre

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Die 1940 geborene Annie Ernaux erzählt in ihrer hier vorliegenden Biographie „Die Jahre“ zunächst ausführlich über ihre Kindheit und Jugend in Frankreich in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Lebenserinnerungen reichen weit bis zum Ende des Jahrhunderts und darüber hinaus.

Sie schreibt ihre Biographie nicht in der Ichform, sondern verfremdet. Von „dem Mädchen“ oder „der Frau“ ist die Rede. Es geht um Bilder in Worten, in denen sie ein Gesellschaftsbild über ein halbes Jahrhundert vor uns ausbreitet.

Mit treffend und sprachgewaltig formulierten Sätzen, prägnant und genau, fängt sie die Atmosphäre einer ganzen Generation ein. In Frankreich sieht das genauso aus wie in Deutschland. Man spielt in der Kindheit die gleichen Kinderspiele wie Ringlein du musst wandern, Plumpsack oder Hinkelkästchen. Man hatte wenig zu essen, und es gab Läuse und zahlreiche andere mehr oder weniger dramatische Kinderkrankheiten. Fernsehen gab es noch nicht, aber die Erwachsenen sprachen viel von der Vergangenheit. „In den Erzählungen der Vergangenheit gab es nichts als Hunger und Krieg.“ (S. 23)

Man benutzte Plumpsklos und erfreute sich an den kleinen Dingen des Alltags. „Man lebte in der Nähe der Scheiße. Und machte Witze darüber.“ (S. 39) Man hörte Schlager und wünschte sich als Kind, nur schnell erwachsen werden zu können. „Wenn jemand starb, konnte uns das nichts anhaben“ (S.33) Im Flüsterton nur wurde über Dinge gesprochen, von denen die Erwachsenen nichts wissen durften.

Die katholische Kirche spielt eine zentrale Rolle, und dass „Lehrer und andere Gebildete nicht an Gott glaubten, war eine Anomalie.“ (S.46)

Später folgen die Studienjahre, Sex und andere Fragen, die die Autorin und ihre Altersgenossen von den Themen der Elternhäuser entfernen. Die Suche nach der eigenen Identität spielt eine raumgreifende Rolle. Sartre, Camus und Simone de Beauvoir begeistern die intellektuelle Jugend.

Weiter geht es durch die Jahre des Wandels in der Moral und mit der Rebellion der 68ziger.

Man studiert, bekommt Kinder, Ehe und Scheidungen schließen sich an.

Die Erzählung folgt dem Lauf der Jahre mit den eigenen Veränderungen und der neuen Rolle zwischen Eltern und Kindern. Freiheit und Gleichheit werden gelebt. Das Alter oder der Tod betrifft die „Älteren“ nicht aber einen selber.  Leider lässt sich auf Dauer nicht leugnen, dass das Älterwerden in mentaler und physischer Hinsicht ein unaufhaltbarer Prozess ist, der niemanden verschont! Auch das wird vermerkt.

Geschichtliche Veränderungen und Ereignisse bringen neue Kriege und Unruheherde in die Welt.

In distanziertem Stil wird ein Zeitkolorit entworfen, das seinesgleichen sucht: treffend und genau, witzig und humorvoll werden die Lebensabschnitte abgehandelt.

Die verfremdete Form, mit der die Autorin über ihre Vergangenheit berichtet, gibt dem Ganzen eine Allgemeingültigkeit, die ihre Aufzeichnungen wirklich denkwürdig machen.

Wer in dieser Zeit Kind und Heranwachsender war, wer die Jahre bis zur Jahrtausendwende erlebt hat, wird alles genauso beschrieben finden, wie es war.

Der Bericht rührt an die eigenen Gefühle und Erinnerungen. Damit bietet er einen Wiedererkennungswert, der anrührend ist. Der letzte Satz lautet “Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird“. Das ist es!

Annie Ernaux lebt in Frankreich und ist vielfach ausgezeichnet.

Annie Ernaux
Die Jahre
255 Seiten, gebunden
Suhrkamp Verlag, Auflage 2, September 2017
ISBN-10: 3518225022
ISBN-13: 978-3518225028
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