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Schlagwort: Wirklichkeit

Julia Schoch: Das Vorkommnis

Julia Schoch: Das Vorkommnis

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Die Geschichte einer namenlosen Frau beginnt überraschend: es handelt sich um eine Schriftstellerin, die im Kulturzentrum einer Norddeutschen Stadt aus einem neuen Buch liest.
Während sie nach der Lesung Bücher signiert, spricht eine fremde Frau sie mit den Worten an: “wir haben übrigens den gleichen Vater.“ Sie springt auf und umarmt diese.

Was ist nur los mit ihr?

In der Folge erfährt man, wie sie lebt, was sie gerade tut, und wie es ihr geht.
Sie hat zwei kleine Kinder und einen Ehemann. Lesungen und Literaturaufträge führen sie bis nach Amerika.

In langen Reflexionen, die wie Träume daherkommen, erinnert sie sich an ihre Kindheit und ihre Eltern. Das Geheimnis um eine unbekannte Schwester treibt sie um. Als habe sie es immer schon geahnt, dass es ein Familiengeheimnis gibt!

Julia Schoch schreibt über eine Begebenheit, die in ihren Dimensionen immer weitere Blüten in der Fantasie ihrer Heldin treibt. Es geht um unerwünschte Schwangerschaften, Eheleben, Veränderungen und auch um das Leben in der DDR.

In langen Passagen wendet die Protagonistin ihre Zweifel über das, was wirklich ist und was nur Fantasie, immer intensiver hin und her. Sie wird ihren eigenen Einschätzungen gegenüber misstrauisch. Ihr Mann, ein unkomplizierter Typ, tut ihre Infragestellungen ab, er kann sie nicht verstehen.

Julia Schoch hat ein sehr reflektiertes Werk verfasst. Der Leser:in folgt dem Wahn der Icherzählerin, alles und jedes zu hinterfragen und gerät selber ins Grübeln. Leider vergiftet die Selbstbefragung nach und das Denken der Erzählerin, deren als Biographie bezeichnetes Leben sich vor uns abspielt. Sie wirkt dadurch der Gegenwart entrückt und in großer Distanz zu ihren Kindern, ihrer Mutter und auch ihrem Mann. Das Geheimnis um die fremde Frau lüftet sich, und ja, es gibt Dinge in Familien, die wir nicht wissen. Dass sie jedoch eine Art Unwirklichkeitsgefühle im Menschen auslösen mögen, mag sein. Insgesamt aber sind existenzielle Fragen nach den Veränderungen im Wesen, Verhalten und Aussehen natürlich und folgerichtig. Auch gibt es keine Statik zwischen Menschen. Von der Kindheit bis ins hohe Alter verändern sich Denken, Verhalten, Aussehen und die Ansichten. Julia Schoch ist es gelungen, mit psychologischem Feingefühl diesen Fragen nachzugehen.

Insofern ist die Geschichte gut konzipiert und durchaus realitätsnah. Wie zu lesen war, soll die „Biographie einer Frau“ noch Fortsetzungen erfahren. Wir dürfen neugierig bleiben!

Julia Schoch ist in der DDR geboren und aufgewachsen. Sie lebt in Potsdam und ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.

Julia Schoch
Das Vorkommnis
dtv Verlagsgesellschaf, Februar 2022
192 Seiten, gebunden
ISBN-10: 423290218
ISBN-13: 978-3423290210
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Zeruya Shalev: Schmerz

Zeruya Shalev: Schmerz

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Wie lebt es sich mit andauerndem Schmerz?

Iris ist Mutter zweier heranwachsender Kinder. Sie lebt in Israel und ist verheiratet mit Micki, der lieb und fürsorglich ist. Doch das wahre Glück empfindet sie mit ihm nicht!

Als sie vor zehn Jahren bei einem Attentat schwer verletzt wurde, blieb für immer ein körperlicher Schmerz, der sie zermürbt. Doch daneben gibt es einen anderen Schmerz, einen, der sie tiefer berührt, als der körperliche. Ihre frühe Jugendliebe Eitan hatte sich nach dem Tod seiner Mutter von ihr getrennt. Sie wusste nicht warum, doch sie empfand diesen Schmerz ebenso nachhaltig und beklemmend, wie den körperlichen Schmerz. Hier ist die Schnittstelle, die erklärt, dass der seelische und der körperliche Schmerz identische Pein auslösen können.

Zeruya Shalev schreibt ihre Geschichte von Iris in einem traumähnlichen und visionären Stil. Immer wieder tauchen Fragen nach der Vergangenheit auf. Iris sinniert und fantasiert und wird von ihren körperlichen und seelischen Schmerzen geschüttelt.

Eines Tages trifft sie Eitan nach dreißig Jahren auf einer Krankenstation wieder. Er ist Arzt und Schmerztherapeut. Sie kann es nicht fassen und folgt ihm, sucht ihn, trifft ihn. Wie soll ihr Leben weitergehen?

In einer langen Abhandlung folgt die Autorin den Spuren der Vergangenheit von Iris. Kann man versäumtes Glück nachholen?

Ist die Gegenwart mit der abdriftenden Tochter Alma nicht bedrängend genug, um sich Rechenschaft abzulegen über das, was war und was heute ist?

Der Reiz der Erzählung liegt in dieser taumelnden, schmerzhaften Befindlichkeit, der Zeruya Shalev beredt Ausdruck zu geben vermag. Der Erzählstrang dreht sich neben dem Alltag immer wieder um die Vergangenheit. Die Liebe zwischen Müttern und Töchtern wird ebenso thematisiert wie deren Heranwachsen und die Folgen einer lange bestehenden Ehe. Iris und Micki, der Sohn Omer und Alma sind alle auf ihre Weise in Entwicklungen verstrickt, die auf unterschiedliche Wege der Bewältigung warten.

Zeruya Shalev ist eine überzeugende Erzählerin, deren Geschichten durch lang anhaltende Reflexionen zu fesseln verstehen. Ihre Familiengeschichten sind generell von wechselnden Stimmungen, Erkenntnissen und Entwicklungen bestimmt. Subjektive Sichtweisen der einzelnen Protagonisten führen zu Missverständnissen, und eigene Anteile unerfüllten Lebens bringen Aufruhr und Unruhe in das gemeinsame Leben. Ihre Sprache ist eindringlich, poetisch und zuweilen fast biblisch in ihrer Diktion. Sie beschreibt emphatisch, wie es tief im Inneren ihrer Figuren aussieht.

Zeruyas Shalevs ist eine hoch angesehene israelische Autorin, deren Werke in viele Sprachen übersetzt wurden. Die Übersetzerin Mirjam Pressler darf man ebenfalls für ihre Übersetzungen rühmen.

Zeruya Shalev

Schmerz
368 Seiten, gebunden
Berlin Verlag, September 2015
ISBN-10: 382701185X
ISBN-13: 978-3827011855
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Bregje Hofstede: Der Himmel über Paris

Bregje Hofstede: Der Himmel über Paris

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Fluch und Segen der Liebe…

Mit feinem Stift und klugen Worten erzählt die Autorin Bregje Hofstede von einem Paar, das sich auf ungewöhnliche Weise kennen lernt und sich zu einander hingezogen fühlt.

Der mittel alte Professor der Kunstgeschichte Olivier soll sich auf Bitten seines Dekans um eine junge holländische Studentin kümmern, die er vorübergehend bei sich aufgenommen hat. Diese erinnert Olivier in auffallender Weise an seine frühe Jugendliebe Mathilde. Immer wieder muss er hinschauen und sich wundern über diese Ähnlichkeit!

Seine jetzige Freundin Sylvie, mit der er nicht zusammen lebt, ist patent und gegenwärtig. Die frühere Freundin aber lebt noch immer in seinen Fantasien in ihm fort.

Zuerst nur zögerlich, dann immer interessierter beschäftigt sich Olivier mit Fie, wie die junge Studentin heißt. Er lässt sich dazu herab, ihre Übungen zu Kunstbetrachtungen zu überprüfen und mit ihr zu diskutieren. Fie ist spröde, zurückhaltend und wartet ab.

Mit diesem Beginn ist schon alles gesagt, was in dem Roman der jungen Autorin abgehandelt wird.

Verstrickt in Vergangenes und fasziniert vom Gegenwärtigen gerät der renommierte Professor immer tiefer in eine Lebenskrise. Sein ganzes bisheriges Leben kommt dabei auf den Prüfstand. Am Ende steht nicht mehr ein Stein auf dem anderen. Es gilt, neue Perspektiven zu finden und nach ihnen zu leben.

Bregje Hofstede erzählt prägnant und weitblickend. Was Menschen mit ihrem Leben anfangen, und was aus ihnen werden kann. Scheu und verloren wirken die einen, stark und sicher die anderen. Die junge Studentin verantwortet mit ihrem Verhalten allerlei Widrigkeiten, unter denen Olivier unterzugehen droht. Die Nebenfiguren bieten die Reibungsfläche, unter der Schicksale zu zerschellen drohen.
Gelegentlich verwischen die Konturen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Ist das aber nicht im wirklichen Leben sehr ähnlich?

Menschen können an sich selber verzweifeln, wenn sich Wahrnehmung und Fantasie vermengen.

Es geht in dem Roman um Liebe, Treue und Zuverlässigkeit und um Rache und Verrat.

Eine erstaunlich einfühlsame Studie ist der jungen holländischen Autorin und der Übersetzerin Heike Baryga mit diesem Roman gelungen.

Bregje Hofstede
Der Himmel über Paris
224 Seiten, gebunden
H.Beck, August 2015
ISBN-10: 3406683436
ISBN-13: 978-3406683435
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Neil Gaiman: Der Ozean am Ende der Straße

Neil Gaiman: Der Ozean am Ende der Straße

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In diesem wunderbaren Roman steigt der Hauptprotagonist zurück in seine Kindheit, in der es voller märchenhaften Gestalten, Ungeheuern und Gespenstern nur so gewimmelt hat. Im Alter von sieben Jahren begegnet der Held Lettie Hempstock, die auf einem nahe gelegenen Bauernhof mit Mutter und Großmutter wohnt, und die ihn zu allerhand undurchsichtigen und abenteuerlichen Wundern verführt. Ein Ententeich wird für sie zum Ozean, hinter dem die Welt mit sonderlichen Begebenheiten lockt. Zuerst noch ist es die bäuerliche Küche mit ihren Genüssen, die den Icherzähler ermuntert, sich hier wohl zu fühlen. In ihr spürt man Wärme und Geborgenheit.

Bald schon erlebt man, wie der Junge mit sensibler Wahrnehmung seine Umwelt sieht. Sie ist erfüllt mit Ungeheuern und Gespenstern, Furcht erregenden Tieren und einer bösartigen Haushälterin, die das Regiment über die beiden Kinder seines arbeitenden Elternpaars übernommen hat. Die Erwachsenenwelt ist mächtig, übergroß und beängstigend.
Zwischen Fiktion und Wirklichkeit pendeln die Erfahrungen des kleinen, aufgeweckten und äußerst fantasiebegabten Jungen hin und her.

Figuren von Grausamkeit und Drohung ziehen uns mit hinab in die kindliche Seelenwelt und ermöglichen die Sichtweise früher Kinderjahre, in denen die Welt noch unerklärlich, spannend, magisch und ganz dem unwägbaren Seelenleben ausgeliefert ist. Wie Blitz und Donner, kindliche Flucht, Angst und gruselige Augenblicke hier artikuliert werden, das ist große Dichtkunst. Man fiebert mit dem kleinen Jungen mit und weiß nie genau, wo die Realität aufhört und das reiche Fantasieleben beginnt.

In Neil Gaiman gilt es erneut, einen amerikanischen Erzähler von Format zu entdecken. Dass die Geschichte zwischen Märchen und Realität schwankt und die Grenzen ganz unvermittelt wechseln, tut der großen Erzählkunst keinen Abbruch. Ein erstaunliches Werk, das für große und kleine Erwachsene bestens zur Unterhaltung geeignet ist.

Neil Gaiman
Der Ozean am Ende der Straße
240 Seiten, gebunden
Eichborn Verlag, Oktober
ISBN-10: 3847905791
ISBN-13: 978-3847905790
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