**Die Legende von Heilig**

Kali

Mitglied
Seid gegrüßt,

ich freue mich außerordentlich, hier dieses tolle Forum entdeckt zu haben und hoffe sehr, dass ihr mir ein wenig weiterhelfen und mich bei meiner Fantasy-Geschichte, an der ich bereits beinahe 5 Jahre (natürlich mit längeren Unterbrechungen) schreibe, unterstützen könnt. Bis dato sind es circa 90 Kapitel (längst nicht beendet), wobei ich hier den Prolog - zum besseren Verständnis des Ganzen - und einen kleineren Ausschnitt aus dem 1. Kapitel posten möchte.

Gerne würde ich von euch wissen, ob ich denn recht in der Annahme gehe, wenn ich glaube, dass es ziemlich klischeehaft beginnt, sprich, diesen typisch langweiligen Beginn einer Fantasy-Geschichte hat und was ich daher verbessern könnte, bzw. wie es spannender zu gestalten wäre. Dafür wäre ich wirklich dankbar, denn komstruktives Feedback bekommt man nun wirklich nicht an jeder Ecke :)

Infos zur Typographie: Kursiv=Gedanken/Vergangenheit;
Kursiv in Klammern=Stimme aus dem Unterbewusstsein
Hier nun zuerst der Prolog und danach der Auschnitt - circa 1/3 des 1. Kapitels:

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[PROLOG]

I.
Es gibt zwei Großmächte.
Die eine ist Gott. Die andere ist die, welche die erste Todsünde beging.
Es gibt ein Gleichgewicht dieser Großmächte -
dieses Gleichgewicht ist der Mensch.

Weder der einen, noch der anderen Großmacht ist es gestattet, in der Welt der Menschen direkt zu wirken;
kein Wesen eines der beiden Seiten darf auf der Erde erscheinen und dadurch in das Geschehen des Schicksals der Schöpfung eingreifen,
sich nicht als Mensch tarnen, nicht zu einem Menschen sprechen und ihn nicht mit Macht ausstatten.
Einzig unterbewusste Zusprache und Beeinflussung in geringem Maße sind erlaubt.

Wird eine dieser Regeln missachtet, zerbricht das Gleichgewicht und es gibt Krieg zwischen den Mächten.


II.
Es gibt die Reinkarnation.
Diese vollzieht sich nur, wenn -

die Seele eines Menschen sich nach dem Tode nicht für eine der beiden Großmächte entscheiden kann und ihrer nicht angehörig wird,
die Seele eines Menschen den Sinn ihres Todes nicht versteht und daher auf Erden umherwandelt, um in die Seelen neugeborenen Lebens einzufahren,
die Seele eines Menschen eine wichtige Aufgabe hatte, die sie vor ihrem Tode nicht erfüllen konnte oder
eine der beiden Großmächte sich entscheidet, die Seele eines Menschen nicht aufzunehmen oder diese Seele für eigene Zwecke einzusetzen.

Wird eine Seele wiedergeboren, die nicht wiedergeboren werden darf, zerbricht das Gleichgewicht.


III.
Es gibt die Schutzengel.
Da der Himmel Schöpfer der Menschen ist, obliegt es auch ihm, sie zu schützen.
Ein Schutzengel geleitet eine Seele in das Leben und auch später in den Tod und beschützt sie mit aller Macht, die er besitzt.
Unter besonderen Umständen kann er sich entschließen, sterblich zu werden.

Stirbt ein Schutzengel und erfüllt sich das Schicksal des Menschen, den er beschützt, dadurch nicht, zerbricht das Gleichgewicht.


IV.
Es gibt das Schicksal.
Das Schicksal ist so mächtig, dass es von Geburt an den Lauf der Dinge bestimmt.
Der Mensch kann ihm nicht entfliehen, es nicht ändern und er kann es nicht manipulieren.

Erfüllt sich das Schicksal eines Menschen durch unerfindliche Gründe nicht, zerbricht das Gleichgewicht.


V.
Sobald die Gefahr besteht, dass das Gleichgewicht gestört werden kann, wird jede der beiden Großmächte sofort eingreifen und dieses mit Gewalt herbeiführen.

-

6707 zerbrach das Gleichgewicht zum ersten Mal.
Und beinahe alle Seelen der Schöpfung kehrten nicht wieder heim.​

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Kapitel I, Das Erbe

7039.
Schlossfriedhof von Corona - das Reich der heiligen Drachen, die dem Himmel geopfert wurden


Der Himmel weinte.

(Warum)
Weinte nun schon seit Tagen und Nächten und bedeckte die Erde Coronas unaufhörlich mit seinen kalten, schweren Tränen.
(Warum weinst du?)
Das Heulen des aufbegehrenden Windes glich dem eines bedrohlichen Tieres, das hungrig durch das Land streifte. Kräftige Äste peitschten durch den Wind, von Blättern längst verlassen, nass und nackt - dunkle Skelette der Natur. Zu den dicken Wurzeln großgewachsener Bäume hatten sich die weiten Grasflächen in einen Teppich aus tobenden Halmen verwandelt; umliegende Bauten aus Stein und Holz bröckelten und knarrten, als trieben Geister darin ihr Unheil.
(Und warum)
Es waren wohl auch die Geister, welche das Gestein der Statuen splitterten, die das Königsgrab bewachten. Graue Brocken schlugen dumpf in den Schlamm.
(warum schreist du so?)
Als der Wind an den Statuen vorüberjagte, regten sich ihre Häupter nicht. Starr blickten ihre Augen hinunter zur Stätte der Mächtigen, Regentropfen sammelte sich an den Rändern ihrer Lider, sodass man fast glauben mochte, sie weinten. Ihre großen schweren Flügel hingen in der kalten Luft, als könnten sie jeglicher Anziehungskraft mühelos trotzen.
Ein einzelnes tiefes Schluchzen drang durch die Tränen des Himmels hindurch. Sein Klang wurde dabei durch den heulenden Atem des Windes zu den steinernen Engeln hinaufgetragen, deren Saum dabei reglos die durchnässte Kleidung ihres Besuchers berührte. Bebend kniete dieser auf Stein und Dreck, vor sich trauernde und verwehte Blumenkränze, deren Farbe von der Witterung längst aufgesogen worden war.
>>Warum ...!<< Der Wind blies eine weitere kalte Welle durch die Reihen der Steine.
>>Sag’ mir, warum!<<, rief der junge Mann am Grabe immer wieder zum Himmel, doch dieser blieb stumm, zu keiner Antwort fähig.
Fäuste schlugen sich in das nasse Gestein der Grabplatte. Als Blut darauf tropfte, wurde es sogleich vom Regen davon gespült.
>>WARUM!<<
(Du weißt doch, warum.)
Das hellbraune Haar hing ihm wirr ins Gesicht und klebte an der nassen Stirn. Kaum erkennbar liefen ihm Tränen die kalten Wangen hinab und er konnte ihren salzigen Geschmack auf der Zunge schmecken.
>Mein Sohn, es ist Zeit ...<
>>Nein!<<
>Ich muss nun gehen und dir den Platz räumen. Empfange dein Erbe - verteidige es.<
Er schlug die wunden Hände vors Gesicht.
>Hab’ keine -<
(Angst.)
Er dachte an die kalten Hände seines Vaters. Alles war kalt. Das Zimmer, das Bett. Die Flammen der Kerzen auf den Simsen kämpften um ihr Leben. Dann brach der Wind durch die Fenster.
>Denk an meine Bitte ...<
(Du wirst an ihr zugrunde gehen.)
Plötzlich erloschen die Kerzen. Das Wachs trocknete. Die Tränen am Leichnam seines Vaters trockneten. Und er schrie.
>>NEIN!<<
Ein Flügel brach neben ihm zu Boden. Und er bemerkte erschüttert, wie kalt auch seine eigenen Hände nun geworden waren.

>>Oh Majestät de Coron, was tut Ihr hier draußen in der eisigen Kälte?<< Die Stimme klang heiser und besorgt. Als er seinen Kopf wandte, legte sich auf einmal eine knochige, abgezehrte Hand auf seine Schulter. Sogleich brannte sich Entsetzen in seine Augen, die sich in den Höhlen weiteten, als er sie anstarrte. Maden tummelten sich zwischen angerissenen Sehnen und graurotem Muskelgewebe und ihr fauliges Fleisch roch nach grausamer Verwesung. So bittersüß, dachte er. Wie sonst nur die Toten rochen.
(Nur die Toten, Lio -)
>>-net?<<
Lionet wirbelte in der Hocke herum. Noch immer starrte er auf die Hand auf seiner Schulter und der alte Knecht, der hinter ihm stand, zog sie erschrocken zurück. Einen Moment lang sah dieser seinem Herrn in die rotgeränderten Augen. Regentropfen eilten in dünnen Bahnen in dem jungen Gesicht hinab. Die helle Haut war, wie auch der Himmel, von einem grauen Schleier bedeckt, das längere Haar von der Nässe dunkel gefärbt. Eine schwarze Kutte mit zurückgeworfener Kapuze drängte sich um einen schmalen Körper mit breiten Schultern.
>>Isaru?<<, fragte Lionet leise. Er blinzelte durch den Regen, als würde er seinen langjährigen Knecht kaum wiedererkennen.
Die kalkweiße, knochige Hand legte sich warm auf seine Stirn. >>Ihr habt Fieber, Majestät.<<
Der alte Isaru machte ein besorgtes Gesicht. Es war mit Falten übersät und schaute unter einem dicken Mantel hervor, welcher dick um den gebrechlichen Körper gehüllt war.
Er kannte den Jungen nun schon so lange. Als er vor dreiundzwanzig Jahren geboren wurde, hatte er ihn in Leinentücher gebettet und ihm während seiner Kindheit Lieder gesungen. Damals, als er einer kräftigen Stimme noch mächtig war und keinen Gehstock brauchte.
Isaru blickte in die Augen seines Gegenübers. Früher war er manchmal erschrocken über sie gewesen, erinnerte er sich jetzt. Erschrocken, weil die Augen des jungen Königs in eine Farbe getaucht waren, die zu leuchten schien, wie keine andere auf der Welt. Vor vielen Jahren glaubte er darin in manchen Stunden Kälte und Abweisung lesen zu können, nun waren diesen Gefühlen ausschließlich Trauer und Verzweiflung gewichen.
>Diese Augen müssen Göttliches sehen<, hatte der Priester bei der Taufe des Thronerben gesprochen. Seine krächzende Stimme hatte Ehrfurcht an den hohen Kirchenwänden widerhallen lassen, sodass Isaru und allen Umstehenden fast der Atem gestockt hatte. Göttliches, ja ..., dachte der Knecht niedergeschlagen.
Eine weitere Träne perlte aus Lionets Augen, um sogleich mit dem Regen zu verschmelzen.
Göttliches Elend.
Er spürte, wie der junge König mit kalten Fingern nach seiner verrunzelten Hand tastete.
>>Die Kerzen<<, flüsterte Lionet mit brüchiger Stimme und seine Gedanken schienen dabei abwesend. >>Ich muss sie wegbringen. Die Kerzen. Noch immer stehen sie dort - dort auf den Simsen. Und sie ... sie brennen einfach nicht mehr.<<
Lionets Stimme stürzte in sich zusammen und Isarus trübe Augen versanken in Traurigkeit. Er fühlte, wie der hölzerner Gehstock unter seiner Hand zitterte.
Die Kerzen. Sie hatten in Liam de Corons letzter Stunde gebrannt. Hatten auch während den letzten Atemzügen von dessen Frau gebrannt, als sie nur wenige Jahre nach Lionets Geburt verstarb. Und auch bei ihr waren sie plötzlich erloschen. Als hätten ihre Flammen die Tote mit in eine Welt begleitet, die nur sie in der Lage waren, zu erleuchten.
Der Junge hatte sie kaum kennen lernen können, seine wunderbare Mutter mit dem gütigen Blick und der wachen Intelligenz.
Amalia, hatten die Bäume gerauscht, als sie beigesetzt wurde. Isaru hatte das lautlose Klagen der umliegenden Natur genau gehört. Er hatte ihr Weinen gehört - getragen von Ästen und Kronen. Warum nur, Amalia ...?
Wenn er sich im Schloss aufhielt, schien es ihm manchmal, als würde ihr Geist noch immer durch die großen Säle streifen und deren steinerne Mauern mit ihrem lieblichen Duft erfüllen. Noch bevor sie damit begonnen hatte, mit leerem Blick aus dem Fenster zu starren und ... und nachts grauenerregend zu schreien und zu wimmern. Zu schreien, wie eine zu Tode gepeinigte Frau und zu wimmern, wie eine zurückgelassene Seele im Nichts. Und ihr Sohn war währenddessen immer an die verschlossene Türe ihres Schlafgemaches hingetreten und hatte leise gefragt: >Mutter, warum schreist du so? Hast du Schmerzen? Mutter ...<
(Warum lässt du nicht los?)
Doch wenn er jetzt mit seinem alten Krückstock gedankenverloren durch das Schloss ging, war es still. Und auch, wenn er auf den Thron starrte, saß dort kein König und auch keine Königin mehr. Dort saßen nur Geister.
Der Schmerz über den Tod seines Herrn, den er geschickt zu verdrängen versucht hatte, beschlich ihn erneut, als er Lionet vor sich sah, wie er ihn mit leeren Augen entgegen blickte, gleich dem kleinen und hilflosen Kind, das Jahre zuvor allein im Dunkel vor der Tür seiner schreienden Mutter stand und stumm weinte.
Sein Blick löste sich von dem jungen König und glitt hinauf zu den Engelsstatuen, die das Grab des Königspaares säumten.
Nun sind ihre Schutzengel zu Stein. Möchte ihr Geleit und Schutz eine andere Welt überdauern. Eine Welt, in der die verlorenen Seelen der Toten umherirren und den Weg allein einfach nicht finden.
>>I-Ich ...<< Lionets Stimme holte ihn zurück.
>>Ich kann das nicht. Ich k-kann nicht<<, sprach er mit schwankendem Tonfall und schüttelte den Kopf. Als Isaru Lionets kühles Gesicht zwischen beide Hände nahm, fiel der lange Gehstock klatschend in den Matsch.
>>Doch, Ihr könnt!<<, erwiderte er weinerlich. Seine alten Augen brannten, als sie sich mit Tränen füllten.
>>Spendet Eurem Volk Trost. Es braucht ihn. Es braucht Euch. Ihr seid seine einzige Kraft!<< Der Knecht dachte an die Worte der großen Gedenktafel in der Hauptstadt.
>>Wenn Ihr Euch zuschanden richtet, ist auch Corona dahin!<< Die Lippen des alten Mannes bebten und er grub seine Fingerspitzen in Lionets Wangen, in dessen Tränen. >>Dahin, hört Ihr?<<
Der junge König schüttelte wieder den Kopf. Dieses Mal stärker und dabei kniff er die Augen zusammen.
>>Niemals würde ich an Euch zweifeln<<, sagte Isaru eindringlich.
>>Euer Vater ...<< Er versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken. >>Euer Vater hätte dies auch nie getan!<<
Lionet presste die Augenlider stärker aufeinander. >>Habt Ihr gehört!<< Isarus Stimme klang in seinen Ohren auf einmal unglaublich stark, doch konnte sie ihre Verzweiflung nicht verbergen.
>>Hört Ihr!<< Der Druck in seinem Gesicht ließ nach und er konnte seinen Knecht sagen hören:
>>Vertraut auf Euch und seine weisen Worte, die er Euch vor seinem Tode hinterlassen hat.<<
Die Worte, die sein Vater ihm hinterlassen hatte ...
( Ja.
Die Worte deines Vaters, die von der Finsternis gefressen wurden.
Du hast sie schon so oft gehört. Vor dreihundert Jahren ...
da hast du sie gehört.)

Der junge König zuckte innerlich zusammen.
Er konnte sich nur zu gut an diese Worte erinnern.
Das Bild seines Vaters tauchte vor seinem inneren Auge auf, wie eine Seuche, die niemals auszurotten war. Er erinnerte sich an den schwachen und auf einmal so zerbrechlich wirkenden Körper. Wie er vor ihm gelegen hatte und ihm einen Moment lang wie ein Fremder vorkam - als wäre er nie sein Vater gewesen, sondern nur ein einfacher Mann, den er unbeachtet des Tages über einzig als schwache Silhouette im Raum wahrgenommen hatte.
Und dennoch hatte er bis zum Schluss seine Hand gehalten und an seinem Bett gewacht. Genauso wie viele Jahre zuvor noch an dessen Seite im Angesicht des Todes, der seiner Mutter erbarmungslos das junge Leben entrissen hatte. Als seine Mutter starb, war sie neunundzwanzig, ihr Gemahl Jahre danach fünfzig.
Kurz bevor Liam de Coron die Schwelle des Todes übertrat, überreichte er ihm das Erbe des Reiches Corona und zugleich seinen wertvollsten Besitz: Ein silbernes Kreuz.
>Hüte es wie dein Leben<, hörte er seinen Vater mit schwacher Stimme sprechen.
>Es wird Schutzherr deiner Seele sein, in schlimmster Zeit an deiner Seite wachen und dir Trost spenden, bis -< Er hatte den Satz nicht beendet. Stattdessen hatte er ihm den ersten Schrecken offenbart.
>Mein Sohn, trage meinen toten Körper nicht zu Grabe, sondern verlasse Corona so schnell es geht<, hatte er mit schwankender Stimme gesprochen und mit diesen Worten das Blut in seinen Adern in einen Fluss aus Eis gewandelt.
>Die Zeit rinnt gegen dich. Schon bald werden sie kommen, dann darfst du nicht hier sein. Nicht hier, verstehst du.<
Er hatte verständnislos den Kopf geschüttelt, während die Schatten der Kerzenflammen über seines Vaters Gesicht und das seine geflackert waren.
>Was sprichst du da in deinem Fieber ...!<, hatte er verständnislos erwidert.
>Du wirst mir nicht in den Tod folgen, Lionet. Nicht jetzt.< Sein Vater hatte den Kopf in das vom Schweiß durchnässte Kissen gepresst, als würde ihn eine unsichtbare Last nieder drücken. Und dann hatte er in die Flammen der Kerzen gestarrt. Seine grauen Augen schienen in ihrem dahinsterbenden Licht müde und gefüllt von endgültiger Resignation.
>Noch während mein Fleisch erkaltet, musst du von hier flüchten. Und noch während man mich salbt, musst du über die Grenzen brechen. Denn sie ... sie dürfen dich nicht kriegen. Niemals.<
>Wer sind sie ...?<, hatte er gefragt. Und noch nie war seine Zunge so taub gewesen.
Liam de Coron antwortete darauf nicht. Ruhig sagte er:
>Dir werden Menschen begegnen, die dazu geboren wurden, für dich zu sterben. Und dir werden Menschen begegnen, die dazu geboren wurden, dich in den Abgrund zu stürzen. In den tiefen Abgrund ... in den kein einziger Lichtstrahl dringt. Dort, wo nur Kälte ist.<
(Kälte, die deinen Spuren folgt. Wohin auch immer du gehst.)
Sein Vater hatte dabei seine Hand gedrückt und ihm traurig in die Augen gesehen. Und der zweite Schrecken hatte seinen Sohn in diesen Sekunden eingeholt.
>Du wirst auf deinem Weg auf einen Menschen treffen, in dessen Seele die Zwietracht lebt, wie sie nie einer anderen Seele zuteil wurde. Doch versprich mir, dass du nicht in seine Augen blicken wirst, sondern in sein Herz.< Tränen rannen auf einmal über Liams blasse Haut.
>Nicht in seine Augen, Lionet.< Er schluchzte. >Und in dieser Stunde sollst du mir meine Sünde für ihn vergeben. Und auch den Verrat an meinem geliebten Corona.<
(Ja. Es war Verrat. Nie gab es einen schändlicheren als diesen.)
Draußen tobte der Wind immer stärker.
>Mein Sohn, es ist Zeit ...<
>Nein!<
>Ich muss nun gehen und dir den Platz räumen. Empfange dein Erbe - verteidige es. Hab’ keine Angst.<
Die Kälte kam immer schneller, kroch die Wände empor, fraß das Bett und seinen Vater.
>Denk an meine Bitte ... und lauf’, lauf’ so schnell du kannst fort von hier, denn Corona ist von heute an ein Ort der Schatten.<
Die Kerzen, die bis dahin auf dem Nachttisch und den Fenstersimsen gebrannt hatten, erloschen jäh und verrieten das königliche Schlafzimmer an die lauernde Finsternis. Nur das Silberkreuz, das er in der Hand hielt, hatte geleuchtet und seinem traurigen Herzen einen geringen Trost gespendet, als er neben dem Bett seines Vaters zusammenbrach und bitterlich weinte. Und im hintersten Winkel seines Verstandes hatte eine leise Stimme zu ihm gesprochen.
(Von nun an bist du wieder allein.
Allein mit all der Schande, die noch immer an deinen erbärmlichen Händen haftet.)

Nach diesen Worten hatte er geschrien und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, während der Wind die Fenster aufriss und das Wachs an Liam de Corons Todeskerzen trocknete.
Allein.


Einen Tag später, nachdem drei Priester eingetroffen waren, hatten Lionet und sein Knecht mit unzähligen weiteren Soldaten des Kranzes und Bediensteten des Schlosses den leblosen Körper seines Vaters in einem schweren hellen Sarg aus Holz zu Grabe getragen, dessen Schwert und Schild mit dem Wappen Coronas auf seine Brust niedergelegt und ihn mit den Blüten der Lieblingsblumen seiner Frau bestreut.
(Du ...)
>Aus Erde bist du geschaffen, zur Erde sollst du werden,
(bist ...)
Erde zu Erde,
(allein ...)
Asche zu Asche,
(allein.)
Staub zu Staub.<

Das Grab des Verstorbenen war gleich neben dem seiner geliebten Königin ausgehoben worden und alles, was zurückgeblieb, war ein großer trostloser Grabstein zu Füßen zweier Engelsstatuen, in dem eingemeißelt zu lesen war:

~ Himmel und Erde sollen euer Sarg, Sonne und Mond euer königlicher Totenschmuck, die Sterne euer Geschmeide sein, und alle Geschöpfe sollen euch das Trauergeleit geben.
Euch - Amalia und Liam de Coron, Herrscher von Corona, dem Reich der heiligen Drachen, die dem Himmel geopfert wurden ~


Der Wind hatte sich sanft um den grauen Stein gehüllt, an dem sich bereits einige Ranken hochgewunden hatten und streichelte behutsam ihre grünen verdorrten Blätter, wie eine Mutter ihr liebstes Kind.
Die Führung Coronas war dahin. Und die Erinnerung an sie verewigt in Stein.
Nur wenige Menschen waren an jenem Tag der Beerdigung an das frische Seelengrab gekommen, doch in jedem Haus im ganzen Reich hatte eine Kerze im Fenster gestanden, die ein Licht der Trauer und des Trostes auf die ausgestorbenen Gassen warf. Tief in der Nacht, so berichteten Bürger der Hauptstadt Caelum später, waren ein paar Männer entdeckt worden, die etwas Großes zum Marktplatz an den Brunnen trugen. Es war eine große Steinplatte, welche eingemeißelte Buchstaben in sich trug. Am folgenden Morgen wurden sie von den ersten schwachen Strahlen der Sonne enthüllt:

MEIN HERR, WIR HABEN KEINE TRÄNEN MEHR​

Noch am selben Tag wurde Corona mit Unwetter und dem abgewandten Gesicht des Himmels gestraft. Das Blau des Himmels wandelte sich in Grau und die Sonne wurde von einer dicken Wolkenmauer verdrängt. Und so wurde auch das Hoffnungslicht der Menschen verdrängt und in ihren Herzen eingesperrt. So, dass sie es kaum bemerkten und stumm in ihren Häusern saßen, als sie kamen.


Arbeitszimmer des Königs

Schweigend saß er in dem alten Sessel seines Vaters, vor ihm der massive Schreibtisch aus Eichenholz, zu seinen Seiten hohe und reich verzierte Wände geschmückt mit Gemälden und edlen Teppichen, die seine Mutter vor Jahrzehnten über das graue Gestein gehängt hatte. Seine Mutter ...
Draußen heulte der Wind und Regen prasselte lautstark an die Scheiben, als wolle er mit aller Gewalt das Glas zum Splittern bringen.
Mutter ...
Trotz der Dunkelheit des Abends, die den Raum unter sich begraben hatte, erkannte er ihr helles Kleid und ihr Gesicht, welches genauso blass war wie der Stoff, der zu ihren Füßen über den Boden floss.
>Sieh nur Mutter, was ich dir mitgebracht habe ...<
Er blinzelte und erkannte seine eigene Gestalt, die vor der seiner Mutter kniete und nach ihrer Hand fasste. Damals reichte er ihr gerade einmal bis zur Hüfte und stolperte ihr unbeholfen hinterher, wenn sie gedankenverloren durch die Gänge strich; gleich einem Geist, der das Innere des Schlosses stumm zu bewachen schien, bis sie sein Gemäuer in der Nacht mit ihren verzweifelten Schreien füllte.
>Nur für dich liebste Mutter.<
Seine hohe und helle Stimme schien sie zu erschrecken und sie zuckte zusammen. Und auch er zuckte zusammen, wie sich dieses Bild so vor seinem Angesicht zu einem Trauerspiel aufbaute. Damals war er vielleicht fünf Jahre alt gewesen und er wusste - trotz der lückenhaften Erinnerung - er hatte all die Jahre, die er sie noch kennen durfte, um ihre Aufmerksamkeit gekämpft. Jeden Tag. Jeden Augenblick.
>Eine Blume, liebste Mutter ...< Als er zitternd ihre Hand berührte, war sie so kalt und starr wie die einer Toten. Ihr weißes Kleid schleifte über den kalten Boden, als sie einige Schritte zurückwich und er vor Schreck die Blume aus der Hand gleiten ließ. In ihren trüben Augen spiegelte sich Verwirrung und Ablehnung wider, die ihn wie ein harter Schlag ins Gesicht traf.
>Wie konntest du nur!<, brüllte sie plötzlich und Tränen stiegen ihm in die Augen. >Du darfst keine Blumen abreißen, du ungezogener Junge! Wenn du das tust, sterben sie! Musst du denn alles zerstören, musst du das!<
Und er weinte. So laut und verzweifelt, wie es nur ein Kind zu tun vermochte. Und dann ging sie einfach davon. So, wie sie es immer tat, wenn er Kontakt zu ihr suchte. Selbst wenn sie einen Moment lang gezwungen war, in seiner Nähe zu verweilen, neigte sie ihr Haupt zur Seite oder kehrte ihm den Rücken. Und bald darauf blickte er sie gar nicht mehr an; so, dass er schon beinahe vergaß, wie sie aussah. Für ihn war sie allezeit nur die Frau mit dem fahlen Gesicht und den eisigen Händen, die ihn beschimpfte, wenn sie überhaupt zu ihm sprach und dabei nie seinen Namen nannte. Nie tat sie das, er war immer nur der ungezogene, unverschämte und dumme Junge, vor dem sie in die ewig langen Gänge floh. Manchmal, als er ihr heimlich folgte, vernahm er ihre Stimme, die leise und dünn mit sich selbst redete, während sie aus einem der hohen Fenster in die endlose Ferne starrte und dabei schien, als wäre die Sonne am Himmel für sie nicht hell und warm, sondern schwarz und eisig.
Er schloss für einen Moment die Augen und als er sie wieder öffnete, war an die Stelle seiner kindlichen Gestalt jene seines Vaters getreten. Dieser starrte mit leerem Blick an die Wände und regte sich nicht.
>>Warum hat sie mich nicht geliebt?<<, fragte der junge König in die Dunkelheit und der Geist seines Vaters sah ihn an. >>Warum hielt sie mich selbst von ihrem Sterbebett fern? Warum schrie sie jede verdammte Nacht!<<
Liam de Coron wandte sich schweigend ab und verließ den Raum wie es zuvor seine Frau getan hatte.
>>Warum sah sie mich mit Verachtung und Entsetzen gleichermaßen an, so wie die Menschen einen Verfluchten ansehen ...?<<, flüsterte er weiter. >>Wer von seiner eigenen Mutter nicht geliebt wird, der wird auch nicht von Gott geliebt ...<<
Niemals geliebt.
Hinter ihm bekam das Glas der Fenster einen langen Sprung und draußen ertönten die ersten Schreie. Schrilles Pferdegewieher spaltete das Heulen des Windes und das Toben des Regens wie eine scharfe Klinge.
Reglos verweilte Lionet noch immer im Sessel, der im finsteren Raum stand und starrte verloren auf die offene Tür, durch die ihn seine Eltern auf Ewig verlassen hatten. Sein Name drang von draußen durch die Fenster an sein Gehör, doch es klang für ihn nur wie ein heiseres Flüstern, das der Wind davontrug.
>Schon bald werden sie kommen, dann darfst du nicht hier sein. Nicht hier, verstehst du.<
Seine starren Finger zuckten auf dem dunklen Samt der Sessellehne.
>Du wirst mir nicht in den Tod folgen, Lionet. Nicht jetzt.<
Seine trockenen Lippen zuckten, ohne dass er es bemerkte.
>Noch während mein Fleisch erkaltet, musst du von hier flüchten. Und noch während man mich salbt, musst du über die Grenzen brechen.<
Vor seinen Augen erkannte er den Priester und blickte hinunter auf dessen mit Gicht befallenen Hände, welche die Schale mit dem Öl hielten. Danach hatte er selbst das Leichentuch auf den starren Leib seines Vaters niedergelegt. Als er Liam de Coron eine Haarsträhne aus der Stirn strich, wusste er, dass er dem letzten Willen seines Vaters nicht gefolgt war. Er war geblieben. Und als er ihm das Gesicht für immer bedeckte, redete er sich ein, dass es das Fieber gewesen sein musste. Ja ... das Fieber.
>Sie dürfen dich nicht kriegen. Niemals<, hallte es in seinem Kopf.
Hinter ihm, weit unter den Fenstern, schrien Menschen wild durcheinander. Donner grollte und brachte Himmel, wie Erde zum Erzittern.
>Wer sind ...<
Ein Blitz erhellte plötzlich seine Gestalt und bohrte sich schmerzend in seine Augen.
>>... sie?<<

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