Ännchen Tann

Inge Anna

Mitglied
Ännchen Tann

Die diensthabende Nonne sprach das Abendgebet, das sich hinzog, als wolle es niemals enden. Wir alle im Schlafsaal ersehnten den Augenblick ihres "gute Nacht nun, ihr Schäflein", denn danach verließ sie eiligen Schrittes den Raum.

Ännchen Tann war meine Bettnachbarin und unsere erkorene Geschichtenerzählerin. Wir waren vereintes Ohr, wenn sie ihrer unerschöpflichen Fantasie freien Lauf ließ. Ännchen hatte es einfach drauf. Was uns da präsentiert wurde, strotzte vor Spannung - so jedenfalls drückte es Jutta Pelz, von allen Frau Holle genannt, aus, die sich mühte, Ännchen nachzueifern- dies allerdings mit kärglichem Erfolg.

Allabendlich unterhielt uns Ännchen, sorgte für stets willkommene Abwechslung.
Ännchen suchte meine Freundschaft; doch dagegen sperrte sich etwas in meinem Innersten und eben das zahlte sie mir heim.

Ein Abend im Dezember...
Im Internatsgebäude war die Heizung ausgefallen. Frösteln krochen wir zwischen klammes Bettzeug. Schwester Leonardis machte es kurz mit dem Beten - offenbar fror auch sie. Nachdem der gewohnte Gutenachtgruß angebracht, die Tür polternd ins Schloss fiel, hätte uns eine Ännchen-Geschichte gewiss abgelenkt, allen Kälteschauern zum Trotz; doch Ännchen hustete uns was. Sie friere sich zu Tode, gab sie von sich - eine von uns solle ihr die Füße wärmen.
Da schlüpfte sie auch schon zu mir ins Bett, umschlang mich fest - und so lagen wir, als Schwester Leonardis überraschend den Raum betrat. Sie riss uns die Zudecke fort und zerrte mich vors Bett. Sogleich wartete Ännchen mit einer Geschichte auf, meine Schamlosigkeit zum Inhalt. Die Nonne hieß mich niederknien auf den eiskalten Fußboden. Sie ohrfeigte mich mehrmals und gebot mir Sofortbuße. Ich musste mich zu Dingen bekennen, die ich niemals getan hatte. Von der Erzieherin diktierte Worte galt es, nachzusprechen: "Bestrafe mich, Gott, aufs Schwerste. Was ich tat, ist schändlich und kann nur vergebung finden, wenn ich in mich gehe und aufrichtig bereue."
Ich musste mehrfach wiederholen. Mich fror erbärmlich, doch die Nonne ließ Schwäche nicht gelten.
Einige meiner Gefährtinnen erflehten Gnade für mich, was die Lage jedoch nicht änderte.
Wenige Tage später bekam ich eine schwere Lungenentzündung, vermutlich Gottes Strafe, doch wofür?

Nach meiner Genesung sprach Ännchen kein Wort mehr mit mir.
Ach, Ännchen, nie erfuhr ich, was später aus dir geworden ist.
Wollte ich das wirklich wissen?
 
H

Heidrun D.

Gast
Tja, Inge Anna,

wer "Vergebung" klein schreibt, dem kann wohl nicht vergeben werden, hihihi ;)

schändlich und kann nur [blue]v[/blue]ergebung finden, wenn ich in mich gehe und
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Eine traurig-schöne Geschichte, wie sie in vielen Internaten spielen könnte, vielleicht in jeder denkbaren Kindheit.

Wie oft werden Heranwachsende für etwas bestraft, das ihnen völlig im Dunkel liegt, unberechenbar und gnadenlos ... -

Interessant finde ich die Namensgleichheit von Ännchen und Inge Anna.

Liebe Grüße
Heidrun
 

Inge Anna

Mitglied
Ännchen Tann

Die diensthabende Nonne sprach das Abendgebet, das sich hinzog, als wolle es niemals enden. Wir alle im Schlafsaal ersehnten den Augenblick ihres "gute Nacht nun, ihr Schäflein", denn danach verließ sie eiligen Schrittes den Raum.

Ännchen Tann war meine Bettnachbarin und unsere erkorene Geschichtenerzählerin. Wir waren vereintes Ohr, wenn sie ihrer unerschöpflichen Fantasie freien Lauf ließ. Ännchen hatte es einfach drauf. Was uns da präsentiert wurde, strotzte vor Spannung - so jedenfalls drückte es Jutta Pelz, von allen Frau Holle genannt, aus, die sich mühte, Ännchen nachzueifern- dies allerdings mit kärglichem Erfolg.

Allabendlich unterhielt uns Ännchen, sorgte für stets willkommene Abwechslung.
Ännchen suchte meine Freundschaft; doch dagegen sperrte sich etwas in meinem Innersten und eben das zahlte sie mir heim.

Ein Abend im Dezember...
Im Internatsgebäude war die Heizung ausgefallen. Frösteln krochen wir zwischen klammes Bettzeug. Schwester Leonardis machte es kurz mit dem Beten - offenbar fror auch sie. Nachdem der gewohnte Gutenachtgruß angebracht, die Tür polternd ins Schloss fiel, hätte uns eine Ännchen-Geschichte gewiss abgelenkt, allen Kälteschauern zum Trotz; doch Ännchen hustete uns was. Sie friere sich zu Tode, gab sie von sich - eine von uns solle ihr die Füße wärmen.
Da schlüpfte sie auch schon zu mir ins Bett, umschlang mich fest - und so lagen wir, als Schwester Leonardis überraschend den Raum betrat. Sie riss uns die Zudecke fort und zerrte mich vors Bett. Sogleich wartete Ännchen mit einer Geschichte auf, meine Schamlosigkeit zum Inhalt. Die Nonne hieß mich niederknien auf den eiskalten Fußboden. Sie ohrfeigte mich mehrmals und gebot mir Sofortbuße. Ich musste mich zu Dingen bekennen, die ich niemals getan hatte. Von der Erzieherin diktierte Worte galt es, nachzusprechen: "Bestrafe mich, Gott, aufs Schwerste. Was ich tat, ist schändlich und kann nur Vergebung finden, wenn ich in mich gehe und aufrichtig bereue."
Ich musste mehrfach wiederholen. Mich fror erbärmlich, doch die Nonne ließ Schwäche nicht gelten.
Einige meiner Gefährtinnen erflehten Gnade für mich, was die Lage jedoch nicht änderte.
Wenige Tage später bekam ich eine schwere Lungenentzündung, vermutlich Gottes Strafe, doch wofür?

Nach meiner Genesung sprach Ännchen kein Wort mehr mit mir.
Ach, Ännchen, nie erfuhr ich, was später aus dir geworden ist.
Wollte ich das wirklich wissen?
 



 
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