(Zehn Milligramm) Teer in meiner Lunge

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„ Bitte nehmen Sie Platz.“
Die Arzthelferin, eine Frau um die dreißig mit teerschwarzem Haar und analysierendem Blick, lächelte mich an und konzentrierte sich dann wieder auf ihre Arbeit – vor ihr lagen aufgeschlagene Patientenakten, in denen persönliche Daten, Diagnosen und Krankheitsverläufe erfasst wurden. Als treuer Fan der Serie General Hospital kannte ich mich aus.
Dr. Paul arbeitete als Internist, wie das Praxisschild an der Hauswand neben der Einganstüre verkündete. Das Wartezimmer der Praxis, zu der ich drei Treppen hinauf steigen musste, war erstaunlich klein, hell und billig? ;Stühle mit Plastiksitzen und Stahlbeinen umrahmten einen Tisch mit einer Glasplatte, auf dem ein Stapel Zeitschriften lag; ich griff mir eine Illustrierte heraus und nahm in dem leeren Wartezimmer platz – zwar hatte ich keinen Termin, doch da ich der einzige Patient war, würde ich vermutlich nicht lange warten müssen.
Ich hustete trocken. Vor etwa einem halben Jahr hatte ich das aufgehört zu rauchen, doch seit etwa drei Wochen plagten mich trockener Husten und ein schleimiger Auswurf – die Angst, an Lungenkrebs erkrankt zu sein, hatte mich in die Praxis von Dr.Paul getrieben, den meine Ex-Freundin mir empfohlen hatte, nachdem wir bereits getrennte Wege gingen. Zwar nahm ich an, dass ich mich umsonst verrückt machte, und dass Hypochondrie meine Angst verstärkte, doch ich wollte mir meine Diagnose von Dr.Paul amtlich bestätigen lassen. Sicher ist sicher.
Ich las einen Artikel über die Trennung eines prominenten Paares, als auf dem Flur Stimmen erklangen; kurz darauf öffnete sich die Tür des Wartezimmers und eine Frau betrat den Raum und musterte mich kurz, während sie ihren Mantel an die Garderobe hängte.
„Hallo“, sagte sie.
„Hi“, antwortete ich.
Sie nahm eine Zeitschrift vom Tisch, setzte sich und fing an zu lesen; rote Locken umrahmten ein konturreiches Gesicht, in dem die blauen Pupillen, den Worten und Bildern in der Zeitschrift folgend, von links nach rechts wanderten. Ihre rot-schwarz karierte Bluse lag eng über einem schwarzen Rock, und ihre Beine, die sie übereinander geschlagen hatte, steckten in grauen Nylonstrumpfhosen, die in braunen Stiefeln aus Wildleder endeten.
„Kennen wir uns?“, fuhr sie mich an, und ich begriff, dass mein Blick eine Idee zu lang über ihren Körper geglitten war.
„Noch nicht“, entgegnete ich, woraufhin sie ihre Lippen zu einem Ausdruck spöttischen Lächelns verzog und sich wieder in ihre Lektüre vertiefte.
„Ich bin Sam“, fügte ich hinzu, weil ich hoffte, so ein Gespräch mit ihr anfangen zu können – zum einen, um die Wartezeit zu überbrücken und zum anderen, weil sie mir gefiel. Doch in diesem Moment erklang die Stimme der Arzthelferin über die Sprechanlage: „Frau Hint, Zimmer 4 bitte“. Frau Hint erhob sich, legte die Zeitschrift zurück auf den Tisch und verschwand aus dem Wartezimmer, während ich mich noch fragte, warum sie vor mir aufgerufen worden war.
Inzwischen hatte ich die Illustrierte zu Ende gelesen, und griff nach der nächsten – die funkgenaue Uhr an meinem Arm zeigte 17 Uhr an, und draußen begann es bereits zu dämmern. Schließlich hatte ich auch die zweite Zeitschrift durch, und immer noch war ich der einzige Patient im Wartezimmer. Leicht verärgert fragte ich mich, wie es so lange dauern konnte, zwei Patienten abzufertigen, die augenscheinlich weder unter Lepra noch unter einer anderen Seuche litten.
Während ich mir die dritte Zeitschrift vom Tisch nahm, ruckelte ein undeutliches Gefühl durch meinen Schädel – ein Gefühl flüchtigen Erkennens – doch ich vermochte nicht zu sagen, was mir missfiel, abgesehen davon, dass ich bereits seit fast zwei Stunden wartete. Ich gähnte und blätterte durch die Seiten, auf denen Automobile in allen Größen und Farben abgebildet waren, nur unterbrochen durch Werbeanzeigen; eine davon warb für ein neues, ultraleichtes Handy. Ich besaß kein Handy und wollte auch keins –ich hasste die Dinger wie die Pest.
In diesem Moment klingelte es bei mir.
Ich war seit zwei Stunden in diesem Zimmer.
Ich hatte in der ganzen Zeit kein einziges Gespräch auf dem Flur vernommen.
Und die Stimme der Arzthelferin hatte ich zuletzt vor einer Ewigkeit gehört, als sie Frau Hint aufgerufen hatte.
Ich erhob mich von meinem Platz, wobei mir ein Kribbeln durch die Beine jagte, und öffnete die Türe des Warteraums.
Im Empfangsbereich herrschte gähnende Leere.
„Hallo“ rief ich so laut, dass man mich noch im letzten Raum der Praxis hören musste.
Keine Antwort.
Ich griff nach der Türklinke und drückte sie hinunter, doch die Türe öffnete sich nicht; als ich mich fragte, ob man mich tatsächlich vergessen haben konnte, fiel mir ein, das im Warteraum noch immer der Mantel von meiner Mitpatientin hing. Soll niemand diese Praxis betreten oder darf niemand die Praxis verlassen? Eine Gänsehaut breitete sich von meinem Schulteransatz bis zu meinem Steißbein aus.
Als ich mich umsah, fiel mein Blick auf das Telefon am Empfang; ich ging hinter die Empfangs-Theke und nahm den Hörer von der Gabel: die Leitung war tot. Ich zog an der Schnur und hielt sie plötzlich in der Hand – das Telefon war weder angeschlossen, noch gab es einen Anschluss.
„Hallo? Ist hier noch jemand?“ brüllte ich. Totenstille.
Ich ging auf den Flur und verschaffte mir einen Überblick: links und rechts waren jeweils zwei geschlossene Türen. Ich öffnete die Erste und blickte in einen Raum, in dem lediglich einsam ein schäbiger Klappstuhl stand; rechts war ein Waschbecken, neben dem an einem in der Wand eingelassenen Hacken ein blauer Kittel hing.
Raum Nummer zwei und drei verblüfften mich vollends – sie waren völlig leer.
Dann öffnete ich Raum Nummer vier.
Diesen Anblick werde ich mit in die Ewigkeit nehmen.
Auf beiden Seiten des Raumes hingen Regale an der Wand, auf denen verloren ein einziges Gefäß mit einer klaren Flüssigkeit stand, in dem ein Gegenstand schwamm. Nein, kein Gegenstand. Ein Organ, vermutlich eine Niere. In der Mitte des Raumes stand eine Streckbank, wie ich sie aus alten Gruselfilmen kannte; am Kopfende der Bank waren an Metallstangen zwei armbreite Halterungen befestigt. Im grellen Neonlicht kontrastierten die weißen Wände zu den Blutlachen auf dem Fußboden; auf einem kleinen Beistelltisch am Fußende der Bank lagen besteckähnliche Gegenstände – als ich genauer hinsah, erkannte ich ein blutiges Seziermesser, eine Spritze mit einer etwa 4 cm langen Nadel und einen löffelförmigen Gegenstand, an dem menschliches? Gewebe klebte.
Am anderen Ende des Raumes war eine weitere Türe.
Ich durchquerte den Raum, unterdrückte den mich überkommenden Brechreiz und öffnete die Türe mit der Vorsicht eines Einbrechers – sie führte auf einen schmalen, dunkeln Flur, an dessen ende eine Treppe nach unten führte. Ich tastete nach einem Lichtschalter, doch meine Hand griff ins Leere, und so ging ich mit kleinen Schritten durch den Gang und die Treppe hinunter in ein Gewölbe, das von verwinkelten Gängen durchzogen war. Etwas krabbelte über meinen Nacken und ich schlug mit meiner Hand zu; ein Insekt? fiel zu Boden und verschwand aus meinem Blickfeld. Durch ein in die Mauer eingelassenes Gitter fiel Laternenlicht schwach ein und ermöglichte mir zu erkennen, dass vor mir ein Gang nach links verzweigte. Ich tastete mich an der Wand entlang, und bog um die Ecke, als ich mit dem Fuß gegen etwas Hartes stieß. Zunächst dachte ich, ich wäre gegen eine Wand gelaufen, doch dann zog ein Hauch wie von einem Ventilator an meinen Schuhen hoch in meine Hose. Verwundert steckte ich meine Hände in die Taschen, und schalt mich augenblicklich einen Idiot: ich hatte dass Feuerzeug, welches ich in meiner Hosentasche bei mir trug, völlig vergessen – eine alte Gewohnheit aus meinen Rauchertagen. Ich drehte den Feuerstein, und eine Flamme züngelte aus dem kleinen Gasfeuerzeug und warf meinen Schatten auf eine schwere Doppeltüre aus massivem Metall, die mit einem Stahlbolzen verschlossen war. Ich zog mit aller Kraft an dem Bolzen und schob ihn soweit zur Seite, dass sich die Türe öffnen ließ. Ein eisiger Luftzug wie aus einem Kühlschrank schlug mir entgegen und ich begriff, dass ich mich in einem Kühlraum befand. Ich zog überrascht die Luft ein – der Raum war völlig leer, doch im Schein meines Feuerzeugs sah ich Blut, wohin ich auch sah; selbst an der Decke waren getrocknete Flecken, und ich stand mitten in einer Blutpfütze. Ich stolperte einen Schritt zurück; was immer in diesem Raum deponiert worden war – und ich schloss Tierkadaver kategorisch aus – hatten Sie? Er? weggeschafft.
Ich ging vorsichtig durch den schmalen Gang zurück, die Treppe hoch und in den – Sezierraum – doch als ich an dem vergessenen? Einmachglas vorbei an der Türe zum Gang angelangt war, hielt ich einen Moment inne. Ein Stöhnen erklang vor der Türe; ich öffnete sie einen Spalt, und dürre, blutleere Finger zwängten sich durch den Schlitz, begleitet von einem gurgelnden Stöhnen.
Ich riss die Türe ganz auf und blickte auf die am Boden mit ungläubig aufgerissenem Mund liegende, nackte Frau. Blut quoll aus ihren Füssen, ihren Beinen, ihrem Schambereich, ihrem Bauch, ihrem Mund. Wo ihre Haare gewesen waren, schimmerte jetzt rötlich das Gehirn durch den aufgerissenen Schädel und unter sich zog sie eine in einer Melange von widerlicher Konsistenz ihre Gedärme über den Boden. Sie öffnete den Mund, doch es erklangen nur unverständliche Laute.
Ich kniete mich zu ihr hin, ergriff ihre Hand, und verstand mühsam ihren letzten Willen: „Töte mich“ röchelte die skalpierte und entweidete Sterbende. Dann schloss sie ihre Augen, ihr Puls verschwand und ihre Bitte war nunmehr gegenstandslos.
Tränen perlten in meinen Augen, als ich Frau Hints Hand zu Boden sinken ließ, mich erhob und durch den Gang in das Wartezimmer ging. Ich nahm die Jacke der Verstorbenen von der metallenen Garderobe, schmiss sie zu Boden, nahm die Garderobe wie einen Rammbock in beide Hände und stieß sie durch die Fensterscheibe.
Ein Schrei erklang, als die Splitter auf den Bürgersteig vor der Praxis fielen und zu noch winzigeren Scherben zerbarsten; ich kletterte durch den Fensterrahmen, rutschte in Batman-Manier am Regenrohr in die Tiefe, bis ich wieder auf meinen Beinen stand und holte tief Luft. Eine Rentnerin sah mich entsetzt an, fluchte dann leise und blickte sich um, als ob sie sich Beistand von den Passanten erhoffte, die zwar starrten, dann aber weitergingen.
Nach ein paar Sekunden atmete ich geräuschvoll aus und sah zu der Haustüre: Das Schild, auf dem Name des Doktors, Fachgebiet und Sprechzeiten verkündet worden waren – es war verschwunden.
Ich schlich mit einem pochenden Dröhnen in meinen Schläfen die Straße hinunter bis zu einem Münztelefon, betrat die Kabine und blätterte durch das vergilbte Telefonbuch – unter der Rubrik Ärzte war kein auf den Namen Dr.Paul lautender Eintrag vorhanden.
Einen Augenblick hielt ich das Telefonbuch in der Hand – es schien immer schwerer zu werden; dann legte ich es zurück, verließ die Kabine und ging zu der nächsten Bushaltestelle. Der Bus ins Frankenberger-Viertel fuhr in zwanzig Minuten; dort wohnte meine Ex-Freundin und ich wollte mit ihr ...reden.
Ein kalter Abendwind blies mir ins Gesicht, als ich an einem Zigarettenautomat neben der Haltestelle eine Schachtel Gauloises zog, eine Zigarette entzündete und den Rauch tief in meine Lungen sog.
Sollte ich doch verrecken.
 

Nina H.

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Zunächst einmal: Ich habe die Geschichte gerne gelesen. Sie beginnt alltäglich und verfällt dann am Ende in den Splatter. Aber gerade das gefällt mir - wenn die Stimmung die Richtige ist, lese ich so was ganz gerne.

Ich habe dann konkret ein paar Sachen rausgeschrieben, die man verbessern könnte. Sind ja auch wirklich nur ein paar Kleinigkeiten, aber ich hoffe trotzdem, dass du den Text damit noch ein bisschen verbessern kannst:

Dr. Paul arbeitete als Internist, wie das Praxisschild an der Hauswand neben der Einganstüre verkündete.
Bei "Eingangstüre" wurde ein Buchstaben vergessen.

Vor etwa einem halben Jahr hatte ich das aufgehört zu rauchen, doch seit etwa drei Wochen plagten mich trockener Husten und ein schleimiger Auswurf – die Angst, an Lungenkrebs erkrankt zu sein, hatte mich in die Praxis von Dr.Paul getrieben, den meine Ex-Freundin mir empfohlen hatte, nachdem wir bereits getrennte Wege gingen.
Das sind meiner Ansicht nach zu viele Informationen in einem Satz. Besser: Zwischendurch mal zu einem Punkt kommen! Außerdem klingt das mit den drei "hatte" nicht so schön.
Und das "das" vor "aufgehört" ist wohl versehentlich reingerutscht.

Zwar nahm ich an, dass ich mich umsonst verrückt machte, und dass Hypochondrie meine Angst verstärkte, doch ich wollte mir meine Diagnose von Dr.Paul amtlich bestätigen lassen.
Ich denke, um etwas "amtlich" bestätigen zu lassen, geht jemand auch auf ein Amt zu einem Beamten und nicht zu einem Arzt. Der Ausdruck ist nicht besonders glücklich gewählt, besser wäre, stattdessen "von einem Fachmann" zu schreiben.

Sie nahm eine Zeitschrift vom Tisch, setzte sich und fing an zu lesen; rote Locken umrahmten ein konturreiches Gesicht, in dem die blauen Pupillen, den Worten und Bildern in der Zeitschrift folgend, von links nach rechts wanderten.
Müsste "konturenreich" heißen. Aber ehrlich gesagt kann ich mir unter diesem Begriff in dem Zusammenhang ohnehin nicht das Geringste vorstellen.
Und noch was: Die Pupille ist immer schwarz. Was du meinst, ist wohl die Iris.

„Hallo“ rief ich so laut, dass man mich noch im letzten Raum der Praxis hören musste.
Da fehlt noch ein Komma vor "rief".

...als ich mich fragte, ob man mich tatsächlich vergessen haben konnte, fiel mir ein, das im Warteraum noch immer der Mantel von meiner Mitpatientin hing.
Hier gehört "dass" statt "das".

... ich hatte dass Feuerzeug, welches ich in meiner Hosentasche bei mir trug, völlig vergessen – eine alte Gewohnheit aus meinen Rauchertagen.
Hier gehört "das" statt "dass".
 

Bugs

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Hallo Nina!

Herzlichen Dank, dass Du meine Geschichte gelesen hast, und die Verbesserunsvorschläge helfen mir mit Sicherheit weiter.
Ist schon eine ganze Weile her, seit ich die Geschichte in Netz gestellt habe, um so mehr freut es mich, an dieser Stelle von Dir Feedback zu bekommen.
Nimms mir nicht übel: ich werde die Verbesserungen erst Dienstag vornehmen: Jetzt isses schon fast 0 Uhr, Montag und Dienastag schreibe ich nervige Klausuren :)
Vielleicht habe ich ja das Glück, weiterhin von dir rezensiert zu werden - würde mich freuen.

Bugs
 

Nina H.

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Freut mich, daß ich dir weiterhelfen konnte!
Ich selber brauche meist wesentlich länger als nur ein paar Tage, um Verbesserungsvorschläge von anderen einzuarbeiten...
 



 
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