"Der Selbstmordversuch" (Romanauszug)

Wenn Magdalena von Schucherns Buch dagegen Antonie transparent machen will, gibt es wirklich noch einiges, was sie wissen sollte. Da ist zum Beispiel die Geschichte von Antonies zweitem Selbstmordversuch. Diese Geschichte hörte ich nicht von Onkel Heinrich, sondern von meiner Mutter, und meine Mutter hätte mir nichts darüber erzählt, wenn sie zu dieser Zeit nicht schon zu trinken begonnen hätte und betrunken gewesen wäre, nicht so wie heute, nicht so, daß es unerträglich ist, ihr zuzuhören, aber so, daß sie Dinge sagen konnte, die ihr nüchtern nicht über die Lippen gekommen wären.
"Das war kurz, nachdem ich deinen Vater kennengelernt hatte, 1947, in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr. Es ging Maman sehr schlecht, viel schlechter als zu der Zeit, in der ich ein Kind war, und hundertmal schlechter als in den Jahren, in denen die Zwillinge noch klein waren. Ich glaube nicht, daß es in diesem ganzen Jahr einen Tag gegeben hatte, an dem Maman und ich nicht miteinander gestritten hätten. Früher war es Papa oft gelungen, die Wogen zu glätten, bevor so ein Streit richtig in Gang kam, und ich hatte mich häufig darauf verlassen, daß er die Dinge unter Kontrolle behalten würde, vielleicht zu häufig: er hatte angefangen, so viel Zeit wie möglich außer Haus zu verbringen, obwohl es ihm nicht gut ging. Er arbeitete zwar noch und ging auch noch nicht an Krücken, aber er hatte schon chronische Schmerzen und wurde ganz schnell immer schwächer. Es kam immer häufiger vor, daß so ein Streit an einen Punkt geriet, wo nichts mehr half, es mußte eben seinen Lauf nehmen.
Wir saßen beim Frühstück, Maman und ich, und ich erwähnte, daß ich am Abend zusammen mit George am Rheinufer entlang spazieren gehen wollte. Ich hatte mir angewöhnt, so etwas mit einem breiten Lächeln zu sagen, wenn ich nicht sicher war, wie sie es aufnehmen würde. Es half natürlich nichts, das Lächeln wirkte wahrscheinlich erst recht wie ein Alarmsignal auf sie. Sie wurde sehr blaß unter ihrem Make-up und begann am ganzen Körper zu zittern. Ich sagte "Aber Maman, es ist doch nur ein Spaziergang."
"Es geht nicht um den Spaziergang."
Das wußte ich natürlich, aber ich wußte nicht, um was es ging, ich wußte es nach diesem Jahr immer noch nicht, obwohl ich sie immer wieder fragte, und ich weiß es auch heute noch nicht. Aber ich fragte sie auch diesmal wieder "Um was geht es denn?"
"Das ist der Anfang vom Ende," sagte sie, flüsterte sie, immer noch sehr blaß, und setzte hinzu: "Er wird dich mir wegnehmen."
"Aber Maman ...." Ich war vollkommen verwirrt. "Ich habe nicht gesagt, daß ich ihn heiraten will, ich möchte mit ihm spazieren gehen, das ist alles."
"Wenn ich wüßte, daß du wiederkommst, hätte ich nichts dagegen, daß du unternimmst, was du willst und mit wem du willst."
Das war ein häufig gesagter Satz. "Ich komme immer wieder, Maman, das weißt du doch." Das war eine häufige Antwort. Bei anderen Krächen hatte sie angefangen, Giftkübel über die Leute auszuschütten, mit denen ich ausging, Männer oder Jungen und auch Mädchen, auch wenn sie sie nicht kannte. Ich brachte selten jemanden mit nach Hause, weil ich wußte, daß sie es haßte. Nicht daß sie die Leute spüren ließ, daß sie nicht willkommen waren, sie war immer die Höflichkeit in Person ihnen gegenüber, sie blieb lediglich reserviert und zurückhaltend. Aber ihr Zuhause war ihre Burg, in dem sie sich gegen den Rest der Welt verschanzte, und das respektierte ich immer. Nur hielt sie das nicht ab, meine Freunde zu kritisieren. Damit es jetzt nicht wieder zu einer solchen Diskussion kam, ließ ich mich dazu hinreißen, nach ihrer Hand zu greifen. Nur deshalb, und um sie zu beruhigen. Und das war ... Es war das Schlimmste, was ich tun konnte.
Denn ich durfte sie nicht anfassen.
Es hatte angefangen, als ich dreizehn Jahre alt war. Ich war noch ein Kind, und ich konnte einfach nicht verstehen, daß sie plötzlich meine Berührung nicht mehr ertrug. Wenn ich sage 'plötzlich', bedeutet das wirklich über Nacht, von einem Tag auf den anderen, als hätte ich die Pest bekommen, mitten im Kriegsjahr 1943 an einem Sommertag. Es war nur ich. Nein, das muß ich korrigieren, es war hauptsächlich ich. Sie hatte auch manchmal Schwierigkeiten, sich von anderen Menschen anfassen zu lassen, vermied den Händedruck und Umarmungen bei Begrüßungen und Abschieden, aber das merkte man ihr nur an, wenn man sie sehr gut kannte, und meist gelang es ihr, sich zusammenzureißen. Es fiel ihr seltsamerweise auch leichter, andere Menschen selbst zu berühren als Berührungen zuzulassen. Aber vor mir fuhr sie zurück, als - als würde der Ekel sie überwältigen. Und manchmal, in den allerersten Tagen, mußte sie wirklich würgen.
Für mich war das entsetzlich.
Ich hatte schließlich nicht von alleine angefangen, so viel Wert auf andere Menschen zu legen, die mit meinem Zuhause nichts zu tun hatten, andere Mädchen, Jungen, Menschen, die ich kennenlernte und mit denen ich ausging. Die Abneigung von Maman gegen mich tat weh und war sehr kränkend, und nach einer Weile machte sie mich auch wütend, vor allem, nachdem ich begriffen hatte, daß es nicht wieder vorbeigehen würde, auch wenn sie gelernt hatte, sich soweit zu beherrschen, daß sie sich nicht übergeben mußte. Gerade das war das Schlimmste: daß sie lernte, sich zu kontrollieren, weil sie es mußte.
Papa wußte natürlich davon, er konnte es sehen, aber er versuchte niemals, mit mir darüber zu sprechen. Ich weiß nicht, ob sie miteinander darüber sprachen. Mit Maman habe ich nur ein einziges Mal darüber gesprochen, und das war an diesem Tag Ende 1947.
Ich hatte versucht, meine Hand auf ihre zu legen, und sie fuhr zurück, als wären meine Hände aus glühendem Eisen.
Ich sagte: "Dein eigenes Kind darf dich nicht anfassen. Ich darf mich nicht zu dir auf's Bett setzen, ich darf dir keine Schleife zurechtrücken, du hältst es nicht aus, wenn ich dich umarmen will oder wenn ich dir einen Kuß geben möchte. Du tust alles, damit ich bei dir im Haus bleibe, du wäschst meine Kleider, die du selbst nähst, und putzt mein Zimmer, obwohl ich alt genug bin, das selbst zu tun, du kaufst für mich ein und räumst hinter mir her, und wenn das alles nicht hilft, machst du mir eine Szene, damit ich trotzdem bei dir bleibe. Kannst du mir sagen, weshalb du einen Menschen bei dir behalten willst, dessen Berührung für dich unerträglich ist? George, meinst du, wird dir mich wegnehmen? Ich muß verrückt sein, daß ich mich ihm nicht an den Hals werfe. Für mich wäre es das beste, ich würde ihn heiraten und dich nicht wiedersehen, ich sollte irgend jemanden heiraten, wenn das bedeutet, daß ich endlich von hier wegziehen kann. Du meinst, ich sei zu schade für ihn, oder für jemanden sonst, für jeden? Ich bin mir allmählich zu schade für dich."
Damit stand ich auf, holte meinen Mantel und lief aus dem Haus. Ich war wütend, aber ich war auch sehr unglücklich und weinte laut. Ich ging geradewegs zu George, und es gelang ihm, mich zu beruhigen. Er konnte mich in den Arm nehmen und streicheln. Nachmittags kochte er für uns beide - kannst du dir vorstellen, daß jemand in England kochen lernt? - und am Abend gingen wir wirklich am Rheinufer spazieren, und es ging mir sehr viel besser.
Gegen zehn Uhr abends brachte er mich nach Hause. Er sagte, er würde noch eine Weile vor dem Haus stehen und eine Zigarette rauchen. Ich glaube nicht, daß er dachte, sie würde handgreiflich werden - sie hat mich niemals geschlagen und die Zwillinge meines Wissens auch nicht - , aber er erwartete auch nicht, daß ich ihn brauchen würde, um - für das, was wirklich passierte. Vielleicht wollte er einfach nur sehen, wie in meinem Zimmer das Licht anging und mir noch einmal zuwinken.
Sie saß immer im Wohnzimmer und wartete auf mich, wenn ich ausging, auch wenn wir uns gestritten hatten - für gewöhnlich machte sie dann kein Licht und saß im Dunkeln. Aber an diesem Tag war das Wohnzimmer leer. Daß Papa nicht daheim war, wußte ich, denn er hatte nach der Arbeit noch eine Versammlung wie jeden Donnerstag. Zuerst glaubte ich, sie sei auch nicht da. Aber sie hatte niemanden, zu dem sie hätte gehen können, sie hatte außer der Familie überhaupt keine Kontakte, und es war zu weit, um zu dieser Tageszeit Tante Sophie oder Onkel Heinrich zu besuchen. Ich rief ein- oder zweimal "Maman? Ich bin's!", aber es kam keine Antwort. Ich ging durch die Räume und suchte sie, den Mantel und die Tasche noch über dem Arm, und ich ging immer schneller und wurde immer beunruhigter, und die ganze Zeit hörte ich in meinem Kopf wieder meine eigenen Worte vom Vormittag, die ich bei George schon halb vergessen hatte.
Sie war im Schlafzimmer. Sie lag nicht auf dem Bett, sondern auf dem Boden vor der Frisierkommode, noch in ihren Kleidern, und ich glaube, dort hatte sie gesessen und in den Spiegel geschaut, nachdem sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Sie hatte sich selbst beim Verbluten zugesehen. Es war soviel Blut, auf der Kommode, auf dem Spiegel, auf dem Boden - ich dachte, sie sei tot, sie müßte tot sein, wenn sie soviel Blut verloren hätte, aber als ich neben ihr auf die Knie fiel, sah ich, daß sie noch lebte. Ich riß das Fenster auf und schrie nach George. Er war noch da, und rannte gleich los, über die Straße auf die Haustür zu, und ich rannte hinunter und ließ ihn hinein und lief gleich wieder die Treppe hinauf zu ihr, er hinter mir.
Er machte einen Druckverband, mit Handtüchern, und wir legten sie auf das Bett, dann rannte er zwei Straßen weiter zu einem Freund, einem Kommilitonen, der immer ausgerüstet war, für alle Notfälle, und besorgte richtiges Verbandszeug und ein bestimmtes Medikament, ein Stärkungsmittel, glaube ich, und das spritzte er ihr, und er sagte mir, daß sie nicht sterben würde. So schrecklich viel Blut hatte sie nicht verloren, das sah nur so aus; es spritzt immer so, wenn man in bestimmte Blutgefäße schneidet. Aber es gab keinen Zweifel daran, daß sie es ernst gemeint hatte. George versprach mir, noch zu bleiben, aber blieb nicht im Schlafzimmer. Wenn sie aufgewacht wäre und einen Fremden in ihrem Schlafzimmer gesehen hätte, und dann noch ausgerechnet ihn, oder wenn sie nur hinterher erfahren hätte, daß er dort gewesen war ....Er ging ins Wohnzimmer und wartete dort. Aber sie wachte noch lange nicht auf. Ich wischte das viele Blut weg, so gut ich konnte, und deckte sie zu, und danach holte ich mir einen Stuhl und setzte mich an ihr Bett und - ich hielt ihre Hand und streichelte ihr Haar. Sie merkte gar nichts davon, und das war natürlich der Grund, daß ich es tun konnte. Im Schlafzimmer brannte nur die Nachttischlampe, überall sonst machte ich Licht, und zwischendurch ging ich zu George ins Wohnzimmer und ließ mich von ihm in den Arm nehmen und weinte. Dann ging ich wieder zurück zu ihr und nahm wieder ihre Hand. Als sie unruhig wurde, sie fing an, sich zu bewegen, Worte zu murmeln, die ich nicht verstehen konnte, und zu stöhnen, sagte ich, "Ich bin da, Maman, sei ganz ruhig, ich bin bei dir."
Und die ganze Zeit warteten wir, daß Papa endlich käme. Ich hatte Angst, daß er so sehr erschrecken würde, daß ... Deswegen wollte ich im Flur sein, sobald er die Wohnung betreten würde, aber ich wollte auch bei George sein, wenn wir es ihm sagten - wenn ich es ihm sagte. Ich wollte Georges Hand festhalten. Und ich hatte Angst, Maman allein zu lassen. Ich war ständig in Bewegung, so scheint es mir.
Papa kam gegen ein Uhr morgens, und ich war wirklich mit George zusammen im Flur, als er die Wohnungstür aufschloß. Ich glaube, er wußte es gleich. Er wurde bleich, und sagte "Antonie." Das war alles.
Ich sagte es ihm, nur ganz kurz, daß ich mich mit ihr gestritten hatte und aus dem Haus gelaufen war, und wie ich sie gefunden hatte und was George gemacht und gesagt hatte. Papa nickte und ging ins Schlafzimmer, nur für einen Moment lang, dann kam er wieder heraus und streichelte mir die Wange. Da erst dachte ich daran, die beiden einander vorzustellen. Es ist verrückt, in so einer Situation zwei Männer einander so förmlich vorzustellen. "Papa, das ist George Emanueli, George, das ist mein Vater, Herr Ludwig." Sie reichten einander die Hand, als wäre George zum Nachmittagskaffee gekommen, um meinen Eltern vorgestellt zu werden, wie es üblich war und heute wohl auch noch ist: wenn ein Mädchen einen Mann mit nach Hause bringt, heißt das, eine Heirat steht bevor. Und so kam es ja auch.
Bis zum Morgen saßen Papa und ich abwechselnd an Mamans Bett und im Wohnzimmer mit George. Aber die meiste Zeit war ich bei ihr, ich ging nur so lange hinüber, um einen Kaffee zu trinken, den George aufgebrüht hatte, und eine Zigarette zu rauchen, dann ging ich wieder zu ihr. Man sollte meinen, daß George sich überflüssig gefühlt hätte und irgendwann aufgebrochen wäre, aber Papa und ich wollten beide, daß er bleibt. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken, und wir fürchteten vielleicht die Stille. Wir waren einander alle drei sehr nahe in dieser Nacht, und das war eigentlich sehr schön, so unglücklich ich auch war. Ich weiß nicht, worüber die beiden miteinander geredet haben, aber Papa respektierte und schätzte George, so lange er lebte. Ihn störte natürlich, daß er Jude war, aber ich glaube, er versuchte sich darüber hinwegzusetzen, und vielleicht gelang es ihm, mir zuliebe und wegen dieser Nacht. Er war allerdings mit Maman einer Meinung, daß ich zum Heiraten zu jung sei, und vielleicht hatten sie recht.
Maman kam gegen Morgen zu sich, als ich bei ihr war und schon lange nicht mehr wagte, ihre Hand zu halten. Sie öffnete die Augen und hob ganz langsam ihre Arme hoch, um ihre Handgelenke zu inspizieren, die beide dick bandagiert waren, dann sah sie mich. Wir sahen uns eine Weile an, ich überlegte, was ich sagen sollte ... Ich wußte es einfach nicht, ich konnte nicht mehr denken. Ich sagte, glaube ich, nur: "Maman ...". Und sie antwortete langsam und abgehackt und mit stockheiserer Stimme: "Nie-mals-ein-Wort-da-rü-ber." Ich nickte. Sie nickte auch und schlief wieder ein.
Wir frühstückten dann zu dritt, George und Papa und ich, ich hatte sogar Hunger, dann verabschiedete sich George, und ich schlief bis zum Mittag. Mittags sagte Papa mir dann, daß es nicht meine Schuld sei, Streit oder nicht, ganz gleich, was ich gesagt hatte, sondern seine. Ich wußte nicht, was er meinte, aber heute weiß ich es. Am Abend zuvor hatte er ihr gesagt, daß er sie betrogen hatte. Aber ich weiß es nicht, ich weiß es einfach nicht ... Wir sprachen nie wieder darüber."
 



 
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