"Der Silber" - Fortsetzungsmärchenroman - 1. Teil

Markus Veith

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1. Von den Silbern

Vor langer, langer Zeit, da gab es einmal die Silber ...
Aber was erzähle ich denn da? Es gab sie, und es gibt sie. Die Silber sind nicht ausgestorben. Denn noch heute und sicher alle Zeit wird man stets aufs neue neuen Worten begegnen. Worte, die man nie zuvor gehört hat, die aber von solcher Schönheit und Eleganz sind, mit solch ausgefeilter Treffsicherheit komponiert, daß einem ihre Gewandtheit oft die Sprache verschlägt. Manchmal weiß man beim ersten Hören mit vielen Wörtern gar nichts anzufangen, so kompliziert und filigran ist oft ihre Beschaffenheit. Wenn euch also solchermaßen geschieht, denkt immer daran: All diese Kunstwerke der Sprache sind Schöpfungen der Silber.

Vor langer, langer Zeit gab es einmal die Silber. Es war nur ein kleines Volk, eigentlich nur eine Familie von sehr menschlichen Geschöpfen und sie nannten sich selbst Silbenbauer. Sie lebten ihr beeingedrucktes, ruhiges Dasein zwischen den Seiten der so viel beschriebenen und beschreibenden "westlichen" Weltliteratur, um hier immer wieder für neue Überraschungen zu sorgen. Sei es im Hinblick auf Satzbau oder rechter oder linker Schreibung. In all dem waren die Silber die wahren Meister.
Und sie waren stolz. Sehr stolz sogar. Und ihr größter Stolz war ihr damals schon gewaltiger Wortschatz, der sich in all den Generationen harter Arbeit in der Silbenzucht und -anfertigung angesammelt hatte. Oh, man darf sich hier keinen glitzernden Haufen aus Gold und Geschmeide vorstellen. Der Wortschatz der Silber war mehr ein Genuß für die Ohren als für die Augen.
Die Silber gab es schon sehr lange. Seit der Zeit, als der erste artikulierte Laut einen Mund verlassen hatte, achteten sie mit größter Sorgfalt darauf, daß Sprache das war und blieb, was sie versprach.
Das Handwerk der Silber war allseits hochgeschätzt und wertvoll. Sie arbeiteten sehr hart und fleißig. Nur hieb- und stichfeste Worte verließen die Werkstätten der Silber. Es kann sich wohl niemand eine konkrete Vorstellung davon machen, wie schwer es ist, Worte zu erschaffen. Man sagt Gesagtes doch oftmals so einfach daher. Dabei steckt so viel dahinter. Manch einer wird nun behaupten: "Wieso? Man macht den Mund auf, und heraus mit der Sprache. Das geht doch ganz einfach." Nun, diesen Leuten hört man es auch an, daß sie es nicht besser wissen können. Sie öffnen zwar den Mund, oftmals sogar ziemlich weit, doch was kommt dabei schon heraus?
Es ist fürwahr schwer, die harte, wichtige Arbeit der Silber zu würdigen, da auch heute noch kaum bekannt ist, was überhaupt ihre Aufgabe ist. Ohne die Silber gäbe es nämlich gar keine Sprache. Ihre Tätigkeit ist von jeher die Grundlage aller Artikulation und Literatur jeglicher Art. Sie ist eine Wissenschaft, eine hohe Kunst, eine hochkomplexe Fertigkeit, die sich seit Generationen entwickelt hat und von den Silbern weiterhin verfeinert wird.
Die Silber bauen auf ihren wörtlichen Plantagen ihre Rohstoffe selbst an und ab. Hier befinden sich in langen Zeilen tausende silbern blühende Silbstöcke, an denen die Lautkornhülsen wachsen. Diese sind die Lieblingsspeise der Buchstaben. Damals nannte man sie noch Staben. In den Ställen der Silber tummeln sich neunundzwanzig Staben und zwölf etwas kleinere Staben, die für die Betonungen zuständig sind.
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Herstellung neuer Silben zu erklären. Nur ganz grob: Die Silber bauen in den umliegenden Bergen Silbenreben an. Es handelt sich um ein Gewächs ähnlich den Weinreben, doch mit langen, rosigen Trieben, an denen das Lautkorn sprießt. Die Silber bearbeiten und verarbeiten deren Lautkornhülsen zu Futter für die Staben. Diese Ernährung fördert bei diesen Wesen die Absonderung eines besonderen, nur ihnen eigenen Tons, welcher das Rohgeräusch für neue Silben und Worte ist. Das weitere Verfahren besteht aus einer Vielzahl aufwendiger Arbeitsgänge. Sie sind höchst kompliziert, viel schwieriger als hier beschrieben und mit vielen langwierigen Ritualen verbunden. Zu guter Letzt bearbeiten sie ihre Produkte so lange, bis diese sprachlich vollkommen sind und perfekte, wohlklingende Ergebnisse der Öffentlichkeit laut und deutlich zusprachlich gemacht werden.
Eigentlich trugen alle Wortschöpfungen zum Ruhme der Silber bei. Man erinnere sich beispielsweise an solch erlesene Wortschöpfungen wie Metathese, Interpunktion, Antonomasie, Obstipation oder Blutwurstbrötchen, die man sich einfach auf der Zunge zergehen lassen muß. Auch Schöpfungen wie beispielsweise der Zystasmetalirismus, das Retramerlonieren oder die Gamorphenomalistik gehen auf das Konto der unaufhaltsamen Geschäftigkeit der Silber. Nur daß sich diese letzteren Worte zur Zeit noch in Vorbereitung befinden und erst durch die Prüfungen der Verinnerlichung, Zungenfertigkeit und Verdeutlichung gehen müssen. Doch in nächster Zeit sollen sie nach dem letzten Arbeitsgang endgültig abgesprochen und auf den westlichen Sprachgebrauch losgelesen werden.
Doch nun genug der Erklärungen und fort von der Gegenwart. Denn da dies ein Märchen ist und Märchen stets in der Vergangenheit erzählt werden, so soll hier nun auch keine Ausnahme gemacht werden. Also:

Bis zu dem Tag, an dem unsere Geschichte beginnt (und das liegt natürlich schon lange, lange Zeit zurück, denn wie gesagt: Schließlich ist dies ein Märchen), haben die Silber in Ruhe und Frieden gelebt und gemäß ihres Wahlspruchs "Getan, gesagt!" der Menschheit mit ihrer vehementen Wortlastigkeit treuen Dienst an der Sprache geleistet. Sie wohnten ein harmonisches, gemeinsames Leben in ihrem kleinen Haus zwischen den Zeilen, mit dem kleinen Briefkasten vor der Eingangstür, auf dem ihr Name "Silbenbauer" zu lesen war. Dort hatten alle genügend Platz, da sie alle nicht besonders groß waren. Die Silbenbauer waren Silban, das Oberhaupt der Silber Silberta, seine Frau; die Buben Konnsohn-Arndt und Dattiv, deren Schwester Kohma, die Zwillinge Gansfußo und Gansfußu (die nie so richtig mit der Sprache rausrückten, ob sie nun Mädchen oder Jungen oder Mädchen und Junge waren). Ach ja, und dann gab es da noch die beiden Jüngsten, das Mädchen Zehile und den Buben Sylp.
Ihr Wahlspruch "Getan, gesagt!" war allen Silbern sehr wichtig, und damit ihn keiner von ihnen durch ein dummes Versehen vergessen konnte, war er mit großen, kunstvoll verzierten Lettern in den rauhen Stein über dem Eingang ihres Hauses eingemeißelt. So tat jeder Silber getreu seine Pflicht. Doch so richtig glücklich und zufrieden waren sie nicht.
Denn die Silber hatten ein Problem. Etwas schien mit der Produktion nicht zu stimmen. Vielleicht fehlte etwas oder war kaputt. Sie versuchten alles, um den Fehler zu beheben, aber niemand erkannte oder entdeckte den Mangel, an dem das Unglück liegen könnte. Immer weniger Silben wollten ihnen gelingen. Sie waren völlig verzweifelt, denn sie konnten nicht beschreiben, an was es ihnen denn da nun fehlte. Und man kann sich vielleicht vorstellen, wie schrecklich es für einen Silber sein kann, etwas nicht beschreiben zu können.
Und da sie sich keinen Rat wußten, was es mit diesen plötzlichen Mißerfolgen auf sich hatte, verschwiegen sie das ominöse Problem möglichst untereinander. Es wurde zu einem brenzligen Thema, das sich immer dann, wenn wieder einmal eine Silbe mißlang, wie eine dunkle Wolke über die Silber legte und ihre Gemüter verdunkelte.

Fortsetzung folgt ...
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Fortsetzung folgt?

na, hoffentlich läßt Du mich mit dem nächsten Teil nicht so lange warten. Bin echt gespannt, wie sich deine originelle Idee weiter entwickelt. Mir ist nur schleierhaft, wieso ich momentan noch der einzige Leser zu sein scheine. Na, vielleicht ändert sich das bald.

Gruß Ralph
 



 
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