"Der Silber" - Fortsetzungsmärchenroman - 2. Teil

Markus Veith

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2. Die Strafe

Der Lärm ebbte ab. Ein heiseres Husten wurde hörbar. Ein Luftschwall durchwühlte die silbrige Flüssigkeit in einem Glasbehälter. Der lange daran festmontierte Schlauch vibrierte, als stünde er unter Strom, was gar nicht so abwegig war. Aus einem recht unscheinbaren Ventil zischte plötzlich eine breite Fontäne feucht-heißer Luft.
Das Labor, das auch gleichzeitig die Werkstatt war, wimmerte und kochte im Qualm der dichten Wolken und Gase. Konnsohn-Arndt warf einen Blick auf einen riesigen Thermostat, drehte darunter an einem Rädchen und beobachtete, wie sich der Zeiger in einem blauen Bereich regulierte. Mit seiner anderen Hand wedelte sich der großgewachsene Junge etwas Kühle zu. Sogar der Zeiger hinter der verschwitzten Scheibe des Thermostats schien nun erleichtert aufzuatmen.
Dattiv stützte sich schnaufend auf eine lange Schaufel. Aus seinem lockigen Haaransatz tropfte es und dunkle Schatten durchzogen sein Hemd. Die beiden Brüder schauten erwartungsvoll zu ihrem Vater. Papa Silban nahm würdevoll seine kleinen, feingliedrigen Hände von der komplizierten Apparatur der Maschine. Sirrend kam sie zum Stillstand. Ihrer feinen Mechanik entströmte hier und da noch ein leises, überhitztes Klicken. Der Mann holte tief Luft.
Der alte Silber war ein ziemlich nervöses, fahriges Kerlchen von kleiner Statur. Doch bei der Arbeit war er die Ruhe selbst. "Seid ihr fertig, bereit, zur Stelle?" fragte er mit trockener, knurriger Stimme und musterte seine Söhne mit erhobener Braue. Die beiden nickten. Der alte Silber murmelte irgend etwas und stapfte dann durch das Labor zu einem Kasten in der Mitte des Raumes. Sämtliche Kabel, Leitungen und Röhren der Maschine (und sie hatte nicht gerade wenige) führten zu dieser Box. Ein fahles Glühen sickerte durch ihre Ritzen.
Die beiden Söhne traten neben ihn. Dattiv lächelte stolz und stemmte zufrieden die schwieligen Hände in die Hüften. Konnsohn-Arndt nagte an seiner Unterlippe. Papa Silban schob besorgt die Stirn in Falten. Er knetete die verschmierten Finger. "Na denn", seufzte er schließlich und legte die Hände um einen Griff, mit dem er eine kleine Tür an dem Kasten öffnete. Die drei hielten den Atem an. Qualm floß wie übergekochte Milch auf den Boden und verteilte sich um ihre Füße. (Es heißt nicht umsonst, daß Worte Schall und Rauch sind.)
In der Tiefe des Kastens glühte ein neugeborener Teil Sprache und ein leises Murmeln flimmerte um das Wort herum. Die Augen der Männer wuchsen und starrten gebannt auf die einzelnen Silben, die das kleine Wort mit kaum erkennbaren Übergängen zusammenhielten.
"Sieht doch gut aus", flüsterte Dattiv so leise, als ob seine Stimme dem jungen Wörtchen weh tun könnte.
"Hört sich bisher zumindest recht gut an", sagte Konnsohn-Arndt etwas lauter und klopfte seinem Vater auf die hängenden Schultern. "Haben es anscheinend geschafft, hm?"
Papa Silban antwortete nicht. Er nahm ein Paar dicke, vom häufigen Gebrauch reichlich versprochene Handschuhe von einem Haken und stülpte sie sich über. Er beleckte sich seinen trockenen Mund und schob die geschützten Hände in den Kasten. Mit äußerster Vorsicht umfaßte er das Wort und holte es mit gestreckten Armen aus der Box heraus. Dann schlich er behutsam, so als hielte er ein bis zum Rand gefülltes Glas hochempfindlichen Sprengstoffs, zu einem breiten Tisch aus Stein. Seine Söhne begleiteten ihn. Fast liebevoll setzte der alte Silber das Neugeborene ab. Dattiv zuckte zusammen, als beim Absetzen ein leises, dumpfes Geräusch entstand.
"Stabil sieht es ja aus", raunte Konnsohn-Arndt.
"Ja-a", brummte es aus Papa Silbans dunklem Bart. "Laßt uns die Probe, die Kontrolle, den Gegenversuch machen." Ohne seinen Blick von dem Wort zu nehmen, hielt er Dattiv seinen geöffneten Handschuh unter die Nase. "Hammer und Amboß."
Sein Sohn reichte ihm zwei bleiche, eigenartig geformte Werkzeuge. Der alte Silber legte behutsam den kleinen Amboß unter das Wort und hob den zierlichen Hammer. Sein Blick flog ungeduldig zu dem kleinen Instrumententisch nebenan. "Na los - Steigbügel", nickte er Dattiv zu und der Junge nahm schnell das filigrane Ding vom Tisch und hielt es über das Neugeborene. Sachte hieb Silban mit dem Hämmerchen auf die einzelnen Silben. Ein melodischer Klang stieg über den Bügel auf und sang wohltönend durch die Luft. Die Mienen der Silber erhellten sich und sie strahlten sich gegenseitig an. Ein freudig erregtes Lächeln funkelte in ihren Augen. Papa Silban drückte seinem Ältesten die Werkzeuge in die Hand und flatterte aufgeregt mit den Händen. "Schnell, flugs, rasch, Jungs, die Stimmgabel! Fix, fix!"
Die Stimmgabel ist ein uraltes Instrument, das sich schon seit Jahrhunderten im Besitz der Silber-Familie befindet. Es heißt, es sei in grauer Vorzeit aus Gottes gezogenem Weisheitszahn gefertigt worden. Es war ein kleiner, zweispießiger Piekser aus Elfenbein. (Was nun wohl interessante Mutmaßungen über Gottes Dentalbereich zulassen sollte.)
Papa Silban schmatzte sich den Mund feucht. Einige Tropfen standen auf seiner Stirn. Das Werkzeug näherte sich zögerlich der ersten Silbe. Näher. Noch näher. Die Spitze zitterte etwas. Das Wörtchen vibrierte. Die Zinken berührten es.
"Un"
Allgemeine Erleichterung atmete sich aus den drei Männern.
"Ein schönes U ist das", kommentierte Konnsohn-Arndt. "Klar und doch angenehm abgedunkelt."
"Und das n unterstreicht den Effekt noch auf eine feine harmonische Art", bestätigte sein Bruder Dattiv. "Ganz so sollte es sein."
"Psst", zischte ihr Vater, als er sich der zweiten Silbe näherte. Dann berührte er sie.
"Vvvvvv ..."
Die Augen der drei Silber bekamen einen erschrockenen, besorgten Ausdruck.
" ... vvvvv ..."
Papa Silban biß die Zähne zusammen. "Komm schon, Kleines."
Dattivs Stimme kam nicht an seinen fingernagelnagenden Zähnen vorbei.
"... vvvvv ..."
Konnsohn-Arndts Stirn verkrampfte sich vor Sorge.
"Los!" preßte er hervor. "Du schaffst es."
"... vvvver ..."
Endlich atmeten die drei wieder.
"Den dritten Staben könnte man noch ein bißchen hemmen. Er tönt entschieden zu lang", sagte Dattiv kritisch und dann zuversichtlicher: "Aber das dürfte kein Problem sein. Den kriegt man schon noch klein und schön soft." Sein Bruder nickte und griff schon mal zur Süßholzraspel.
"Es ist noch nicht fertig, komplett, vollendet, Jungs!" mahnte der alte Silban. "Verkauft kein Haus, das keinen Keller hat." Skeptischen Blickes näherte er sich mit der Stimmgabel der letzten Silbe. Ihre feinen Zinken bohrten sich hinein und ein seltsames, beunruhigendes Zischen erklang. Papa Silban zog erschrocken die Stimmgabel zurück.
"Oh nein", jammerte er. "Nicht noch einmal. Bitte, bitte nicht." Doch es war schon zu spät. Das Wörtlein stöhnte leise auf und fiel dann langsam in sich zusammen wie ein Käsesoufflé.
"Mist", sagte Dattiv und Konnsohn-Arndt benutzte daraufhin sogar ein Wort, welches es in der heutigen Sprache gar nicht mehr gibt. (Es fiel vor einigen Jahren der Schimpfepidemie zum Opfer, aber seid gewiß: Es war sehr schmutzig.)
Papa Silban fluchte wie ein Rohrspatz und hätte beinahe vor lauter Wut die wertvolle Stimmgabel fortgeschleudert. Im letzten Moment konnte er sich jedoch noch einmal besinnen und entschied sich stattdessen für die kläglichen Reste des verunglückten Wörtchens. Es puffte nur noch wie ein leeres Mehlsäckchen, als es gegen die Wand flog.
"Zum neunten, zehnten, elften Mal hintereinander!" zeterte der alte Silban. "Drei, vier, fünf Tage Arbeit und Anstrengung und Tun und Mühe vollkommen für Hund, Katze, Maus! Das ist doch ein, ein, ein Skandal! Man sabotiert uns! Bestimmt! Bestimmt sabotiert man uns!!"
"Aber uns kann niemand sabotieren, Papa. Niemand möchte, daß ihm die Sprache fehlt", sagte Dattiv. Papa Silban stützte sich mit gestreckten Armen und gesenktem Kopf an ein Regal mit konservierten Trennlauten.
"Du hast ja recht. Ist ja auch richtig", knurrte er. "Doch nun überlegt, Jungs. Genauestens gegrübelt und nachgedacht. An irgends muß es doch liegen. An irgends muß es noch mangeln, fehlen, nicht genug sein."
"Vielleicht ist die Zusammensetzung noch nicht ganz richtig", überlegte Konnsohn-Arndt. "Die Ingredienzien sind falsch dosiert oder so."
Aber Silban schüttelte den Kopf. "Nein, nein, nein, es sind doch schon alle Ingredienzien, Verhältnisse, Mischungen durchprobiert. Es muß - es muß - " Er prustete etwas hilflos. "Ach, keine Ahnung."
"Und die Laute?" gab Dattiv zu bedenken. "Vielleicht sind es die Laute. Vielleicht sollte man mal versuchen, die Lautkornhülsen für diese Art der Silben anders zu züchten. Ich finde, sie sind doch ziemlich fad. Man könnte sie direkt muffig nennen."
"Mag sein, daß es das ist, möglich, möglich", sagte Papa Silban seufzend. "Mag aber auch sein, daß sich ein, zwei, drei der Staben einfach nur den Klang verdorben haben."
Er atmete tief ein und richtete sich entschlossen auf. "Aber sollten uns diese Mißgeschicke, Fehler, Niederlagen auch noch einmal neun und nochmal neun Male passieren - egal! Das soll uns nicht aufhalten, stoppen, bremsen!" Dann schrie er, daß seine Stimme kiekste: "Getan!" "Gesagt!" vollendeten seine Söhne im Chor, indem sie stramme Haltung annahmen.
"Also gut, Jungs. Laßt uns doch mal eine Sicht, ein Auge, einen Blick in die Silos schmeißen. Vielleicht hast du ja recht, und die Lautkornhülsen sind an dem Mißlingen schuld." Er zog die dicken Schutzhandschuhe aus und warf sie in eine Ecke. "Irgends kann doch da nicht richtig und nicht nur falsch, sondern auch noch faul sein." Er sah nicht den feixend grinsenden Blick, den sich die Brüder zuwarfen.
"O ja", sagte Dattiv. "In den Silos ist bestimmt so mancher faul."
"Klar", gluckste Konnsohn-Arndt. "Da ist sicherlich ein fauler Sack mit bei."
Doch Papa Silban war viel zu sehr mit seinen eigenen Gedanken über die Gründe des erneuten Fehlschlags beschäftigt, als daß er genauer auf das verborgene Geläster seiner Söhne hörte. Und so verließen die drei Silber die Werkstatt.


Fortsetzung folgt ...
 



 
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