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Favela
„Hunger?“
Manuel lacht, sein Gebiss sieht wie das eines Greises aus; die Zähne verrottet, schwarz, lückenhaft.
„Manchmal“, sagt er dann leise.
„Manchmal. Hunger nach Liebe. Weißt Du?“
Ich versuche, ihm in die zusammengekniffenen Augen zu sehen. Er weicht meinem Blick aus. Scharrt, offensichtlich gequält von meinem Interesse mit den nackten Zehen im Dreck.
Vorbei der kurze Augenblick der Poesie.
„Hier gibt es alles“,
erklärt er mit einer umfassenden Handbewegung und tritt vor die windschiefe Blechhütte. Wir lassen uns auf etlichen zusammengestellten Konservendosen nieder. „Wer arbeitet, braucht nicht wirklich Hunger zu leiden.“
Sein Tätigkeitsfeld ist eine Müllhalde vor den Toren Rio de Janeiros, auf die wir nun hinunterblicken. Die Arbeitnehmer sind die Bewohner der Favelas. Sie fristen ihr Dasein in den Wellblechhütten, die am Hang kleben. Im Sommer bis zu achtzig Grad Celsius, kleine Backöfen.. Abertausende von Kindern und Erwachsenen, die mit dem überleben, was die wohlhabenderen Mitglieder der Gesellschaft fortwerfen, werden irgendwie damit fertig. Ich halte ein mit Deo getränktes Taschentuch über Mund und Nase, doch das hilft nur wenig.
„Der Gestank? Welcher Gestank?“ Manuel nimmt einen verdreckten Stofffetzen aus einen Hosensack, tränkt ihn mit Flüssigkeit aus einer verblichenen Colaflasche, die griffbereit neben ihm steht und presst ihn auf die Nase, atmet stoßweise ein, hält die Luft an. Aufbereiteter Klebstoff. Ein Schauer überläuft den hageren Jungen, er lacht hysterisch.
“Fressen kann man vieles. Wir haben gute Mägen.“ Er stellt die Flasche weg und deutet wieder mit großer Geste auf die Halde, die unter uns liegt.
"Einmal“, sagt er stolz,
„haben wir da einen ganzen Karton voller Hamburgerscheiben gefunden. Von MacDonalds. Höchstens zwei oder drei Tage alt.“
Er lächelt selig bei der Erinnerung.
„Das war ein Festessen.“
Dann relativiert er:
„Na ja, die Ratten hatten schon die Hälfte erwischt.“
Sein Oberkörper schwankt wie ein Halm im Wind.
“Das Schlimmste sind die Ratten. Wenn du tief schläfst“,
er klopft auf die Colaflasche,
„essen sie deine Augen.“
Verträumt blickt er über die Müllberge. Ein riesiger Schwarm von Möwen ist auf einem der Hügel gelandet. „So sieht Schnee aus, nicht wahr?“
Dann, ebenso zusammenhanglos.
„Freiheit, weißt du?“
„Bist du frei?“
Er nimmt gierig die angebotene Zigarette aus meiner Hand.
„Frei“, wiederholt er.
„Bin ich frei?“
Er bläst den Rauch genießerisch gegen das Wellblechdach des winzigen Verschlages, in dem er mit drei anderen Kindern sein Zuhause hat.
„Wir müssen Miete zahlen. Für das hier. Jeder zehn Cent pro Tag. Wer nicht genug gesammelt hat, fliegt raus.“
Er lacht wieder, es wirkt resigniert, freudlos. Zeigt mit dem Finger auf seine Zahnlücken.
“Oder es gibt Hiebe.“
Erneut, wohl um die Erinnerung abzutöten, greift er nach Flasche, Lumpen, schnüffelt. Schwankt ein wenig und seufzt.
„Gut, kein Mädchen zu sein ...“
Manuels Worte bleiben in der stickigen Luft stehen.
Er hustet. Es klingt nach schwerem Asthma, dann sagt er:
„Freiheit.“
Der Gedanke fasziniert ihn offensichtlich.
„Wir haben auch einen Chef, weißt du, es gibt verschiedene Banden.“
Mit der rauen Ferse kratzt er sich Schorf vom Schienbein.
„Die ganze Müllhalde ist in Regierungsbezirke aufgeteilt. Gehörst du zu jemandem, einer Gruppe, darfst du sammeln. Wenn nicht …“
Er zuckt unbestimmt mit den Schultern.
“Dort hinten brennt Tag und Nacht ein Feuer“, sagt er. „Sie schmelzen das Metall aus Kabeln, alten Küchengeräten. Können immer ein wenig Brennmaterial gebrauchen …“
Manuel dreht sich um und zeigt mit dem Kinn auf eine reglose Gestalt hinter sich, einer seiner Freunde wohl.
“Heute tragen wir ihn hin. Er ist frei. Letzte Nacht hat er sie gefunden, die Freiheit.“
Er zieht Rotz und Schleim in die Mundhöhle, spuckt aus
.„Scheiß drauf“,
sagt er. Nimmt die Flasche, hält sich den Schnüffelfetzen erneut an die Nase.
©Thom Delißen 2007
„Hunger?“
Manuel lacht, sein Gebiss sieht wie das eines Greises aus; die Zähne verrottet, schwarz, lückenhaft.
„Manchmal“, sagt er dann leise.
„Manchmal. Hunger nach Liebe. Weißt Du?“
Ich versuche, ihm in die zusammengekniffenen Augen zu sehen. Er weicht meinem Blick aus. Scharrt, offensichtlich gequält von meinem Interesse mit den nackten Zehen im Dreck.
Vorbei der kurze Augenblick der Poesie.
„Hier gibt es alles“,
erklärt er mit einer umfassenden Handbewegung und tritt vor die windschiefe Blechhütte. Wir lassen uns auf etlichen zusammengestellten Konservendosen nieder. „Wer arbeitet, braucht nicht wirklich Hunger zu leiden.“
Sein Tätigkeitsfeld ist eine Müllhalde vor den Toren Rio de Janeiros, auf die wir nun hinunterblicken. Die Arbeitnehmer sind die Bewohner der Favelas. Sie fristen ihr Dasein in den Wellblechhütten, die am Hang kleben. Im Sommer bis zu achtzig Grad Celsius, kleine Backöfen.. Abertausende von Kindern und Erwachsenen, die mit dem überleben, was die wohlhabenderen Mitglieder der Gesellschaft fortwerfen, werden irgendwie damit fertig. Ich halte ein mit Deo getränktes Taschentuch über Mund und Nase, doch das hilft nur wenig.
„Der Gestank? Welcher Gestank?“ Manuel nimmt einen verdreckten Stofffetzen aus einen Hosensack, tränkt ihn mit Flüssigkeit aus einer verblichenen Colaflasche, die griffbereit neben ihm steht und presst ihn auf die Nase, atmet stoßweise ein, hält die Luft an. Aufbereiteter Klebstoff. Ein Schauer überläuft den hageren Jungen, er lacht hysterisch.
“Fressen kann man vieles. Wir haben gute Mägen.“ Er stellt die Flasche weg und deutet wieder mit großer Geste auf die Halde, die unter uns liegt.
"Einmal“, sagt er stolz,
„haben wir da einen ganzen Karton voller Hamburgerscheiben gefunden. Von MacDonalds. Höchstens zwei oder drei Tage alt.“
Er lächelt selig bei der Erinnerung.
„Das war ein Festessen.“
Dann relativiert er:
„Na ja, die Ratten hatten schon die Hälfte erwischt.“
Sein Oberkörper schwankt wie ein Halm im Wind.
“Das Schlimmste sind die Ratten. Wenn du tief schläfst“,
er klopft auf die Colaflasche,
„essen sie deine Augen.“
Verträumt blickt er über die Müllberge. Ein riesiger Schwarm von Möwen ist auf einem der Hügel gelandet. „So sieht Schnee aus, nicht wahr?“
Dann, ebenso zusammenhanglos.
„Freiheit, weißt du?“
„Bist du frei?“
Er nimmt gierig die angebotene Zigarette aus meiner Hand.
„Frei“, wiederholt er.
„Bin ich frei?“
Er bläst den Rauch genießerisch gegen das Wellblechdach des winzigen Verschlages, in dem er mit drei anderen Kindern sein Zuhause hat.
„Wir müssen Miete zahlen. Für das hier. Jeder zehn Cent pro Tag. Wer nicht genug gesammelt hat, fliegt raus.“
Er lacht wieder, es wirkt resigniert, freudlos. Zeigt mit dem Finger auf seine Zahnlücken.
“Oder es gibt Hiebe.“
Erneut, wohl um die Erinnerung abzutöten, greift er nach Flasche, Lumpen, schnüffelt. Schwankt ein wenig und seufzt.
„Gut, kein Mädchen zu sein ...“
Manuels Worte bleiben in der stickigen Luft stehen.
Er hustet. Es klingt nach schwerem Asthma, dann sagt er:
„Freiheit.“
Der Gedanke fasziniert ihn offensichtlich.
„Wir haben auch einen Chef, weißt du, es gibt verschiedene Banden.“
Mit der rauen Ferse kratzt er sich Schorf vom Schienbein.
„Die ganze Müllhalde ist in Regierungsbezirke aufgeteilt. Gehörst du zu jemandem, einer Gruppe, darfst du sammeln. Wenn nicht …“
Er zuckt unbestimmt mit den Schultern.
“Dort hinten brennt Tag und Nacht ein Feuer“, sagt er. „Sie schmelzen das Metall aus Kabeln, alten Küchengeräten. Können immer ein wenig Brennmaterial gebrauchen …“
Manuel dreht sich um und zeigt mit dem Kinn auf eine reglose Gestalt hinter sich, einer seiner Freunde wohl.
“Heute tragen wir ihn hin. Er ist frei. Letzte Nacht hat er sie gefunden, die Freiheit.“
Er zieht Rotz und Schleim in die Mundhöhle, spuckt aus
.„Scheiß drauf“,
sagt er. Nimmt die Flasche, hält sich den Schnüffelfetzen erneut an die Nase.
©Thom Delißen 2007