"Goethe oder Tigerpenis"

Carlo Ihde

Mitglied
Oktober 2006




Alle die sie an die Existenz gleich welcher Fabelwesen glaubten, blieben die jeweiligen Beweise schuldig. Doch durch die Schuldigkeit entstand kein Versäumnis.
Eine kleine, alte, faltige Chinesin, die Glückseligkeit spendende, Lendenkraft schenkende Pülverchen mit Drachenknochenmehl als besonderer Zutat anbot: sie konnte nur an mögliche Interessenten appellieren, gleichsam wohlwollend zu glauben, zwar brächte auch der Selbstversuch keinen endgültigen Beweis. Hexenflüche, von Einhorn bis Yeti: was soll's, ein netter Zeitvertreib, spannend wenn's so wär, beängstigend, dass viele ernsthaft glauben, es wär so oder zur Zeit ihres Glaubens so gewesen, und dann als Frucht dieser Glaubenszeit: erlogene weil erträumte Begegnungen mit dem Schrecken, dem Wunder, der Macht, dem möglichen Tod, dem vielleicht ewigen Leben.
In den kleinen Tütchen mit curmingelben, beigebraunen, moccafarbenen oder altgrünen Füllungen war vielleicht der schnellere Tod, eine kürzere Nacht, eine längere Nacht mit mehr Freuden oder nur eine Beigabe für begabtere Mittagsmahlzeiten enthalten. Menschen gab's viele, die durch ihren Bedarf nach älteren Weisheiten ermöglichten, dass auf Altstadtmärkten auch immer so ein exotisches Gewürzlädchen war, das scheinbar die Lösung vieler europäischer Gegenwartsprobleme in Tütchen abgepackt, und mit alten chinesischen Zeichen beschriftet, anbot. Die alte, chinesisch aussehende Dame vermied es, allzuviel zu sprechen, schaffte es die Diskretion moderner Sexshoparbeiterinnen zu wahren, die eh wissen worauf es derlei begierigen Blicken ankommt. Hätte sie gesprochen, wäre ihr akzentfreies Deutsch aufgefallen, ihr unromantisches Deutsch. Goethe, Heine, Schiller sprachen romantisches Deutsch, weil's um Liebe ging, glaubte man, ja sicher, Goethe war ein alter Bock, der siebzehnjährige Mädchen mit Sonetten überforderte und folglich betört zu haben glaubte. Wofür?
Für das Eine. Um sich zu zeigen, dass der Dichter noch Mensch ist und damit halb Tier und das taugt nicht für Käfighaltung bei gleichbleibend ödem Futter.
Und der Mensch von heute?
Eh in Käfigen gehalten von Geburt an, das Erwachsenwerden ein einziger Käfig. Dann im Beziehungsgeflecht zu anderen Artgenossen scheinen Körperfunktionen, die von Dichtern geliebten und gehassten Triebe, sich nicht mehr beherrschen und wie gewohnt bedienen zu lassen. Darauf folgt der Griff zur Hilfsmittelpalette und in unserem Fall ließ sich die kleine Chinesin finden, die eigentlich in Deutschland geboren wurde und die von der Kultur, die man ihr vom Antlitz ab erwartet, so gut wie nichts mitbekommen hat, die aber für Geld, wie ihre Deutschen Landsleute, den Zauber aufrecht erhält oder überführt in ein anderes Vokabular, weil vielen Landsleuten, vielen Sprachgenossen, Heine und Schiller schon lange nicht mehr als Medizin ausreichen.

Kein "Vielen Dank für ihren Einkauf", denn da wäre der Placebo-Effekt dahin, keine der modernen Floskeln, da der ganze Vorgang an sich schon eine ist. Nur diese Wahrheit bleibt ungehört, was ihr wiederum ihre Wirkung garantiert.

Die junge, intelligente Frau ging an dem Lädchen vorüber, sie sah sich zögernd in den kleinen Auslagen um, die mit rotem Samt bezogen waren. Die Chinesin, zwar unromantische Deutsche aber auch in Deutschland nicht fern von Lebenserfahrungen gealtert, sah der jungen Frau an, wonach sie sogleich fragen würde. Jaja, die Weiblichkeit unterstützen, das Altern aufhalten. In Europa galt nämlich die intelligente Frau als Erkenntnisfähig, besonders in Bezug auf den Verfall ihres Materials und dass sie dieser Grenze notwendigerweise schon sehr nahegekommen sein muss, wenn sie Erkenntnisse dieser Art bemühen kann. Bereit zu einem, zum Himmel schreienden, Jahresvorrat an allem, was sie als Frau bei der Altersvorsorge vergessen hatte. Die Chinesin hätte sagen können:

"Ach Kindchen, wenn ich dich so höre und sehe, Frauen deines Schlages bedenke...Ihr führt die Emanzipation ad absurdum. Ich bin alt und hab gemäß eures Strebens nach vermeintlich ewig möglicher Jugend kein Recht auf mein jetziges, altes Leben in Würde? Ich könnte auf die Auslage kotzen. Weil ihr so blöd seid und klemmig und euer momentan unerfülltes Sexleben erfüllen wollt durch zeitliche Verlängerung und Möglichkeitenhäufung in der Verlängerung - selbst wenn niedrige Erfolge erst über längere Zeiträume eine annehmbare Gesamtbilanz erzeugen - weil ihr so blöd seid, vermutet ihr hinter jeder alten Chinesin eine kryptische Mythendienerin, der ihr wohlgesonnen sein wollt? Ihr macht mir nichts vor. Ich hasse eure Hoffnungen, die ihr immer an anderen Menschen festmacht oder in Selbstgesprächen keiner Klärung entgegen treibt!!!"

Aber die liebe, kleine Chinesin sagte nichts, auch wenn ihr ihre Landsleute befremdlich vorkamen. Das Volk, das Goethe und Schiller hatte und geriebenen Tigerpenis brauchte, um sich groß vorzukommen....
Und gleichzeitig schwärmten viele echte Chinesen für dieses romantische, waldreiche, seenreichen, schneereiche, kirchen- und sagenreiche Deutschland und für sie hätte sich die Frage "Goethe oder Tigerpenis" vielleicht gar nicht gestellt...

Gewürz und Geld wechselten die Besitzerin und die weiterschlendernde, junge deutsche - sich als Europäerin begreifende - Frau war die letzte Kundin. Die Chinesin schloss sofort ihr Lädchen, sie hatte umgehend beschlossen, noch heute ein anderes Leben führen müssen, fernab von diesem Mechanismus, der kleine, angenehme Lügen verteilt. Belehren kann sie wohl kaum einen mehr. Belehrt werden will auch niemand, nur Lösungen finden von solch einem Leichtigkeitsgrad, für die man selbst nach einem harten europäischen Arbeitstag noch genug Energie zum Ertragen hat.

"ABER DAS IST EIN IRRTUM!", brüllte die Chinesin plötzlich. Die junge, deutsche Frau war schon zu weit weg, um das Gesicht der da hinten brüllenden Person noch zu erkennen, die Stimme hatte sie ja vorher nicht gehört, die hatte keinen Erkennenswert. Und deshalb glaubt sie bis heute, die alte Chinesin umwehte eine geheimnisvolle Aura und sie hätte kein Wort des unromantischen, deutschen Gegluckses verstanden.
Das war ein Irrtum.

Das Gewürz bewirkte nichts. Aber Deutschland glaubte, weil es sich fremdländisch berührte Speisen vorsetzte, es hätte seinen Standpunkt geändert und seinen Blickwinkel erweitert.
Das blieb ein Irrtum.
 

Carlo Ihde

Mitglied
Ich habe den text jetzt überlesen und leicht korrigiert. Dabei ist mir wieder der essayistische Charakter aufgefallen. Zwar ist es eindeutig Kurzprosa, aber es lässt sich doch nicht leugnen, dass eine Art von essayistischer Dialektik die Erzählstruktur stärker domniert, als das zu verbildlichende Geschehen. Insofern [blue]erzählt[/blue] der Text weniger als er [blue]analysiert[/blue].
Kann mir vorstellen, dass viele nicht gern sowas lesen möchten. Was solls.
 



 
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