"Keine Vorkommnisse, Genosse Leutnant!"

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlußlichter rasch kleiner wurden. Mit der freien Hand wischte er sich über die brennenden Augen.
‚Karin!' dachte er. ‚Karin, warum nur?'.
Immer wieder formulierten seine Gedanken diese drei Worte. Zu mehr waren sie im Moment nicht fähig.

Irgendwann trat er achtlos die Zigarette aus, vergrub die klammen Hände tief in den Taschen seines Uniformmantels und ging zum Ausgang. Mit schleppenden Schritten durchmaß er den leeren Fußgängertunnel, wo schmutzig-weiße Fliesen das Licht der flackernder Neonröhren reflektierten und eine trostlose Kälte über ihn breiteten.

Auf dem Bahnhofsvorplatz schien der junge Mann langsam zu sich zu kommen. Ein Blick zur Uhr sagte ihm, daß die verbleibende Zeit für einen Fußmarsch nicht ausreichen würde. Er ging daher langsam zum Taxistand. Er achtete nicht auf das plötzliche Motorgeräusch in seinem Rücken. Erst als unmittelbar neben ihm Bremsen quietschten, schaute er auf. Aus einem grau-grünen Geländewagen sprangen zwei Uniformierte und kamen mit raschen Schritten auf ihn zu. Weiße Mützenbänder, weißes Koppelzeug! Auf den Armbinden leuchteten die Buchstaben KD.
"Kommandantendienst!' dachte der Mann und nahm unwillkürlich Haltung an. Mit der Militärpolizei war nicht zu spaßen.
"Genosse Gefreiter! Ihren Urlaubsschein!" schnarrte der Streifenführer und legte nachlässig die Hand an den Mützenschirm.
"Einen Moment." Der Mann kramte in seinen Taschen. Er besaß keinen Urlaubsschein, nur eine Ausgangskarte. Als der Streifenführer einen Blick darauf geworfen hatte, wurde sein Gesicht mißtrauisch.
"Ausgang bis Null-Zwo-Uhr? Sehr ungewöhnlich", knurrte er.
"Habe ich als Belobigung für ausgezeichneten Grenzdienst erhalten."
Vor wenigen Stunden hätte er diese Erklärung nicht ohne Stolz abgegeben. Doch jetzt kamen ihm die Worte völlig gleichgültig von den Lippen.
"Aha", sagte der Streifenführer nur. Er blickte hinüber zur schwach erleuchteten Bahnhofsuhr und schien kurz zu überlegen.
"Wir müssen ohnehin zum Regiment. Steigen Sie ein. Wir setzen Sie bei ihrer Kompanie ab."
War das nun ein freundliches Angebot oder eine Aufforderung, die keinen Widerspruch duldete? Aber war das nicht völlig egal?. Wortlos klemmte sich der junge Grenzer auf die harte Rückbank.
Schon schoß das Fahrzeug über den Bahnhofsvorplatz, durchquerte einige enge Straßenzüge und raste dann auf der Ausfallstraße der Kaserne entgegen. Durch die Ritzen des Verdecks drang ein eisiger Luftzug. Frostig ging es auch in dem engen Gefährt zu. Man wechselte kein Wort. Der Grenzer glaubte zu wissen, warum man ein Gespräch mit ihm mied.
‚Sie wissen es schon und haben mich gesucht,' dachte er. ‚Wer weiß, wo die mich abliefern.'
Doch seine Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Nach knapp zehn Minuten hielt der Kübel direkt vor dem Schlagbaum seiner Kompanie. Der Grenzer bedankte sich, erntete aber nur ein kurzes "Schon gut." Dann jagte das Fahrzeug wieder hinaus in die Nacht.
"Das war ja ein sehr merkwürdiges Taxi", staunte der Posten und lugte mit neugierigen Augen unter dem Stahlhelm hervor. "Wohl zuviel getankt, was?"
Der Angesprochene reagierte nicht, sondern ließ den Posten einfach stehen. Er betrat den zweistöckigen, lieblos hingeklatschten Neubau, der seiner Einheit als Kaserne diente. Auf dem Flur schlug ihm der vertraute Geruch von Bohnerwachs und Waffenöl entgegen. Den wachhabenden Offizier bemerkte er erst, als der bereits vor ihm stand.
"Na, Genosse Wiesner. Irgendwelche Vorkommnisse im Ausgang?" Die Frage war reine Routine, kein lauernder Unterton heraus zu hören. Wußten sie immer noch nichts?
"Nein, Genosse Leutnant. Keine Vorkommnisse."
Der Offizier nickte und teilte ihm dann mit, daß er für morgen vom Dienstplan gestrichen sei.
"Sie melden sich um neun Uhr im Dienstzimmer des Politoffiziers. Verstanden?"
"Jawohl, Genosse Leutnant!"
Also doch! Die Meldung war bis hierher vorgedrungen. Merkwürdig - wie gleichgültig ihn das ließ. Was konnte es für ihn schlimmeres geben, als das, was er eben auf dem Bahnhof erlebt hatte.
"Kopf hoch, Wiesner! Ihnen passiert nichts. Sie sind doch einer meiner besten Postenführer. Auf meine Fürsprache können sie zählen."
Der Gefreite Wiesner murmelte ein "Danke" und bat dann, auf seine Stube gehen zu dürfen. Es wurde ihm gewährt. Doch Wiesner ging an der Tür, wo seine Zimmerkammeraden der Frühschicht entgegen schnarchten, vorbei. Wie hätte er sich jetzt einfach ins Bett legen können, wo er doch keinen Schlaf finden würde. Er wollte allein sein. Allein mit seinem Schmerz.

Er betrat den dunklen Waschraum und öffnete beide Fensterflügel. Die herein strömende Kälte schien er kaum zu spüren. Sein Blick glitt hinüber zu der unendlich langen Reihe von Peitschenlampen, die wie Teile einer leuchtenden Perlenschnur den Grenzverlauf markierten. Und irgendwo dahinter tauchte plötzlich eine Gestalt am nächtlichen Himmel auf. Sie wuchs auf ihn zu - schien zum Greifen nah, und doch blieb sie so unendlich fern. Ihm war, als brauchte er nur die Hand auszustrecken, um die feinen Linien des geliebten Gesichts mit den Fingerspitzen nachzuzeichnen.
"Oh Karin", flüsterte er. "Warum muß es ausgerechnet so enden? Dabei liebst Du mich noch genauso wie früher. Und trotzdem hat diese Liebe nicht die Spur einer Chance. Warum mußte uns Dein Vater das antun? Ging es ihm, dem privilegierten Wissenschaftler denn so schlecht, daß er genügend Grund besaß, um von seiner Dienstreise in den Westen nicht zurück zu kehren? Und deine Mutter hat nichts Eiligeres zu tun, als den längst vorbereiteten Antrag auf Familienzusammenführung aus der Schublade zu ziehen. Du hast deine Eltern verteidigt, hast viele Gründe genannt. Gründe, die ich nicht verstanden habe. Werde ich sie je verstehen? Und wenn ja - was nützt es uns?"
Er sah zu ihr hinüber, blickte in ihr tränenüberströmtes Gesicht. Und er fühlte sich plötzlich wieder so, wie in den letzten Minuten auf dem Bahnsteig - ausgebrannt, leer, ohne Worte.

Fauchend schoß eine Leuchtkugel in den frostklaren Himmel. Ihr flackerndes Licht ließ das Bild des geliebten Mädchens verschwimmen.
"Karin! Geh nicht!"
Als die Leuchtkugel erlosch, gab es nur noch die Schwärze der Nacht und das höhnische Flimmern der Grenzbeleuchtung.
"K a r i n!"
Ein Schrei, der den Posten unten am Schlagbaum zusammenzucken ließ. Ein Schrei, geboren aus der Qual unbändiger Sehnsucht und hilfloser Verzweiflung. Er brachte keine Befreiung, aber er schuf Platz für ein völlig neues Gefühl, das sich mit aller Macht in ihm Bahn zu brechen begann. Es war der Haß, der Haß auf diese verfluchte Grenze, die von nun an nicht mehr irgendwo dort vorn in der Dunkelheit, sondern mitten durch sein eigenes Ich verlief.
 

arbir

Mitglied
Eine packende kleine Geschichte ist dir hier gelungen! Gefällt mir wirklich und ich denke, du erfüllst auch deinen Anspruch, man soll nur über das schreiben, was man kennt.
 

Yossarian

Mitglied
Tja manche Leute haben halt den Bogen raus und ich würde sagen du gehörst dazu.
Eine Geschichte, die bis zum Schluss fesselt und eine intensive Wirkung hat.

Naja ich sollte mich zurückhalten, zuviel Lob war noch nie gesund und schadet der Kreativität.
 

Andrea

Mitglied
8 von 10 Punkten

Im Großen und Ganzen kann ich mich meinen Vorrednern nur anschließen - flüssig geschrieben, verständlich, packend. Einzig drei Stellen würde ich stilistisch etwas ändern.

1.) "Durch die Ritzen des Verdecks drang ein eisiger Luftzug. Frostig ging es auch in dem engen Gefährt zu. Man wechselte kein Wort."

Den Frostig-Satz kann man sich sparen. Wenn direkt nach der kalten Luft beschrieben wird, wie sich alle anschweigen, wie Beklemmung im Grenzer aufsteigt, wird von allein klar, daß dei Atmosphäre stark unterkühlt ist.

2.) "Und trotzdem hat diese Liebe nicht die Spur einer Chance. Warum mußte uns Dein Vater das antun? Ging es ihm, dem privilegierten Wissenschaftler denn so schlecht, daß er genügend Grund besaß, um von seiner Dienstreise in den Westen nicht zurück zu kehren? "

Bißchen zu pathetisch. Daß der Vater privilegiert ist, hätte ich eher in einem zweiten Satz eingefügt. So wirkt es künstlich erklärt.

3.)"Es war der Haß, der Haß auf diese verfluchte Grenze, die von nun an nicht mehr irgendwo dort vorn in der Dunkelheit, sondern mitten durch sein eigenes Ich verlief."

Klingt mir einfach zu kitschig, vor allem mit dem Sehnsuchtsschrei davor. Vielleicht hätte man eher was über zwei Seiten in seinem Ich (ein vor Sehnsucht kranke, eine, die Karin die Trennung vorwirft) schreiben können, um dann den Blick des Grenzers auf die Mauer/Grenze fallen zu lassen?
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Liebe Andrea,
es ist schon toll, wie du mit deinen Kritiken immer wieder ins Schwarze triffst. Auch in meinem Fall sprichst du genau die Punkte an, die mir bereits beim Schreiben kein sehr glückliches Gefühl beschert haben. Ausgenommen Punkt1. Daß hier ein Satz überflüssig ist, habe ich glatt übersehen. Keine Angst, ich will jetzt nicht meine Geschichte erklären. Ich weiß - du bist dafür nicht so wahnsinnig gern zu begeistern. Nur soviel vielleicht:

Die Geschichte ist entstanden,
a) weil ich schon immer über dieses Thema schreiben wollte. (Es gibt noch zu wenig darüber, und es wird zuviel schwarz-weiß gemalt. Mich interessieren aber die unendlich vielen Grautöne)
b) weil ich als Kursteilnehmer an der Andersson-Akademie dringend einen Idee für eine abzuliefernde Arbeit (Kurzgeschichte - max 120 Zeilen) brauchte.

Ich habe also versucht, einen Stoff in eine Kurzgeschichte zu pressen, der vielleicht sogar für einen Roman ausreichen könnte. Ich hatte tagelang damit zu tun, meine Entwürfe zu kürzen. Das Kürzen ist wichtig, aber hier geschah es - vor allem zum Schluß - um den Preis, ins Kitschige abzurutschen. Ich weiß, daß kein Sehnsuchtsschrei genügt hat, um in einem willigen Grenzsoldaten buchstäblich über Nacht unbändigen Haß auf diese Grenze einzupflanzen. Ein solcher Vorgang ist viel komplexer. Mit Sicherheit werde ich daher dieses Thema noch einmal aufgreifen und in einer breiteren Form zu verarbeiten suchen.

Zum Schluß noch einmal ein Kompliment an deine Art, Kritiken zu schreiben. Sie helfen wirklich.

Ein nachdenklicher
Ralph.
 

Breimann

Mitglied
Auf Spurensuche,

lieber Ralph und diese Geschichte gefunden. Sie fasziniert mich - und aus der gelungenen Kürze kann man (ich) lernen. Ich habe hier vor Zeiten Grenzübergang" geschrieben, aber nach dieser Lektüre mzss ich sie neu schreiben. Diese Dichte, der vollständige Spannungsbogen; so schreibt man eigentlich nur, wenn man erlebt hat.
Kompiment
eduard
 

klara

Mitglied
"Im Westen nichts Neues" und "keine besondere Vorkommnisse" fielen mir ein, als ich deine Zeilen gelesen habe.
"Nichts besonderes", das Besondere enthält, bewegt mich.
Wie du sagst, eine Kurzgeschichte, die ein Roman sein könnte.
Grüße.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Eduard,

da hast Du aber ganz tief in die Mottenkiste gegriffen und sogar die Urversion dieser kleinen Geschichte hervor gekramt.
Was Du über die im Text erzielte Dichte schreibst, darüber freue ich mich ganz besonders, da ich ja von Haus aus eigentlich viel mehr dazu neige, in die Breite zu gehen. [Das Problem dürfte dir ja auch nicht ganz unbekannt sein :)) ]. Hier wurde ich aber durch die streng vorgegebene Zeilenbegrenzung zu gnadenloser Kürzung gezwungen. Auf "freiwilliger" Basis gelingt das noch nicht so recht, aber man sollte sich dazu zwingen, auch wenn man Passagen über Bord werfen muß, die einem trefflich gelungen erscheinen. Irgendwer hat mal sinngemäß gesagt oder geschrieben: "Schreiben ist die Kunst des Weglassens." Ich finde, da ist was dran - wenn es nur nicht so unendlich schwer fallen würde.
Übrigens, Du erwähnst, daß Du einen Text mit ähnlicher Thematik in Arbeit hast. Da bin ich natürlich am Ergebnis sehr interessiert. Laß nicht zu lange damit warten.


Hallo klara,

ich danke Dir für deine lobenden Worte. Daß dir in diesem Zusammenhang "Im Westen nichts Neues" eingefallen ist, mag vielleicht Zufall sein, aber Du hast ein Buch angesprochen, das ich schon mehrmals verschlungen habe. Remarque gehört zu meinen ganz großen Vorbildern. Ist das vermessen? Wahrscheinlich. Aber wenn ich sehe, wie viele Lupianer hier einen Stephen King als Vorbild angeben, ihm nacheifern und ihn wahrscheinlich auch nie erreichen werden.....


Seid beide lieb gegrüßt von
Ralph
 



 
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