1000 Tote Fliegen

Chris Hunter

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Ich glaube, die Fliegen haben mich daran erinnert. Sie kamen ins Zimmer, als ich mit meinen Gedanken in den Quellcodes meines Programms vertieft war. Ich habe sie erst gar nicht bemerkt, hier in diesem dunklen Zimmer. Ich dachte, es wären nur ein paar. Gerade so viele, wie ich am Monitor totdrückte. Aber als ich genug hatte von meiner Arbeit, sah ich das unglaubliche Ausmaß der Invasion. Es waren Tausende! Sie krabbelten am Fenster und an der weißen Wand. Unzählige, hellgrüne, kleine Fliegen. Ich denke nicht das es Mücken waren, denn man konnte sie leicht mit einem Handtuch ins Jenseits befördern. Aber die Fliegen sind nicht das, worauf es ankommt. Es kommt auf das an, was sie in mir ausgelöst haben.

Nach dem Massenmord wollte ich mich schlafen legen, aber es gelang mir nicht. Ich glaube, die Fliegen waren daran schuld. Sie haben mich an ihn erinnert. An den Campingplatz. Dort gab es auch immer diese Fliegen. Meine Oma und mein Opa hatten dort einen Platz mit einem Wohnwagen und einem kleinen Garten. Das war zu einer Zeit, als noch alles in Ordnung war. Ein wunderschöner Ort für ein kleines Kind, wie ich eines war. Dort war ein schöner See mit Sandstrand und einem Holzsteg, über den man laufen konnte. Man setzte sich darauf und hielt die nackten Füsse in das kühle Wasser. Meine Oma sorgte mit ihren Markstücken dafür, dass es mir nicht an Eis oder irgend etwas anderem fehlte. Es war die pure Erholung. Ich war sehr oft auf diesem Campingplatz. Und ich fühlte mich wohl. Pudelwohl.

Der Platznachbar meiner Großeltern, Eckart, war mein bester Freund. Er war vielleicht vierzig Jahre, aber verrückt wie ein Kind. Wir trieben unsere Späße mit den Rentnern. Und er nannte sie immer „Die Alten“. Wir spielten Indianer und versteckten uns in den Büschen. Machten merkwürdige Geräusche und lachten in uns hinein, wenn „Die Alten“ sich wunderten was es war. Wir suchten im Licht der Dämmerung auf dem Sandstrand nach leeren Flaschen, um den Pfand dafür gegen Eis einzutauschen. Und wenn noch zwei Mark zu einer Wasserpistole gefehlt haben, so hatte Eckart sie bei sich. Wir alberten den ganzen Tag und meine Seele machte hundert Sprünge. Eckart hatte ein großes Schlauchboot, mit dem wir auf dem See paddelten und schwammen und plantschten. Der See war so schön. Klares Wasser. Es gab eine Ruheinsel in der Mitte des Sees, von der Eckart mich mit Vorliebe ins Wasser schubbste. Manchmal schwammen wir nur zum Schubbsen dort hin. Oder zum Tauchen. Auf dem See waren Dreiecke aus Holz, auf denen man sitzen oder turnen konnte. Auf denen man sitzen konnte, um über „Die Alten“ zu lästern.

Ich half Eckart beim Ausbau seines Wohnwagens, so gut ich es konnte als Zwölfjähriger. Pinselte das ganze Dach mit ihm. Meine Oma hatte solche Angst um mich. Sie war ein „Alter Angsthase“. Ich pflanzte Blumen in seinem Beet und trieb mich den ganzen Tag mit ihm herum.

Morgens saß ich mit meiner Oma und meinem Opa am Frühstückstisch. Opa las die BILD und ich schlemmerte ein Nutella Toastbrot nach dem anderen. Ich lauschte den Geräuschen der Vögel und freute mich auf den kommenden Tag.
Ich fuhr mit dem alten Klappfahrrad meiner Oma durch die Wälder bis spät abends, um dann im Wohnwagen den Freitagskrimi anzuschauen. Manchmal kam dann Eckart vorbei um mit Opa ein Bier zu trinken und mir übers Haar zu streichen.
Diese Zeit war so wunderbar.

Eckart hat mir eines Tages gesagt, dass er keine Lust mehr hat. Er sagte, dass er nicht mehr weiter weis. Aber ich habe ihn nicht ernst genommen. Und plötzlich war er nicht mehr da.
Meine Oma hat mir erzählt, dass er gestorben ist. Sie hat mir erzählt, er habe sehr gelitten, weil seine Frau ihn verlassen hat. Und sie erzählte mir, er wäre ein Säufer gewesen. Ich habe das damals nicht verstanden. Und heute tut es mir weh. Es tut mir so sehr weh, das zu wissen. Meine Oma sagte, man habe ihn in seiner Wohnung gefunden. Er hätte die Lust am Leben verloren und sei den klassischen Säufertod gestorben. Eine Woche nach seinem Tod, hat man ihn in seiner Wohnung gefunden. Eine ganze Zeit lang gab ich mir die Schuld daran, weil ich ihm nicht geholfen habe. Heute weis ich, dass ich im nicht hätte helfen können.

Und so verging die Zeit. Meine Oma starb Jahre später an einem Schlaganfall. Vor Ihrem Tod lag sie ein halbes Jahr mit einer halbseitigen Lähmung im Krankenbett. Mein Opa erlitt kurz darauf auch einen Schlaganfall und kann jetzt nicht mehr richtig laufen. Er ist zu alt, um die BILD zu lesen und wohnt in einem Pflegeheim.

Nach dieser schlaflosen Nacht bin ich nun mit meiner Freundin auf dem Campingplatz um ihr zu zeigen, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Und es ist erschreckend. Der See ist viel kleiner geworden. Nicht dass er an Größe verloren hätte, es ist viel mehr mein fortgeschrittenes Alter und es sind die Jahre die vergangen sind. Das hat ihn schrumpfen lassen. Es gibt immer noch den Sandstrand, das Wasser ist immer noch kühl, aber der See ist von Algen durchwuchert. Die hellbraunen Dreiecke sind nun schwarze, faulige Holzklumpen, genauso wie der Steg. Die vorher so grasgrüne Wiese ist eine hässliche, staubige Steppe geworden. Alles ist heruntergekommen. Meine Kehle sticht. Ich weine. Das alles erinnert mich an die 1000 toten Fliegen.
 



 
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