11:05 Uhr

Die Stadt im Gegenlicht, oder eine Stadt in der Stadt. Nehmen wir einmal an, man könnte durch diese lange Geburtsröhre so hineinfahren, wie man einst herauskatapultiert wurde; und sehen wir diese Röhre als Symbol einer Art Heimkehr zu längst vergangenen, verdrängten oder vergessenen Bezügen. Nicht die Reise in den fleischlichen Schoß, sondern die Begehung des geistigen Museums soll hier vordergründig sein. Man begibt sich also freiwillig, so wie ein Abenteurer, der unentdeckte Flecken der Lichtwelt erforscht, auf eine Reise in die dunkle Welt seiner Wurzeln und Schatten. Aus den Wurzeln wird das Licht geboren, sowie die Schatten ständige Begleiter sind. Stellen wir uns unseren Geist als ein gebündeltes Sammelsurium einer langen Geschichte durch viele Epochen gepaart mit neuzeitlichen Einflüssen vor.

Ich wachte auf, die Lichter um mich herum schienen mir wie viele Sonnen, denen man ein Kleid aus milchig transparenten Stofflumpen geschneidert hatte. Im Hintergrund hörte ich Stimmen, Schnarchen, Wehklagen, elektronische Geräusche, so dumpf und undeutlich, dass ich drohte aus meinem frisch erhaltenem Leben wieder in einen tiefen Schlaf zu fallen. Doch ich wollte nicht wieder dahin zurück, wo ich herkam und gab mir alle Mühe, es so zu sehen und zu hören, wie es war. Eine zweite Gelegenheit, eine Möglichkeit die Wege anders zu beschreiten und aus eigener, nicht geschenkter Kraft, das zu versuchen, wonach ich schon immer strebte. Ich hatte nun Zeit; Zeit, die mich nicht wie ein Ballast am Bein zu lähmen drohte, Zeit, die ich mir wünschte, nicht wie zuvor in der Zeit, wo es nur das bange Warten auf die Zeit selbst war, diese Tage und Wochen zum Nichtstun verdammt, in der es nicht möglich war vorwärts zu schreiten, zu denken oder zu handeln. Wie oft verfluchte ich die Zeit, jeden schleichenden Moment, der mich anstatt in die Jugend ins vorzeitige Alter trieb.

Am Anfang war die Tat. Na, wer sagte das noch gleich, und sie wurde nicht erfunden, sondern getan. Bevor es also eine Geisteshaltung gibt, muss etwas in Bewegung gesetzt werden, dass uns veranlasst zu reflektieren, zu analysieren, zu empfinden; aus diesem Gedankengeflecht entsteht eine weitere Handlung, die es wiederum zu überdenken und zu bewerten gibt. Eine Symbiose aus Handeln, Fühlen und Denken bestimmt unser Sein. Doch bin ich, was ich tue oder bin ich, was ihr getan habt? Wie finde ich das heraus. Ich begebe mich also auf die Reise durch die Röhre aus der ich gekommen bin und erforsche das, woraus meine Stadt entstanden ist.

Es muss im Sommer 1980 gewesen sein, als ich mich das erste Mal verliebte. Ich gehörte nicht gerade zu den jungen Frauen, die eine romantische Vorstellung von der Liebe hatten, schon gar nicht mit gleichaltrigen Männern, die mir zu verspielt, rüde, vulgär und ungebildet waren. Mir waren diese Gebärden zu wider, dieses Balzverhalten, wie Paviane, nur mit dem Unterschied, dass mir nicht der nackte, rote Arsch ins Gesicht sprang, sondern die Tröpfchenübertragung durch das verbale Geprahle als überzeugendes Argument das Maß aller Dinge war. Ich hielt mich fern von rauen und lieblosen Tönen, umgab mich lieber mit Bildern, meinen Bildern, der Vorstellung von einem Mann, der da aus dem Nichts auftauchen sollte, sowie alles um mich herum in diesem Moment ins Nichts verschwand.

Ich ging wie immer, wenn die anderen Religionsunterricht hatten, ins benachbarte Sportcenter. Konfessionslosigkeit war ein Segen. In meiner Gegend war es schick Sonntags in die Kirche zu gehen; da trafen sich Notare mit Ärzten, Kommunalpolitiker mit Industriellen, und Neureiche mit den Töchtern der angesehenen Väter. Die Kirche degenerierte zu einem Marktplatz für neue Brüste, Eheverträge, Spendenquittungen und modernem Kuhhandel. Amen. Nein, mit Gott konnte ich nicht viel anfangen; vielleicht lag es einfach daran, dass ich ohne ihn aufwuchs. Nicht einen Gedanken verschwendete ich daran, dass irgendjemand anderes für das verantwortlich wäre, was mir geschieht, oder dass etwas von selbst passiert ohne mein Zutun oder Nichtstun. Damit erübrigte sich auch für mich die Frage, warum gerade mein Leben so und nicht anders verlief, während andere in Schuldzuweisungen oder Gottverlassenheit badeten.


Ich gehe zurück, in Gedanken, weil alles was ich sehen werde, wurde bereits getan. Kammer für Kammer, Haus für Haus, die Straßenzüge gleichen einem Haufen gesponnener Wolle, die sich kilometerweise verknotet und verwirrt vor mir ausbreitet. Es gibt einen Anfang und ein Ende, einen Weg, der an all unseren Taten und Untaten, den Resultaten unseres Fühlen und Denkens vorbeiführt. Dem Inhalt der Kammern gilt mein Augenmerk, wobei die Reihenfolge des Abschreitens keine Rolle spielt.

In den Stunden, wo meine Schulkameraden die Bekehrungsbank drückten, setzte ich mich ins Café und suchte einen Tisch, an dem ich einen Blick auf die gut betuchten Hausfrauen werfen konnte, die sich im neusten Fummel die Tennisbälle um die Ohren schlugen. Ich bestellte ein Kännchen Kaffee, stützte meinen Kopf auf die rechte Hand und schaute mit leerem Blick durch die gläserne Wand auf diesen grünen Teppich und die weißen Linien. Es war Winter, und weil zu dieser Jahreszeit wenig Grün zu finden war, suchte ich es in künstlichen Rasenformationen.
Grün zog mich magisch an, obwohl ich selbst nie grün trug. An meinem Körper konnte ich diese Farbe nicht ertragen, sie verwehrte mir den Blick auf das Wesentliche, die Schönheit, die Facetten und die Tiefe eines Grüns. Ist es nicht so, dass etwas erst schön wird, wenn es im fremden, unberührbarem Glanze strahlt? So wie ein Kleid, das man selbst nicht tragen kann, aber schön an einer anderen Frau aussieht, oder wie ein Möbelstück, das durch die kapriziöse Fertigung so viel Dynamik verbreitet, dass selbst auf freier Flur die Betrachtung ein größerer Genuss ist, als das Leben mit ihm in den eigenen, geschlossenen Wänden.
Ich zündete mir eine Zigarette an, ohne dass ich es merkte. Mir ging die Vergänglichkeit durch den Kopf, mein Alter und das, was ich bislang erlebt hatte; ich träumte fortwährend von Fehlplätzen, wie hier, wo ich gerade saß und wenn ich nicht träumte, wurde mir gewahr, dass sich hinter meinen geschlossenen Augen der Garant für mein bis dato surreales Leben verbarg. Aus der Not geboren starrte ich auf Felder, anstatt auf Felder?


Ein großer Raum; ich stehe in einem großen, luftleerem Raum inmitten von Kreuzungen und Häusern.
Zurückblickend sehe ich einen Weg gepflastert mit einem Haufen Splitt, der auf der Schattenseite schwarz und unsortiert erscheint. Ich befinde mich in einem Zustand, der ein Handeln erfordert, eine Entscheidung, für mehr Raum und weniger Zeitverschwendung. Ich könnte nun einfach stehen bleiben, hier passiert mir nichts, aber hier geschieht auch nichts, oder ich könnte mich für eine Tür, ein Haus, eine Abbiegung entscheiden, in der ich der Lichtwelt ein Stück entgegentrete, in einen Raum, der diesen Splittern Gesichter, Zeiten und Farbe verleiht. Gesichter, die mir vielleicht nicht gefallen werden, Farben, die ich mir bis heute anders vorstellte und Zeiten, aus denen ich geboren wurde, die zu Licht werdend so abschreckend sind, dass es mich blenden könnte. Doch es könnte auch ganz anders sein.

"Ihr Kaffee, junge Frau", erlöste mich weiter darüber nachzudenken, ob ich hier meine Zeit verschwendete. "Danke", entgegnete ich eher flüchtig und schaute dabei einen kurzen Moment in seine Augen. Sie waren grün. Ein Mann Anfang Dreißig stand vor mir, dunkelblonde, leicht gewellte Haare, schlank und von jener männlichen Ausstrahlung, die ich nachts so oft im halbwachen Zustand begehrte. Seit Wochen und Monaten kam ich nun schon hierher, doch dieser Mann fiel mir nie auf; wie sollte er auch. Erst jetzt bemerkte ich, dass sich das Interieur verändert hatte, ich sah Farben an den Wänden, die Blumen auf den Tischen dufteten, während andere vorher künstlich die Vasen beleidigten, im Hintergrund lief Genesis, die Bar war nicht mehr nur dunkel rustikal, sondern glänzte durch eine freundliche, ältere Dame, die mit einem Lächeln das Bier zapfte, als wenn sie nicht den Knauf des Hahns in den Händen halten würde, sondern den Phallus des längst verstorbenen Ehemannes in den wildesten Zeiten ihres vorehelichen Frühlings.
Mein Gesicht hellte sich mit jedem Detail weiter auf und bis auf die dumpfen Geräusche der hin und her schlagenden Bälle, registrierte ich von diesem langweiligen Mütterchentennis nichts mehr, sondern nur noch Stefans rollende Augen, wenn eine dieser ächzenden Glucken ein Mineralwasser bei ihm bestellte.
Ich beobachtete ihn; mittlerweile stützte ich meinen Kopf auf die linke Hand. Da kam wieder so ein Kaffeekränzchen herein und setzte sich einen Tisch weiter. Drei Damen um die vierzig, aufgedonnert und reich mit Schmuck behangen, die Haare hochgesteckt, und parfümiert, dass ich befürchtete, gleich mit meiner Zigarette explosionsartig durchs Flachdach zu fliegen.
Stefan begab sich zu ihrem Tisch und nahm mit einem aufgesetzten Lächeln die Bestellungen entgegen. Schöne Hände, ging es mir durch den Kopf, und ich stellte mir vor, wie diese Hände wohl in meinen aussahen. Gut geformte, lange Finger hatte er, gepflegte Nägel und kaum ein Fältchen trübte die zarte Haut. In Gedanken versunken nahm ich meine linke Hand vom Kopf weg, hielt sie mir vors Gesicht und wanderte mit den Blicken abwechselnd zwischen meiner und seiner Hand, die nach wie vor die Bestellungen der Damen auf einen Notizblock kritzelte.
Ich wusste, dass diese zwei Paar Hände gut harmonieren würden und während ich mir weiter vorstellte, wie die ersten Berührungen durch meinen Körper gehen, begab sich Stefan in die uneinsehbare Küche und ich starrte wieder rechts auf Felder, auf denen nun weiße Linien und grüne Flächen, die Innenseiten seiner Hände, zu sehen waren.


Ich entscheide mich an dieser Kreuzung links abzubiegen und steuere auf ein Haus zu, über dessen Tür mich flackernde Lichter zum Eintreten animieren. Solche Lichter, von denen man nicht weiß, ob sie einen hinters Licht oder ins Licht führen. Schön bunt und im Takt des Flackerns schlägt mein Herz immer unregelmäßiger und schneller. Ich zögere einen Augenblick, denke mir aber im Nächsten, dass ich die Zeit nicht zurückdrehen kann. Es ist alles schon passiert, nichts lässt sich mehr ändern. Geschlossene Augen? Bin ich nun, was ich tat oder bin ich, was ihr mit mir getan habt, oder bin ich beides?

Ich vergaß die Zeit, mein Kaffee war halb ausgetrunken und kalt, als da plötzlich etwas nach meiner Zigarette griff, die unmerklich bis auf den Filter abgebrannt zwischen meinen Fingern wie ein Relikt des ersehnten Stillstands klemmte. "Ich glaube diese Zigarette ist aus und bevor Dir die Asche in den Kaffee fällt, nehme ich sie Dir lieber aus der Hand.", sagte Stefan und hielt mit der einen Hand meinen Unterarm fest und entfernte mit der anderen den kalten Stummel.
Zitternd, elektrisiert und erschrocken zugleich drehte ich meinen Kopf mit einer raschen Bewegung und blickte direkt in das Grün seiner Augen. Da fiel ich um, obwohl ich saß. Die Hand in meiner Hand, die Berührung und der Blick, das war kaum auszuhalten. Mein Mund bewegte sich, als wollte ich etwas sagen, doch es kam nichts heraus; gedankenlos und ohne mich zu bewegen, war es so, als wenn meine Hand sich von meinem Körper löste "Hier, es ist nun Deine Hand, nimm sie doch mit...bitte, nehme mich mit", war das, was ich sagen wollte.
Stefan legte die abgebrannte Zigarette in den Aschenbecher, während er meine Hand wie zu einem Gruß festhielt. Er stellte sich vor und fragte, wer ich sei, und während er das tat, ging er in eine Kniebeuge, ohne auch nur einen kleinen Moment von meinen Augen zu weichen. Wie warm und weich diese Hand war; mir ging es durch alle Körperregionen, doch der Kopf schwieg. Der Kopf schwieg! Dieses Schweigen drückte wohl in vollendetster Form das aus, was sich VOR meinen Augen abspielte.

"Stefan, kommst Du mal bitte in die Küche?", tönte es da vom anderen Ende des Cafés. "Oh, das tut mir leid, meine Mutter ruft und das heißt so viel wie, kümmere Dich bitte auch um die anderen Gäste." Er richtete sich wieder auf, hielt die Hand nun zum Abschied und fragte "Kommst Du öfters hierher?" Ich war bemüht einen Satz hervorzubringen und sprach mit leiser Stimme "Jeden Montag und Donnerstag zwischen 10:00 und 11:00 bin ich hier...".
"Das ist schön", sagte er, "dann sehen wir uns also Donnerstag wieder." Er ließ meine Hand los, streichelte mir eine Strähne aus dem Gesicht, begab sich bis auf halbem Wege rückwärtsgehend Richtung Küche, drehte sich um und verschwand hinter einer Schwenktür.
Ich packte meine Sachen zusammen und warf einen hastigen Blick auf die Uhr.



11:05. Ich trete ein und sehe Männer. Vertraute, zum Teil längst vergangene Lebensabschnittspartner, schaue in Gesichter, die mir grinsend oder lächelnd einen der leeren Stühle anbieten. Jeder von ihnen reicht mir Kaffee und Zigaretten, streckt mir eine Hand entgegen, solche mit Linien und Feldern. Einige Felder sind bespielbar, andere künstliche Grünformationen, einige schwitzen, andere sind kalt und trocken. Alle treten vor meine Augen und jetzt weiß ich, wer ich bin. Ich bin ein Teil von euch, so wie ihr ein Teil von mir seid. Doch der Kaffee ist kalt, die Zigarette verglimmt. Einzig warm ist der Gedanke an deine Hand, die sich um 11:06 mir entgegenstrecken wird.

Oder sitze ich wieder hinter meinen Augen und trinke gerade ein Schlückchen meiner Selbst?
 



 
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