3 D ohne Brille

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george

Mitglied
3 D ohne Brille

Ich leb’ online,
ständig vernetzt, nicht zeitlich versetzt, sondern life,
ohne Werbung, nicht linear polarisiert, animiert.
Immer top aktuell, ja auch drunter,
nur die shorts wieder retro.

3 D mit vier Klingen, jeden Morgen im Bad,
IMAX -gefühlt, gesehen, gesprochen, nicht gedubbt, original,
ständig auf Sendung, nicht börsennotiert.
Ich bin life und in dolby surround,
gar im Schlaf, ohne jeden Brother-Container.

Ja, mein Dasein gibt es real. Bunt und selbst noch schwarz-weiß,
nicht flach nur vom Beamer, sondern 3 D.
Mit Stolpern, Versprechern, Tafeln, Kreide, Tinte, Pflastern und Sorgen.
Nicht verlapt und verlobt, doch gelitten, gefuttert, gepinkelt,
ständig geklickt, animiert, getriggert, gebeamt und glücklich.

Ich leb’ online und life, jeden Tag, jede Nacht,
ohne jegliche Trägerfrequenz, ohne Dämpfung, ungefiltert Direktempfang.
Nicht flatline, nicht payback, kein fingerprint-Passwort
für meine Gedankenmaschine,
nix compressed, MP3, gif oder tiff, Kopierschutz geknackt.

Ich leb’ online in mir, im Haus, auf der Straße, im Bus und in Bahnen,
auf Pisten, der Zeitung, dem Hörsaal, Büro, im Hellen, im Dunkeln,
ständig auf Sendung.
Bei meetings, auf Bühnen, auf Pritschen, auf Fliegern, im Bett,
selbst auf Papier von der Rolle im Bad. Online real.

Wie die Zärtlichkeit von Fingerkuppen, Gerüche,
der Wind und das Wiegen von Blumen in Wiesen,
der Blick in die Augen, Blinzeln und Lächeln,
Krankheit, Tränen, Schmerz und Liebe,
Hunger, Sehnsucht, Verzweiflung

und Tod.


18.12.2003
 

Vera-Lena

Mitglied
Oh Schreck!

Lieber george,

in welchen Zeiten leben wir, wenn wir es uns selbst einbläuen müssen, dass es uns wirklich gibt.
Ich hoffe, die Dinge verschlimmern sich nicht immer noch mehr.

Dein Text liegt nahe bei der Ironie und man kann ihn sich auch total humoristisch vorstellen, dann wäre "kaputt" das letzte Wort gewesen.

Schön, dass es Dich life gibt, obgleich ich mir das ja auch wieder vorstellen muss, aber Vorstellungen sind auch real.

Liebevolle Grüße in Dein pralles Leben von Vera-Lena
 

george

Mitglied
Liebe Vera-Lena,

herzlichen Dank für deine Kommentar.

Wenn man ständig umgeben ist, von virtueller Welt, digital und analog, ewiger Jugend, 24 h von Anwesenheit, rundum um die Welt ständig präsent sein muss, schliesslich sich sogar in dreidimensionale Erfahrungswelten begibt, dann verlfließen irgendwann einmal die Grenzen zwischen Realität und Virtualität. Es ist dann gar nicht mehr viel Unterschied zwischen einer Fahrt in einer richtigen U-Bahn und einer vituellen. Mit der richtigen Optik umgeben, den Geräuschen, Bewegungen einer virtuellen U-Bahn ausgesetzt, kannst du fast nicht mehr unterscheiden.

Im realen Leben fehlt nur noch die Fernsteuerung, mit deren Hilfe man sich hin und her zappen kann. Allerdings geht auch das immer schneller. Heute in San Francisco, morgen in Tokyo ist eigentlich kein Problem mehr. Und vom Flughafen kommend dann Einkaufen bei Lidl.

Nur die Endlichkeit des Lebens, Krankheiten, Unfälle, nicht Berechenbares, scheint die Möglichkeiten noch zu begrenzen.

Grüße
Jürgen
 



 
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