9 Monate in Bolivien - 2 Begegnungen

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Amy

Mitglied
Victor

Auf der anderen Straßenseite. Da sitzt Du. Deine schwarzen glänzenden Haare hängen dir ins Gesicht. Grüne Jacke. Abgenutzte schwarze Schuhe. Wie viele lange, schwüle und eisige Monate trägst Du sie schon. Winter und Sommer. Ich spüre schnell: Hier macht das keinen Unterschied. Ich folge der Bewegung deiner Hände. Flink und geübt sind sie. Deine öligen Finger, übersät von Schwielen, halten die Bürste fest und gehorchen.

"Wollen Sie noch ´nen extra Glanz, Señor?"

Der Señor will.
Er bezahlt. Und stürzt sich wieder in die graue Welt von Aktentaschen, deren Spur sich in den Straßen der Stadt verliert. Irgendwo.

Dann stehe ich vor Dir.
Dein Blick ist geübt. Unzählige Male schon hast Du die vorbeieilenden Menschen so angesehen. Und wie viele Male schon hast Du die gleichen Worte gesprochen.

"Señorita, Ihre Schuhe sind dreckig. Ich putze sie Ihnen, ja?"

"Ist gut."
Ich setze mich und blicke auf Dich hinunter. In deinen Haaren liegt der Staub der Stadt. Der Dreck tausender Busse und Autos. Das Gehetztsein deiner Kunden.
"Wie heißt Du?"

"Victor."
Du reibst deinen Lappen in der öligen Dose.

"Wie alt bist Du?"
Ich kann dein Alter nicht erkennen. Dein wacher Blick ist der eines Jungen. Dein Leben?

"Ich bin zwölf."

Deine Bürste reibt den Staub der vergangenen Tage von meinen Wanderschuhen.
"Gehst Du noch zur Schule, Victor?"

"Ja, morgens. Mittags bin ich hier auf dem Prado. Bis um Mitternacht. Um zwölf geh ich nach Hause. Da sind nicht mehr viele Señores unterwegs."
Du wischst dir mit der freien Hand den Staub aus den Augen, den dir der kalte Wind der Anden ins Gesicht peitscht.

Du bist mir nicht mehr fremd.
"Was arbeiten deine Eltern?"

Jetzt tauchst du den Lappen in die schwarze klebrige Schuhcreme.
"Ich weiß nicht. Ich wohne im Heim. Zusammen mit anderen Jungs."

"Sind deine Eltern gestorben?"

Die Creme macht aus meinen olivgrünen Lederschuhen nun rabenschwarze Stiefel. Aber ich sage nichts.
"Ja.........Ich weiß nicht, ich kenne sie nicht."

Du bist Victor. Zwölf Jahre. Schuhputzer. Keine Eltern. Eine Gruppe von Touristen geht an uns vorüber. Ich atme die dünne Höhenluft tief ein. Victor.

"Meine Geschwister wohnen auch im Heim. Die sind noch klein."

Meine Schuhe sehen nun sehr sauber aus. Und schwarz.

"Du brauchst das Geld für die Schule, stimmt’s?"
Ich lächle Dich an.

Du streifst Dir eine Strähne aus dem Gesicht.
"Ja. Stifte, Hefte. Ist alles ziemlich teuer. Möchtest Du noch Glanz. Deine Schuhe, mein ich."

"Mach es so wie du denkst."
Du packst eine andere Bürste aus dem Metallkasten und beginnst zu polieren.

"So, fertig." Du blickst mich erwartungsvoll an.

"Wieviel geb ich Dir?" Ich hole ein paar Münzen aus dem Portemonnaie.

"Das, was es Dir wert ist."

Und schon wieder zauberst Du mir ein Lächeln ins Gesicht.
"Wenn ich Dir 2 Pesos gebe, darf ich dann noch ein Foto von Dir machen?"

"Na klar."
Jetzt bist Du es, der lächelt.

Und Du lächelst heute noch, Victor. Auf einem großen Foto in meinem Album.

Wo bist Du jetzt?




Fanny
Manchmal lächelst Du noch, von Zeit zu Zeit. Doch die Schmerzen sind so stark geworden, sie beherrschen auch deinen Geist, dein Gemüt, das unschuldige Gemüt eines todkranken Kindes. Das Lachen wird immer seltener, es dringt nicht mehr durch den sterbenden Körper hindurch. Wenn Du einmal lächelst, möchte ich das Lächeln einfangen und es nicht mehr loslassen. Das Bett ist bedeckt von unzähligem Spielzeug, die Kuschelente singt auf Knopfdruck; das gefällt Dir, Fanny.
„.....quack, quack, quack, over the hills and mountains.“

Über Hügel und Berge würdest Du am liebsten fliegen und die Schmerzen und die Angst ganz weit unten zurücklassen, sie vergessen. Auch die Angst vor den Untersuchungen, die Dir jeden Tag bevorstehen. Wenn wieder eine neue Infusion gelegt werden muss, oder eine Rückenmarkspunktion deinen kleinen, dünnen und schwachen Körper verletzt, Woche für Woche, viele Monate. Und das Gelenk deiner rechten Hand ist rot und verkrustet von den unzähligen Einstichen, die dein Körper nicht mehr verkraftet, nicht mehr heilen kann, weil ihm der Lebenssaft, das gesunde Blut, das jedem Menschen ein Geschenk ist, fehlt. Die Hand bereitet Dir Schmerzen.
„Mi manito“ sagst Du, eine Bitte an deine Mutter, die Hand mit Luft zu kühlen, die sie dir zufächelt, das lindert deine Schmerzen, ich weiß es Fanny, und auch ich kühle deine Hand, wenn deine Mutter so müde ist, dass sie im Holzstuhl sitzend einschläft. Oh ja, sie ist so müde und merkt es kaum, weil sie jede Minute an Dich denkt und daran was Dich glücklich macht.

„Ein Glas frische Milch möchtest Du, Fanny?“

Sie hat kein Geld mehr, es reicht nur noch für den Bus, der sie heute Abend nach Hause bringt. Für ein paar Stunden. Um dann wieder mit neuer Kraft an dein Bett zurückzukehren.

„Fanny, nein, jetzt keine frische Milch. Schau, es ist noch Saft da.“

Ich aber möchte unbedingt, dass Milch da ist, weil mir in diesem Moment Fannys Sehnen nach einem Glas frischer Milch das wichtigste auf der ganzen Welt erscheint. Also gehe ich zum Laden auf der anderen Straßenseite und hole die Milch.

Ich sitze wieder neben Fanny auf dem Bett. Das volle Glas mit der Milch steht auf dem Nachtischchen.

„Möchtest Du keine Milch mehr, Fanny? Ich hab sie Dir extra gekauft. Die ist so gesund. Die Milch, die macht deinen Körper wieder ganz stark und gibt dir neue Kraft.“

Die Milch bleibt erst mal stehen. Ich lese Dir aus dem Buch mit dem Hund vor. Der Hund des kleinen Jungen wird von einem Auto angefahren. Er muss zum Tierarzt, der dem Jungen Mut zuspricht und den Hund wieder aufpäppelt und am Ende ist alles gut. Du liebst das Buch. Der Junge ist tapfer, der Tierarzt der Retter in der Not und der Hund wird gesund, deine Welt stimmt wieder.

Dann wirst Du müde.
„Ruh Dich aus, Fanny, morgen komme ich wieder. Ruh Dich aus und schlafe. Und wach morgen wieder auf. Ich werde wieder da sein und Dir die Geschichte von dem Hund erzählen, der wieder ganz gesund wird.“

Der Krankenhausgeruch empfängt mich jeden Morgen auf neue. Bei dem Geruch denke ich an Dich und daran, was mit Dir geschehen wird, was mit deinem Körper geschieht.

Er führt Krieg, Fanny. Dein kleiner Körper muss Krieg mit sich selbst führen und Du bist noch so klein und jung und viel zu schwach, um diesen Kampf zu gewinnen.

Ich komme an dein Bett, deine Mutter schläft. Ich drücke auf den Bauch der Ente.
„Over the hills and mountains.....“Du verstehst kein Englisch, wirst es niemals lernen können. Trotzdem weißt Du, von was die Ente singt. Vom Glücklich sein, vom Spaß, vom Leben. Bald beginnt für Dich ein neues Leben. Ich will nicht daran denken. Jetzt bist Du noch hier, sitzt neben mir auf dem Bett und die Ente singt und singt. Vom Leben.

Deine Mutter wacht auf. Ihr Gesicht zeigt Müdigkeit und unendliche Erschöpfung. Sie braucht Schlaf. Ich möchte ihr helfen.

„Heute Nacht könnte ich bei Fanny schlafen.“

Sie schaut mich mit großen Augen an. Sie nimmt mein Angebot an. Aber zu Hause schlafen will sie nicht. Sie würde vor Sorge kein Auge zubekommen. Wir einigen uns: Ich schlafe bei Dir im Bett und sie auf der Matratze auf dem Fussboden.

Der Fernseher läuft bis Mitternacht. Dann ist der Hollywood-Film zu Ende. Du schläfst ein.
Ich mache es mir halb sitzend am Fußende des Bettes bequem. Die Nachtschwester schaut noch einmal herein, aber alle kleinen Patienten schlafen tief und ruhig.

„Schlafe. Schlafe Fanny und erhol Dich. Ich bin bei Dir, es kann Dir nichts passieren.“

Stille. Ruhe. Nichts. Ich schlafe.

Ein Traum. Nein, ich wache auf. Du wimmerst mit verzerrtem Gesicht. Du würgst. Ich greife nach der Schüssel, die auf de Nachtischchen steht und halte sie Dir hin. Du spuckst. Blut. Seit einigen Tagen wird es immer häufiger. Du isst kaum noch. Dein Körper ist schwach. Du würgst noch einmal und schaust mich aus tiefglänzenden Augen an. Schaust einfach.

“Geht´s, Fanny? Musst Du noch einmal spucken?“
Ich deute auf die Schüssel. Aber deine Augenlieder werden schwer. Du bist zu müde, um Antwort zu geben. Dein kleiner Oberkörper fällt zurück ins verschwitzte Kissen. Ich streiche Dir über die warme, mit winzigen Schweißperlen bedeckte Kopfhaut. Wie wohl deine Haare einmal aussahen? Ob Du kleine Löckchen hattest, die dein Gesicht und deine schwarzen, glänzenden Augen umspielten? Ich schlafe wieder ein.

Weinen. Packendes, angsterfülltes Weinen. Ich schrecke hoch.

„Fanny, was ist los? Komm her! Komm in meine Arme, das war nur ein Traum. Garnichts passiert. Ich bin hier bei Dir und da unten liegt deine Mamá. Siehst Du sie? Wir sind da. Alles o.k., nicht weinen, Fanny. Nicht weinen. Komm, ich streichle Dir den Rücken. Alles gut, Fanny, keine Angst.“

Noch oft in der Nacht weckt mich dein Weinen, Deine Angst, dein Schmerz. Manchmal wacht auch deine Mutter auf und wir beruhigen Dich gemeinsam. Einmal blutet die Nase, später musst Du aufs Töpfchen. Dann wieder ein schlechter Traum.
Vergiss die schlechten Träume, Fanny. Träum was schönes. Vielleicht vom Hund aus dem Buch. Der macht Dich wieder froh. Ich weiß es, Fanny.

Am nächsten Abend ist dein Vater da. Er sieht müde aus. Alle sind müde. Ich auch. Er spricht nicht viel. Möchte einfach nur bei Dir sein. Er ist Musiker. Vielleicht hat er heute noch einen Auftritt. Im Hotel Palacio. Oder im Grand Hotel. Folkloreveranstaltungen für Touristen aus Europa. Dort spielt er, um ein paar Pesos zu verdienen. Damit er Dir die nächste Bluttransfusion bezahlen kann.

Jetzt ist er hier bei Dir. Und du erzählst ihm vom Hund aus dem Buch. Draußen wird es langsam dunkel. Die Touristen im Grand Hotel warten schon.

Ich möchte ihm etwas sagen.
„Heute haben wir gemalt. Fanny kann es schon sehr gut.“
Er schmunzelt. Ich glaube, er freut sich und ist sogar ein wenig stolz.

Deine Mutter gibt ihm noch einen Kuss. Dann geht er.


* * *

Schwer bepackt gehe ich den Gang im ersten Stock entlang. Am Freitag war mein letzter Arbeitstag. Übers Wochenende habe ich die Jesuitenmissionen besucht. Mit einem bolivianischen Freund: Rimber. Heute ist Montag. Ich möchte mich verabschieden von Dir und von den anderen Kindern. Rimber begleitet mich. Ich habe euch eine Menge Süßigkeiten mitgebracht. Viel zu viel und viel zu ungesund. Und ich freue mich wie ein kleines Kind darauf, Dir und den anderen die Leckereien zu überreichen.

Ich öffne die Schwingtür zu deinem Zimmer. Dein Bett ist ganz links am Fenster. Es ist leer. Es ist auch kein richtiges Bett mehr. Die Matratze fehlt. Nur noch Metall. Leer und kalt.

Mein Gehirn weigert sich, zu arbeiten.

Ich stelle die Frage einfach so in den Raum.
„Wo ist Fanny? Ist sie zu Hause?“

Die Mutter des Jungen im Nachbarbett blickt mich unverständlich an. Ein Schatten huscht ihr übers Gesicht. Dann spricht sie.
„Aber nein. Sie ist gegangen.“ – „Se fue.“

Die Buchstaben, die Worte. Sie dringen in meinen Kopf ein. Nein. Stopp.

Dann bin ich ganz ruhig. Ich setze mich auf das kalte Bettgestell. Rimber ist da. Er umarmt mich. Es tut gut.

Sie ist weg. Sie ist weg. Fanny, Du bist gegangen.
Eine Weile sitze ich einfach nur da. Ich spüre keine Zeit mehr. Keinen Raum.

Rimber versucht zu helfen.
„Du hast mir doch erzählt, wie sehr sie gelitten hat. Erinnerst Du dich?“

Ja, ich erinnere mich, Fanny. An die Nacht, an das Blut, an dein Weinen.

Nie mehr. Nie wieder. Alles ist still.



Geht es Dir gut, Fanny?

Du bist frei.

„Over the hills and mountains….“
 
L

Lotte Werther

Gast
An Amy

Schön erzählt. Dicht und stimmungsvoll. Ich war noch nicht in Bolivien, kann mir aber den Jungen vorstellen. Du beschreibst mit "Victor" eine Szene, die jeder so erleben kann. Als Turist. Vor allem aber ist es eine für dieses Land typische Szene.

Die zweite Geschichte mit Fanny bedarf des Hintergrunds, der dem Leser jedoch verborgen bleibt. Und sie ist nicht typisch für Bolivien. Solche Geschichten gibt es hier und überall.

Beide Texte sind gut geschrieben und haben Erzählwert über das Tagebuch hinaus.

Ich habe deshalb einen Vorschlag:
Trenne doch die beiden Geschichten und erweitere "Fanny" um die emotionale Komponente deines Bezugs zu dem Kind und seiner Familie.

Ein guter und versprechender Einstand auf der Lupe.

Lotte Werther
 

Devika

Mitglied
Handwerklich finde ich beide Texte wirklich gut gemacht. Ich denke aber auch sie sollten entkoppelt werden.
Die Aussage der beiden Texte finde ich jedoch wenig originell, hatte mir irgendwie mehr erhofft.
Wenn du 9 Monate in Bolivien warst, dann hoffe ich auf interessantere Erzählungen von dir. :)
 



 
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