Abdul 10 Jahre

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Vera-Lena

Mitglied
Abdul 10 Jahre

Du großer Gott,
Du hast mir ein Auge genommen,
aber das andere hast Du mir gelassen.
Sei gepriesen. Sei gepriesen.
Du hast mir ein Bein genommen,
aber das zweite hast Du mir gelassen.
Sei gepriesen. Sei gepriesen.
Du hast mir meinen Vater
und meine Mutter genommen.
Aber meine kleine Schwester
hast Du mir gelassen.
Du weißt, was für jeden gut ist.
Sei gepriesen. Sei gepriesen.



Wenn Du auch weißt,
was für jeden gut ist,
so bitte ich Dich doch,
Du großer Gott,
lass meine kleine Schwester
bei mir!
Wenn ich noch größer bin,
werde ich für Dich kämpfen,
Du großer Gott,
für Dich werde ich sterben
und bei Dir sein im Paradies.
Du großer Gott.


Sei gepriesen. Sei gepriesen.
 
krieg, das können wir hier gar nicht verstehen. wir leben hier seit jahren in frieden. die älteren können krieg begreifen, die meisten nicht.
deshalb ist es gut, dass man darüber spricht. nicht nur sagt: Krieg ist schlimm. oder: es gibt tod und das ist traurig. krieg verändert die leute irgendwie. das hast du in deinem gedicht auf schockierende weise dargestellt.
ich dachte wirklich erst fremdenfeindlich. so etwas wie: ist der blöde, dass der zu so einem gott betet. dein gedicht verleitet zu solchen gedanken, schätze ich. und diese gedanken haben mich dann erschreckt. ich versuche immer tollerant zu sein, aber tolleranz ist nicht dasselbe wie verstehen. man kann vorgeben, fremde kulturen zu tollerieren, aber das wird leicht zur heuchelei. wenn man doch tief innerlich eine abneigung gegen das fremde hat. das ist traurig, aber es ist so. beim lesen deines gedichtes hatte ich also solche rassistischen gedanken, obwohl ich doch sonst völlig gegen rassismus bin.
doch es ist ja nicht der gott, der abdul so handeln lässt, ganz zu schweigen sein charakter oder seine kultur. es ist der krieg. der verändert die leute. vielleicht suchen sie etwas, woran sie sich festklammern können.
und wäre es nicht der krieg gewesen, so wären es irgendwelche anderen umstände gewesen, die den jungen so geformt hätten. schließlich ist er erst 10. er kann sich nicht wehren.
krieg muss die leute reihenweise kaputt machen. wirklich, meine großeltern haben heute noch probleme. dabei ist das lange her. doch anscheinend hinterlassen solche erlebnisse spuren auf der psyche.
danke dir jedenfalls, dass du diese andere seite beleuchtet hast.

schönen tag noch,
manon geneviève
 

Vera-Lena

Mitglied
darauf eingelassen

Liebe manon,

ganz herzlich danke ich Dir, daß Du Dich auf dieses Gedicht eingelassen hast und daß Du mir Deine Gedanken so ausführlich mitgeteilt hast. Ich kann ja nie vorher wissen, was so ein Text an Gedanken auslösen wird.

Der kleine Abdul reagiert ganz einfach so, wie man es ihm innerhalb seiner Religion beigebracht hat. Er ist ja noch zu klein, um über seiner Erziehung zu stehen und sich eigene Gedanken zu machen. Das hast Du so erkannt, wie ich es auch deutlich machen wollte. Verstümmelt und ohne Eltern wie er jetzt ist, hat er ja wegen dieser gerade erst erlebten Dinge nicht schon gleich neue Einsichten. Woher auch? Die Irakis sind vollkommen isoliert und ihr religiöse Erziehung wird mit allergrößter Strenge vorgenommen. Das Einzige, was er sich erlaubt, ist, daß er in seinem Herzen jedenfalls eine eigenwillige Bitte vorbringt, nämlich von seiner kleinen Schwester nicht auch noch getrennt zu werden, aber dann flüchtet er wieder in die eingelernten Dinge zurück.
Wie es im Irak weitergehen wird, läßt sich überhaupt nicht einschätzen. Das ist leider schon alles, was ich dazu sagen kann.

Dir noch einmal meinen Dank und gute Wünsche für einen schönen Sonntag.
Liebe Grüße Vera-Lena
 

Vera-Lena

Mitglied
Ihr Lieben,

diesen Text wollte ich doch noch einmal heraufholen als Antwort auf Heidruns Frage, wie es denn gehen kann, dass aus einem fröhlichen Kind eines Tages ein Terrorist wird.

Traurige Grüße, denn das sind nun einmal traurge Wahrheiten
Vera-Lena
 

Ralf Langer

Mitglied
hallo vera lena,

für mich eine gelungene annäherung
an ein schwieriges thema.

ich denke gerade weil lyrich
ein kind ist, klingt dieses gebet,
so harmlos...
und doch wittern wir die leser
die saat des kommenden "gotteskriegers"

nachdenklichen gruß
ralf
 

Meral Vurgun

Mitglied
Liebe Vera-Lena,
ich nehme mir alle Texte ins Herzen, die gegen Krieg sind...
auch diesen Text nehme ich....
Liebe Grüsse...
 

Label

Mitglied
Liebe Vera-Lena

dieses beeindruckende Gedicht muss ich damals wohl übersehen haben.
Danke dass du es hervorgeholt hast.

Ich teile die Einschätzung Ralfs dass dir da etwas gelungen ist, das jenseits von Schuldzuweisungen die Kreiselung von Macht/losigkeit aufzeigt.

nachdenklich und beeindruckt
Label
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Vera-Lena,

ich interpretiere das Kämpfen nicht unbedingt als terroristische Anwandlung, eher als Hinweis darauf, mit den Behinderungen zu leben, sich dem Alltagskampf zu stellen.

Der Junge will sein Leid fatalistisch ertragen, es als gottgewollte Prüfung verstehen. Vielleicht tröstet ihn der Glaube daran, dass das alles einen göttlichen Sinn hat.

Kinder werden gern instrumentalisiert, um Ideologien lebendig zu halten.

Mit dem Namen "Abdul" deutetst Du an, dass der Betende ein Moslem ist. Das braucht man gar nicht. Es passt auf alle monotheistischen Religionen.

cu
lap
 

Label

Mitglied
moin moin lapismont

natürlich hast du recht, dass daraus kein Einmünden in eine terroristische Zukunft abzulesen ist.
Das ist eine der möglichen späteren Entwicklungen.
Dieser spezielle Rückschluss findet nur im Kopf des Lesers statt.

Nach meinem Dafürhalten, hat Vera-Lena das nicht beschrieben.

LG Label
 

Vera-Lena

Mitglied
Ihr Lieben, Label und Lapsi,

danke für Eure Rückmeldungen!

Aus dem Text geht hervor, dass Abdul in einem frommen Elternhaus aufgewachsen ist. Ein musilimisches Kind muss die Glaubenspflichten erst ab dem 12. Lebensjahr erfüllen. Da er aber seine Eltern 5 Mal täglich beten sah, hat sich vieles von der islamischen Glaubenslehre schon in ihm verwurzelt.
Deshalb ist es ihm möglich, dieses Gebet zu sprechen.

In späteren Jahren wird er auch intensiv mit dem Koran in Verbindung gekommen sein, zB mit diesen beiden Stellen:

Nimmer trifft uns etwas anderes, als was Gott uns bestimmt. (Sure 9, 51)

Siehe, Gott gebietet Gerechtigkeit zu üben, Gutes zu tun und die Verwandten zu beschenken und er verbietet das Schändliche und Schlechte und Gewalttat. Er ermahnt euch, auf dass ihr es zu Herzen nehmt. (Sure 16,92)

Wie es mit dem Jungen weitergegangen ist, der heute schon 19 Jahre alt wäre, darüber sagt mein Gedicht ja nichts.

Beides ist denkbar und jedes davon bleibt auch dem Leser als möglicher weiterführender Gedanke offen.

Der Junge kann durch das furchtbare Erlebnis seinen Glauben weiter vertieft haben, er könnte aber auch bearbeitet und überredet worden sein, sich als Selbstmordkandidat zur Verfügung zu stellen.

(Eine kleine private Anmerkung sei mir noch gestattet. Ich schrieb das Gedicht im Mai 2003 erfüllt von Zorn über den superdummen Satz von george bush junior:" Die Zivilbevölkerung des Irak wird durch die Angriffe der USA keinerlei Schaden nehmen.")
 

Vera-Lena

Mitglied
Es ist schon so spät,

ich habe doch glatt den Gruß vergessen.

Label und Lapsi, seid herzlich gegrüßt.

Vera-Lena
 



 
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