Abendbrot

Tinka

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Abendbrot


Petra war zu früh. Sie kannte das schon. Eigentlich war sie immer zu früh – aus Angst zu spät zu kommen.

Wenigstens hatte sie so noch einen schönen großen Parkplatz gefunden, in den sie ihren Kleinwagen recht zügig einparken konnte, ohne die interessierten Blicke Vorübergehender auf sich zu ziehen. Einparken war eindeutig nicht ihre Stärke!

Petra fühlte sich hungrig.

Sie schaute auf die Uhr. Noch eine gute Viertelstunde blieb ihr Zeit. Diebesgut. Minuten, die sie sich gestohlen hatte, um all dem zu entfliehen, was ihr Leben und sie immer mehr zu beherrschen begann.

Sie fegte mit der Hand den Schnee von der kleine Steinmauer und setzte sich auf die graue Fläche. Ihr langer, dick gefütterter Mantel schützte sie vor der Kälte. Lautlos und scheinbar schwerelos schwebten Schneeflocken aus dem Himmelgrau zur Erde. Sie öffnete den Mund und versuchte, wie in Kindertagen, die Flocken mit ihrer Zunge aufzufangen – Erinnerung an das Gefühl von Sorglosigkeit und Geborgenheit.

Autolärm, durch die Schneedecke zwar gedämpfter, holte sie zurück ins Jetzt. Und schon trugen ihre Gedanken sie wieder in die schon weihnachtlich geschmückte Küche, wo Gerd nun wohl den Kakao für die Kinder zubereiteten würde.

War sie eine egoistische Ehefrau, eine herzlose Mutter, die mit ein paar gestohlenen Minuten im Gepäck die Familie verlassen hatte, um diese Beute hier im unbeschwerten Treiben der Schneeflocken ganz allein zu genießen?

„Nein!“, sagte sie laut. Ein junger Mann, der gerade mit seinem Hund den Weg entlang kam, sah sie verwundert an.

In diesem Augenblick begannen die Glocken der alten Kirche zu läuten, bedächtig erst, dann immer kraftvoller. Ihre Töne besiegten jeglichen Alltagslärm, füllten die Luft mit ihrem Klang.

Die Gedanken, die Petras Sein eben noch beherrscht hatten, lösten sich auf wie die Schneefocken, die sich unbeachtet auf ihren bloßen Händen niederließen.

Gierig lauschte sie dem Geläut

Die früh einsetzende Dämmerung verwische nun mehr und mehr die Konturen zwischen Himmel und Erden. Das Bild vor ihren Augen verlor an Schärfe. Menschen, Bäume und Häuser wurden eins.

Als der letzte Ton verklungen war, erhob sie sich langsam.

Ihr Hunger war gestillt.

Sie klopfte mit klammen Fingern den Schnee von ihrem Mantel, ging zu ihrem Auto und fuhr heim.
 



 
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