Abnehmendes Echo

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Herbert Hoch hielt sich eigentlich für einen äußerst vernünftigen Menschen, obwohl er an Gott glaubte. Und wenn er etwas fürchtete, dann vor allem das Alleinsein. Da jedoch immer mehr vernünftige Menschen behaupteten, Gott sei längst tot, wuchs seine Angst vor dem Alleinsein. Vor einiger Zeit ließ er sich deswegen auf Herbert ein, der unerwartet aus dem Nichts auftauchte.
Außerdem versuchte er es mit Meditationen, Konzentrationsübungen und sogar ein wenig Revolution, indem er kurzfristig einer linken Splitterpartei beitrat. Herbert, der ihn inzwischen ständig begleitete, bestand aber darauf aus dieser Partei wieder auszutreten. Und von nun an führte er nur noch mit ihm politische, religiöse und allervertraulichste persönliche Gespräche. Ja, er begann sogar an dessen Fingernägeln zu nagen, sich an seinem Hinterkopf zu kratzen oder mit dessen rechtem Fuß die linke Wade zu scheuern. In ihren intensiven Gesprächen verfolgten sie weder vollkommen logische noch ausgesprochen unlogische Gedanken. Es war sogar ihr erklärtes Ziel, einen gemeinsamen Weg zwischen all dem Fassbarem und Unfassbarem zu finden.
Mit Herbert dachte Herbert Hoch über seine Frau und Kinder, ihre gemeinsamen Freunde, Feinde, und Nachbarn oder Menschen nach, denen sie zufällig auf der Straße oder in der Straßenbahn begegneten. Manchmal tauchten vor Herbert Hochs innerem Auge sogar vollkommen fremde Leute auf, die er zum ersten Mal sah. Und gerade bei diesen Fremden schickte er am liebsten Herbert vor, damit er sie anspreche und auf ihre Harmlosigkeit überprüfe.
Heute Morgen stand Herbert Hoch wie jeden Morgen mit ihm beim Rasieren vor dem goldbronzeantik gerahmten Spiegel im Bad und verfolgte die Bahn des störrisch brummenden und gelegentlich stotternden Elektrorasierers. Der umrundete den hellgrauen Vollbart, um die restlichen Stoppeln auf den faltigen Wangen und am noch faltenreicheren Hals zu beseitigen. Aber wie sehr er auch an der welken Haut Herberts zerrte und zog, um dem Rasierer glatte Hautflächen zur Rasur zu bieten, die Haut ließ sich nicht straffen.
Der hellgraue Bart versteckte ein nicht sehr ausgeprägtes Kinn und ein paar ziemlich weit herabgezogene Mundwinkel, die Stirn war tief gefurcht und die glanzlosen Augen blickten ihn aus tiefen grauen Höhlen an, als suchten sie seit langem schon die Vergeblichkeit von Herberts angestrengten Bemühungen.
Lachfältchen in den Augenwinkeln und bloß gelegte gelbe Zähne deuteten mühsames Lachen an. Die Furchen auf den Wangen wirkten ein wenig flacher, wenigstens die über den Mundwinkeln herabhängenden Barthaare hoben sich an und die Augen begannen ein wenig von jenem Glanz zu zeigen, den sie einst gehabt haben konnten. Und dann endlich…! Das bärtige Gesicht streckte einmal kurz und noch einmal richtig lange die belegte Zunge heraus. Herbert Hoch schaltete den Elektrorasierer ab, verstaute ihn im Spiegelschrank in einem von Veras Fächern. Da er seinen Rasierer nie reinigte und Vera dazu neigte, sich tierisch über die winzigen Barthaare in ihrem Badezimmerschrankfach aufzuregen, lachte er laut und genoss das Echo, das ihm mit dem hohl tönenden Hahaha Herberts antwortete.
Kichernd verließ er das Bad, zog sich im Schlafzimmer hastig an, machte das Bett, sah die Kindermütze, die seine Frau in der Babyabteilung vom Kaufhof für ihn erwarb, auf dass sie seinen schon reichlich kahlen Kopf nachts vor Zugluft schütze und grinste über Veras gut ausgepolsterten BH, den sie über die Rückenlehne des alten Schlafzimmer-Biedermeierstuhls gehängt hatte. Auch der beste BH konnte ihren altersschlaffen leeren Brüsten keinen Halt mehr bieten.
Realistisch betrachtet, sah Herbert, so empfand jedenfalls Herbert Hoch, kaum weniger lächerlich aus. Sein Bauch neigte, wie ihm der Spiegel des Schlafzimmer-Kleiderschranks zeigte, über seiner in einem Haarbusch gänzlich verschwindenden Männlichkeit zu erheblichen Faltenwurf. Und sein mehr als stämmiger Oberkörper ließ sich von zwei viel zu dünnen Greisenbeinen herumtragen.
Natürlich wusste Herbert Hoch, das Leben war endlich, aber vielschichtig und sein alterndes Hirn nicht mehr in der Lage, zu viel gleichzeitig zu registrieren und in die notwendigen Erkenntnisse umzuwandeln. Daher liebte er jene Altersweisheit, die wirklich großen Dinge seien eigentlich alle ganz einfach, hielt sie aber gleichzeitig für einen lächerlichen Erkenntniskomplott alternder Philosophen oder solcher, die sich, wie Herbert, dafür hielten. Dennoch ließ er es sich nicht nehmen, gerade diese Weisheit mit dazugehörigen bescheidenen, kluge Sätze zelebrierenden Gesten zu verbreiten, wenn er im Kreise seiner Kinder und Schwiegerkinder glaubte, den Lebenserfahrenen geben zu müssen.

Ein Frühlingslied pfeifend, verließ Herbert das alte Reihenhaus. Auf neunzig Quadratmeter teilten Vera und er sich darin seit über vierzig Jahren Bett, Wohnzimmer, Küche, Toilette und ein Arbeitszimmer, das einst seinen beiden Töchtern als Kinderzimmer diente.
Draußen atmete er tief Morgenluft ein und blickte hinauf zum Aprilhimmel. Unmittelbar über ihm in den grauen Regenwolken klaffte ein großes hellblaues Loch.
Auf dem Gehweg vor dem Nachbarhaus ließ er Herbert zunächst voller Absicht und laut lachend in einen reichlich großen, noch dampfenden Hundehaufen treten.
Gesine Gerlach, die bei nahezu jedem Wetter nebenan vor oder wenigstens hinter der Tür ihres Abschnitts des Achtfamilienreihenhauses stand, kam sofort auf Herbert zu. „Das war bestimmt wieder der Köter von der alten Herzog! Immer lässt die ihr Viech hier hinkacken.“
Herbert lachte, während Gesine Gerlach ihm auf die Brust tippte. „Anzeigen sollte man die. Aber ich will der ja nix. Ist gerade mal einen Monat Witwe. Ihr Mann hätte den Hund hier nicht hinkacken lassen.“
Natürlich war Herberts Hochs Vorhaben mit Herbert konfliktträchtig. Dennoch ließ er ihn vorsichtig die frisch gestrichene weiße Gartenpforte öffnen, den gleichmäßig kurz geschorenen Rasen betreten, zu einem kleinen Baum mit winzigen gelben Blüten gehen, sich an dessen dünnem Stamm festhalten und die Schuhe im Gras säubern.
„Was fällt Ihnen ein.“
„Ein bisschen Naturdünger kann Ihrem Rasen nicht schaden, Frau Gerlach.“
So schnell es ihre altersschwachen Beine zuließen, stürzte Gesine Gerlach auf Herbert zu und versuchte, ihn von ihrem Rasen auf einen Plattenweg zu zerren. Herbert hielt sich am Baum fest und lachte. „Aber, aber, Frau Gerlach, nicht so stürmisch!“ Behutsam schob Herbert sie zurück, verließ den Vorgarten durch die weiße Pforte und flüchtete lachend auf den Gehweg.
Gesine Gerlach stand hinter der Pforte, drohte mit den Fäusten, schnaubte und stampfte, da das linke Bein durch eine knapp zwei Monate zurückliegende Knieoperation nicht belastbar war, mit dem rechten auf. Sie werde die Polizei holen, schrie sie.
Herbert lachte der Nachbarin ins Gesicht, drehte sich um und ging die Straße hinauf, während die Nachbarin hinter ihm her keifte und ihn einen wohl vollkommen Verrückten schimpfte.
Er war inzwischen damit beschäftigt, an einer ziemlich dicken, in ein hellrotes Kostüm gezwängten Fußgängerin vorbei zu kommen. Wich er nach rechts aus, versuchte sie, ihn rechts zu passieren. Und als er versuchte, sie links zu umrunden, stand sie ihm plötzlich dort im Weg. Schließlich wich er auf die Straße aus. Laut quietschend kam ein schwarzer BMW unmittelbar vor seinen Füßen zu stehen. Der Fahrer ließ die Seitenscheibe per Knopfdruck in der Tür verschwinden, streckte den Kopf heraus und brüllte aus einem ungewöhnlich weit aufgerissenen Mund mitten in einem sonnenbankbraun glänzenden, glatt rasierten Gesicht. „Wohl lebensmüde, was?“
Herbert lachte schallend. „Bin immerhin um Einiges älter als Sie, junger Mann! Da macht einen das Leben täglich etwas müder. Aber ich kann mir einen besseren Tod als den durch Ihren BMW vorstellen!“
Der Fahrer stieß die Tür auf, sprang heraus und baute sich vor ihm auf.
Herbert Hoch holte Luft. „Sie riechen aber gut. Welches Parfüm benutzen Sie?“
Der Fahrer kniff seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, stieß Herbert mit der Faust vor die Brust, holte noch einmal aus, ließ die Faust sinken, sprang in seinen Wagen und raste davon. Die rot kostümierte Dicke drehte sich schnaufend zu Herbert um. Ihre Augen traten aus den Höhlen. „Anzeigen sollten sie den. Anzeigen!“
Herbert lachte, tätschelte ihr den fleischigen Oberarm und ließ sie stehen.
Sie versuchte ihm zu folgen, konnte nicht Schritt halten, blieb stehen, kreischte und hielt ihm beide Arme entgegen. „Wollen Sie meine Visitenkarte. Ich meine, falls Sie meine Zeugenaussage brauchen…!“
Herbert winkte lachend ab, ging ein paar Schritte rückwärts, stieß mit einer sehr jungen Frau zusammen, trat ihr auf die Füße. „Au! Können Sie nicht aufpassen?“
„Nicht, wenn ich rückwärts gehe!“
Sie war eine nabelfreie und tief dekolletierte Schönheit, eine von denen, über die sich Herbert Hoch immer wunderte, da sie offenbar nicht einmal bei dem kühlen Aprilwetter froren. Im Alter werden die vermutlich wegen Unterkühlung an einer Nieren- und Lungenerkrankung leiden.
„Entschuldigung!“ Herberts Augen fingen nach einer erbaulichen Wanderung vom Bauchnabel über den straffen Busen in einem makellosen Gesicht die Blicke strahlend grünblauer Augen ein.
„Toll sehen Sie aus!“ Die dunkelblond gelockte Schönheit lächelte und beschwerte sich gleichzeitig, er habe ihr auf die nagelneuen roten „Heiihiels“ getreten.
„Moment!“ Herbert bückte sich und zog seinen rechten Schuh aus. „Darf ich?“ Vorsichtig polierte er mit seinem Wollstrumpf überzogenen Fuß die Spitzen ihrer roten Schuhe. Eigentlich trug Herbert ungern Veras selbstgestrickte Strümpfe. Aber zu diesem Zweck eigneten sie sich hervorragend.
Die nabelfreie Schönheit ließ es kommentarlos geschehen, obwohl sich um sie beide inzwischen ein Kreis grinsender Schaulustiger bildete.
Schließlich bückte Herbert sich, um seinen Schuh wieder anzuziehen.
Als er ihn zugebunden hatte und sich aufrichtete, waren die Nabelfreie und die Schaulustigen bis auf eine alte Frau verschwunden. Die sah ihn verärgert an. „Wie können Sie mit Strümpfen, die Ihnen Ihre Frau gestrickt hat, einem so jungen Ding die Schuhe putzen.“ Sie schüttelte den Kopf, band ihr Kopftuch fester und ging auch.
„Woher wissen Sie denn, dass meine Frau die Strümpfe gestrickt hat?“
„Sie stricken doch bestimmt nicht selber“, rief sie, ohne sich umzusehen.
Herbert vergaß auch jetzt nicht zu lachen und ging langsam weiter.
„Übrigens…“ Ein Mann etwa seines Alters holte Herbert ein. „…ich beobachte Sie schon die ganze Zeit. Finden Sie Ihr Verhalten nicht reichlich albern?“
„Ernst und Vernunft haben mich auch nicht weit gebracht!“
„Mich auch nicht“. Der Mann hielt mit ihm Schritt und fuhr sich mehrere Male mit der Hand durch die grauen Haare. Herbert schielte verstohlen zu ihm hinüber.
Obwohl er leicht gebeugt ging, hatte Herbert Hoch dennoch nicht das Gefühl, der Mann trage wirklich an einer Last. Vielmehr suchte er mit den Augen ständig den Boden ab, schien gelegentlich etwas zu finden, lächelte, ohne zu erkennen zu geben, was er fand, und sah Herbert zwischendurch immer wieder begeistert an, als habe er auch an ihm etwas besonders Erfreuliches entdeckt.
„Sollen wir irgendwo eine Tasse Kaffee trinken?“ fragte er, nachdem sie sicherlich schon eine halbe Stunde wortlos nebeneinander hergingen und an einem kleinen Park ankamen, an dessen Rand ein Café mit hausgebackenem Obstkuchen warb.

Eine junge blonde, schwarz und hauteng gekleidete Serviererin nahm ihre Bestellung
entgegen. Als sie ihren Tisch verließ, folgten ihr Herberts Blicke.
„Süß, die Kleine. Was?“
Herbert erschrak und entdeckte erst jetzt seinen Begleiter wieder, der ihm gegenüber an seinem Tisch saß. Auf dessen sorgfältig rasierten, faltenreichen Gesicht schien grauer Staub zu liegen. Seine Augen blickten durch einen unsichtbaren Schleier, der gelegentlich aufzureißen schien. Beim Ausatmen entfuhr den leicht geöffneten Lippen leises Röcheln.
„Bin ein wenig schwindelig im Kopf. “ Seine Stimme klang wie ein abnehmendes Echo.
Herbert sah schweigend auf den Tisch. In einer kleinen Vase standen der Zweig einer Kiefer und einer mit winzigen roten Beeren. „Kennen Sie zufällig einen Herbert Hoch.“
Dem Alten entfuhr plötzlich ein lautes Röcheln. Er nickte. Für einen Moment hellten sich seine Gesichtszüge auf. Dann beugte er sich vor, stützte, Ellenbogen auf dem Tisch und die Hände vor dem Gesicht, den Kopf mit beiden Armen ab und stöhnte.
Die junge Serviererin brachte gerade den Kaffee, wollte gehen, drehte sich noch einmal um und sah besorgt auf den Alten. „Ist Ihnen nicht gut?
Dem rutschten die Arme auf dem Tisch zur Seite. Sein Kopf schlug auf die Tischplatte.
„Rufen Sie einen Krankenwagen und Notarzt!“ rief Herbert.
Die Serviererin rannte zur Theke.

Zuerst kam ein junger Arzt.
Herbert hatte den Alten inzwischen auf dem Boden auf der Seite gelagert. Er war nicht mehr aus der Ohnmacht aufgewacht.
Der Notarzt kniete sich sofort neben den Alten.
„Er ist plötzlich zusammengebrochen.“ berichtete Herbert leise.
Der Arzt begann den Puls des Alten zu fühlen, schüttelte den Kopf und sah zu den beiden Sanitätern hinauf, die gerade ankamen.
„Beginnen Sie mit Herzmassage!“
„Wer ist der Mann überhaupt.“ Der Arzt sah Herbert an. „Kennen Sie ihn?“
Der ältere der Sanitäter griff dem Alten in die Innentasche des Jacketts, holte eine abgewetzte Lederbrieftasche heraus und öffnete sie. „Hier, sein Ausweis. Hoch, Herbert Hoch heißt er.“
 
N

nobody

Gast
Die Überschrift - die Dramaturgie - der Schluss: Ich habe selten so eine eindringliche Kurzgeschichte hier in der LL gefunden. Und natürlich der Wiedererkennungseffekt.
Gratuliere
Franz
 
Lieber nobody,
erst einmal bin ich dir dankbar, dass du meinen relativ langen Text überhaupt gelesen hast. Und deine Kritik tut mir natürlich unendlich gut.
Gruß
Karl
 
F

Fitzberry

Gast
Noch'n Spontaneindruck

Hallo Karl, ich habe deine Geschichte auch ganz gelesen. ;-)
Vor allem deshalb, weil mir dein Stil gut gefällt. Den schrägen Plot mag ich ganz gern. Das Ausdenken skuriller Begebenheiten ist natürlich eine Gratwanderung. Manches gerät da leicht zu gesucht originell. Ich finde, du bist auf der richtigen Seite geblieben.

LG
Robert
 



 
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