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Kira Berg

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Ich war auf dem Weg zum Bahnhof an einem kühlen Herbsttag . Es begann zu dämmern. Nebel stiegen aus den Niederungen auf und wickelten das Land ein. Die kühle Luft zog um die Gräser, riss an den Stängeln, die mit Spinnennetzen verbunden waren und ließ die Regentropfen in ihnen vibrieren. Es war still. Die Vögel des Sommers hatten sich schon längst zurückgezogen und würden für lange Zeit wieder ganz verstummen. Abschiedsstimmung lag in der Luft. Die Leichtigkeit des Sommers verschwand hinter den kalten, schweren Nebelschwaden, die sich auf Erde und Gemüt der Menschen legten, sie niederdrückten, festhielten. Vor mir lief ein alter Mann mit langem grauen Wollmantel. Seine Schritte waren schwer und langsam. Er ging etwas nach vorn gebeugt. Die linke Hand steckte tief in seiner Manteltasche. Die rechte Hand schlenkerte herunter, griff ab und zu nach rechts ins Leere oder gestikulierte. Immer dann, wenn seine Hand nach rechts ins Nichts griff, wendete er den Kopf ebenfalls in diese Richtung. Dann wirkten auch seine Schritte irgendwie beschwingter, weniger schwer. Ich beobachtete ihn von hinten eine ganze Zeit lang und wurde neugierig. Meine Schritte passte ich zunächst seinem Schritttempo an, bevor ich etwas beschleunigte, als der einsame Bahnsteig näher kam.

Der Bahnhof hatte seine besten Jahre hinter sich. Früher, in meiner Kindheit war es ein beliebter Treffpunkt der Kleinstadt. Alle größeren Züge hielten hier. Menschen stiegen aus und um, setzten sich auf die Terrasse des Bahnhofsrestaurants. Von all diesem Leben zeugte nur noch ein quietschendes Kneipenschild „Zur Lokomotive“, das an einer Häuserruine hing. Der untere Teil des Schildes war durchlöchert. Der Putz von der Wand hatte sich gelöst und wurde zu dreckigem Staub auf der Erde. Es war, als hätte sich die Zeit auf ein Stück Leben gelegt und es für immer abgedeckt, erstickt und ausgelöscht. Schon längst hielten hier nur noch kleinere Regionalbahnen. In mir erinnerte ich mich an eine Gedichtszeile, die ich in meiner Jugend geliebt hatte. “… Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben…“ Ich hatte das Gefühl, diese Zeile war genau für diesen Ort geschrieben.
Über der Betrachtung des Bahnsteigs war ich unbemerkt von ihm, an dem alten Mann vorübergegangen und stand nun einige Meter vor ihm. Die Zeit stand ihm im Gesicht. Sein
Blick erschien trüb. Dunkle Ringe rahmten die Augen ein. Falten zogen Stromlinien durch sein Gesicht. Beim Näherkommen wirkten seine Augen weniger müde, sogar etwas spitzbübisch zur Seite schauend. Immer wieder blickte er zu seiner rechten und sprach leise und beschwichtigend. Als er mich sah, fühlte er sich scheinbar ertappt, nickte mir freundlich zu und sagte mit einem Lächeln in der Stimme: “ Sie fährt zu ihrer Mutter. Wir waren doch noch nie getrennt seit 60 Jahren. Sie stellt sich etwas an.“ Dabei zwinkerte er mir zu und schaute danach mit beruhigendem Blick ins Leere neben sich. Dabei streichelte seine rechte Hand zärtlich in die Luft. Wir standen einige Meter entfernt voneinander. Ich konnte ihn murmeln hören aber nicht seine Worte verstehen. Der schwermütige Nebel legte sich nun auch auf mein Gemüt. Als der Zug kam, stieg ich ein. Er blieb stehen, schaute in ein Abteilfenster. Ich konnte sein Gesicht vom Zug aus sehen. Tränen liefen an seine Wangen herunter. Langsam hob er seinen rechten Arm und begann zu winken. Sein Blick schaute ins Leere.
Auf dem Nachbarsitz hörte ich, wie sich Mitreisende amüsierten: „Schaut mal. Der verrückte Alte steht wieder da und winkt. Dabei ist seine Frau schon zwei Jahre unter der Erde.“
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