Abwarten und Tee trinken (Schreibaufgabe April)

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Abwarten und Tee trinken

Die Rechte hangelte nach der Schreibtischlampe, fand den Kippschalter, machte Licht. "Noch nicht Feierabend, Frau Grünwald?" Kriminalassistent Steinhart sah erstaunt zum gegenüberliegenden Schreibtisch hinüber. Es war schon sechs Uhr durch, gerade dämmerig geworden. Normalerweise die Zeit, zu der seine Chefin den Bleistift fallen ließ. Manchmal sogar im wahrsten Sinne des Wortes.
"Noch ein halbes Stündchen, Fidelis", murmelte die Angesprochene, "ich seh nur noch mal nach, ob ich nichts vergessen hab, ehe das Teil im Archiv verschwindet. Warum machen Sie nicht jetzt schon Schluss? Es ist Freitag und sechs Uhr. Da sollte ein junger Kerl doch anderes im Kopf haben, als Berichte schreiben." Fidelis Steinhart grinste. "Sollte eine allein erziehende Mutter jetzt nicht schon längst als Hausfrau am Kochtopf stehen und dem Fräulein Tochter die Vokabeln abhören?" Beide lachten. Niemand konnte sich Franziska Grünwald am Kochtopf vorstellen, mit Schürze, Holzlöffel und Spagettisoße. Eher schon Fidelis Steinhart umschwärmt von einem halben Dutzend Girlies in der Disko. Aber niemand hatte ihn je in solcher Begleitung gesehen. Ein Kavalier, der heimlich genießt und schweigt - oder?
Der junge Mann legte den schmalen Ordner, in dem er bis jetzt geblättert hatte, auf den Stapel zu seiner Rechten. Fertig.
"Bitterorange oder Kirsch-Vanille, Frau Grünwald?" Die Kommissarin blickte kurz auf. "Bitterorange, wenn noch da ist." Der junge Mann fischte die entsprechenden Beutel aus der Schachtel, ließ sie in die bereit stehenden Tassen fallen. Über dem Waschbecken in der Zimmerecke hing ein Miniboiler. In zwei Minuten würde heißes Wasser fertig sein.
"Den Waldinger-Mord haben Sie ja noch immer da liegen." Steinhart war neben seine Chefin getreten, wies auf den dicken Packen, der auf der Aktenablage vor sich hin döste. Hätte seiner Meinung nach auf den Stapel fürs Archiv gehört. Franziska Grünwald zuckte mit den Schultern. "Da kann man nichts machen. Den Täter oder die Täterin haben wir ja immer noch nicht. - Und noch mag ich nicht aufgeben." Ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen, machte sie jünger und auch ein wenig verschlagen.
"Aber Frau Grünwald", Fidelis Steinhart wusste nicht, wie den richtigen Ton treffen, "an Ihnen liegt es doch wirklich nicht, dass der blöde Fall nicht aufgeklärt werden kann. Da lässt sich der Tobias Waldinger irgendwann von irgendwem und noch dazu irgendwo erstechen und erst zwei Wochen später auf der Grüngutdeponie finden. Dutzende Frauengeschichten, zwei Nebenbühler mit schönem Motiv und noch besserem Alibi, eine Schwester, die den Burschen nicht leiden kann. Hat zwar kein Alibi, aber das Motiv? Frau Grünwald, verrennen Sie sich da nicht in irgendetwas?"
Der Wasserboiler meldete sich mit altersschwachem Tröten. Der Kriminalassistent marschierte zum Waschbecken, ließ das heiße Wasser in die Tassen laufen. Es faszinierte ihn immer wieder, wie der feine Dampf aufstieg, sich auf seiner Brille niederschlug und dort kondensierte. "Wie ein kleiner Junge", dachte Franziska Grünwald, "fehlen nur noch die Frösche in der Hosentasche." Geduldig wartete der junge Mann vor dem Waschbecken, bis der Tee lange genug gezogen hatte, warf die Beutel in den Papierkorb unter dem Becken. Elegant wie ein Kellner im Nobelhotel stellte er die Tasse vor seiner Chefin ab. Mit der gleichen Geschicklichkeit platzierte er den eigenen Tee zwischen Mauspad und Tastatur.
"Frau Grünwald", fuhr er fort, "wissen Sie eigentlich, wie alt die Bauern hier werden?" Sie zuckte mit den Schultern. "Siebzig, achzig Jahre." Steinhart grinste. "In meinem Clan werden die Frauen locker neunzig Jahre, die Altbauern schaffen auch locker die fünfundachzig. Ist ne zähe Rasse hier auf der Alb; liegt am scheußlichen Wetter."
"Ich dachte immer, das läge am Spätzles schaben. Soll ja fit halten und die Hirnzellen dopen."
"Im Ernst, Frau Grünwald, ich verstehe Sie nicht. Die Charlotte Waldinger müsste doch jahrzehntelang darauf warten, dass die Eltern sterben, ehe sie was davon hätte, das Erbe nicht mehr mit der Tobias teilen zu müssen. Die Waldingers sind doch mal gerade erst Mitte fünfzig. Das wären ja fast fünfunddreißig Jahre!"
"Stimmt genau, Fidelis. Die Charlotte muss nichts mehr tun, auf Jahrzehnte hin, außer abwarten. Weitere Geschwister oder sonstige Miterben sind nicht da, also auch kein weiteres Risiko."
Der Angesprochene schüttelte verständnislos den Kopf. Wollte seine Chefin etwa auch warten? Und worauf? Dass in grob gerechnet dreißig Jahren Charlotte Waldinger endlich erben - und vielleicht dann endlich einen Fehler machen würde?
Franziska Grünwald beobachtete ihren Assistenten über den Rand ihrer Teetasse hinweg. So, wie er ihr gegenübersaß, waren seine Augen für sie ein offenes Buch. "Oh Mann", schoss es ihr durch den Kopf, "Pokerface und sich verstellen muss ich noch ein bisschen mit dir üben."
Scheinbar gedankenverloren nahm sie einen dünnen Aktendeckel von einem anderen Stapel, legte ihn auf die Schreibunterlage und klopfte leise drauf. "Ahnen Sie was ich meine, Fidelis?"
"Ist das die Geschichte mit dem Hanfanbau hinter der Deponie? Der Typ, der eine ganze Lichtung vollgepflanzt hat mit Dope, und der sich bis jetzt noch nicht hat beim Ernten erwischen lassen?"
"Stimmt, die Hanfgeschichte. Und raten Sie mal, worauf ich anspiele."
Der junge Mann zog ein verlegenes Gesicht. "Na, worauf wohl. Darauf, dass unser begabter Hanfzüchter unter Umständen ein guter Zeuge für unseren Mord wäre. Soweit ich weiß, braucht das Zeug ziemlich was an Pflege. Abwarten, Fidelis. Über kurz oder lang kriegen wir den Burschen zu packen. Wenn wir Glück haben, hat der Typ etwas gesehen oder gehört. Zu verlieren haben wir Beiden nichts dabei, außer einem bisschen Zeit."
"Noch einen Tee, Frau Grünwald?"
"Oh ja, bitte. Diesmal aber Kirsch-Vanille."
"Schon in Arbeit."
 



 
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