Ach, du bist das.

Zinndorfer

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Ach, du bist das!

Das waren die letzten Worte, die Rupert zu Iris sagte, bevor er starb. Iris war irritiert. Sie hatte sofort die Frage "Was soll das heißen?" auf den Lippen, aber Rupert war schon weggetreten und dem Arzt gelang es nicht mehr, ihn zurückzuholen.
„Sie sollten ihn gehen lassen ...“ Sanft nahm die Krankenschwester sie am Arm.
Iris sah sie gereizt an. „Natürlich sollte ich das.“ Das war nicht der Punkt sie war seit Wochen auf diesen Moment vorbereitet. Der Punkt war dieses Ach, du bist das.
Der Arzt zuckte mit den Schultern und warf Iris einen bedauernden Blick zu. Es war vorbei.

Bis eben war alles noch in Ordnung gewesen. Rupert und sie hatten sich gebührend voneinander verabschiedet, Iris hatte noch einmal seine Kissen aufgeschüttelt, der Priester war gekommen, und während er seine letzten Worte sprach, waren Iris’ Gedanken schon zu der Trauerfeier und dem Begräbnis gewandert.
Wie man das eben so macht, um sich abzulenken.
Und dann war der liebe Rupert nochmal aufgewacht und hatte dieses ernüchternde (?) Du bist das gesagt.
Iris’ Tochter traf wenig später im Krankenhaus und gemeinsam besuchten sie das Totenbett. Gabi hielt ein paar Minuten andächtig die Hand ihres Vaters und bewegte dabei stumm die Lippen. „So kurz vor seinem Geburtstag!“ sagte sie zu Iris. Ihr Vater wäre nächste Woche sechsundfünfzig geworden.
Iris nahm sie im Flur beiseite und erzählte ihr von Ruperts letzten Worten aber Gabi verstand nicht, worauf ihre Mutter hinaus wollte. "Er befand sich schon im Todeskampf, Mama, da sagt man doch alles Mögliche. Vielleicht sah er schon ein Licht am Ende des Tunnels ...“
„Dann hat er zu dem Licht Du bist das gesagt?“ fragte Iris genervt.
„Herrgott, nein ... warum legst du Papas Worte so auf die Goldwaage legen ... Er hat sicher nicht drüber nachgedacht ... im Delirium ...“
Iris spuckte. „Als ob dein Vater jemals über etwas nachgedacht hätte! In den ganzen letzten Jahren nicht ...“
Sie unterbrach sich, weil am Ende des Flurs Tante Erika und Onkel Albert um die Ecke bogen und ihre Tante mit ausgebreiteten Armen auf sie zulief.
„Iris!“, rief sie, ihre Nichte zärtlich umfangend. "Mein herzliches Beileid!"
Iris fragte, das Gesicht in ihre Schulter gepresst: „Erika, was würdest du sagen, wenn Alberts letzte Worte an dich wären Ach, du bist das?“
Fragend hielt ihre Tante sie von sich weg.
„Beziehungsweise“, Iris fixierte über ihre Schulter ihren Onkel, „was ginge in deinem Kopf vor, Albert, wenn du als Letztes Ach, du bist das zu Erika sagen würdest?“
Unbehaglich pendelte Onkel Alberts Blick zwischen Iris und seiner Frau hin und her. „Meine Güte ... was für eine Frage ... sicher keine schöne Wortwahl ... aber bedenke das Besondere der Situation ... Rupert war nicht mehr ganz bei sich ... wahrscheinlich ... vielleicht ... eventuell ... aber gut, vielleicht würde ich mich anders ausdrücken ...“
Triumphierend drehte Iris zu ihrer Tochter um. „Na bitte! Hast du gehört? Onkel Albert würde sich anders ausdrücken!“
Ratlos sahen die Familienmitglieder sich an. Dann schob Erika Iris resolut den Flur hinunter. „Du bist überdreht, Kind. Du brauchst Ruhe. Kein Wunder, bei dem, was du durchgemacht hast. Du musst erst mal mit deinen Gefühlen klarkommen. Gabi, du begleitest deine Mutter in den Park hinunter und gehst mit ihr spazieren. Und trinkt irgendwo einen Schnaps. Wir kümmern uns um alles.“

Als Iris mit ihrer Tochter ins Erdgeschoss fahren wollte, kam ihr Sohn Martin heraus und Iris konfrontierte ihn umgehend mit den letzten Worten seines Vaters.
„Mama interpretiert da furchtbar viel rein!“, versuchte Gabi einer unpassenden Bemerkung ihres Bruders vorzugreifen, aber zu spät:
„Ich meine – man soll ja nichts Schlechtes über Tote sagen – aber er war oberflächlich.“
Iris sank auf den nächsten Stuhl und Gabi schoss einen Giftblick auf ihren Bruder ab.
"Tschuldigung ... ich schau dann wohl mal nach ihm ... " Martin zuckte mit den Achseln und trollte sich in Richtung Krankenzimmer.

Abends überfiel Iris der Schock über den Tod ihres Mannes, und der merkwürdige Satz geriet erst mal in Vergessenheit. Erika, Albert und Gabi hatten sich bei ihr einquartiert, und Iris schlief schlecht. Die nächsten Tage waren sie mit der Organisation des Begräbnisses beschäftigt, und erst als der Leichenschmaus vorüber war, kam sie wieder zu sich selbst. Jetzt wollte sie alles in Ruhe ordnen und überlegen, wie sie weitermachen sollte. Vor allem schauen, wie viel Geld sie hatte. Ob sie arbeiten gehen sollte oder nicht. Oder ob es möglich war, eine Reise zu machen, um Abstand zu gewinnen. Seit Jahren schon wollte Iris nach Berlin, aber Rupert hatte immer Städteurlaube gehasst und so hatte sie es immer wieder verschoben..
Und dann war da noch das Haus in Jersey, um das sie sich kümmern musste. Rupert war zuletzt allein dort hingefahren, um sich an der See zu erholen. Iris wusste kaum noch, wie es dort aussah. Und seit letztem Oktober war überhaupt keiner mehr dagewesen. Sie telefonierte mit Frances, einer Nachbarin, und erkundigte sich nach dem Zustand des Hauses. Der Garten könnte mal wieder gemacht werden, sagte Frances, aber sonst sei alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen, Iris.

Gut. Iris hatte ohnehin keine Lust auf Jersey. Nie gehabt. Sie hasste die See. Immer dieser Wind! Immer flog alles fort! Nie konnte man entspannt eine Zeitung lesen.
Im Sommer gab es dann doch ein Problem mit Jersey. Frances rief an, es hätte ein Unwetter gegeben und die Keller seien voll gelaufen. Iris schickte Martin hin, er sollte sich um alles kümmern.
Sie selbst fuhr endlich nach Berlin und sie liebte diese Reise. Sie war begeistert von der Vielfältigkeit der Stadt, sie übertraf alle ihre Erwartungen. Die Boulevards, deren Bürgersteig so breit war wie zu Hause die Fußgängerzone. Der Tiergarten, der Zoo, der Kudamm. Die neue Mitte, der Prenzlauer Berg, Friedrichshain. Die Villen im Grunewald, der Wannsee, Potsdam. Die vielen stillen Orte, die totale Vergessenheit in der Stadt. Die zahllosen Cafés. Iris ärgerte sich, wie einfach es war, einen Städteurlaub zu machen. Ihr Leben lang hatte sie darauf verzichtet, aus einem diffusen Gefühl heraus, dass man das gemeinsam mit seinem Mann machen sollte. Stattdessen jetzt das. Iris entdeckte an sich eine Leichtigkeit, die sie nie vermutet hätte. Sie ließ sich treiben, ging ins Museum, ins Konzert, fuhr zum Schloss Charlottenburg. Besuchte die Filmstudios in Babelsberg und betrachtete Schinkels Kirche an der Havel. Sie setzte zur Pfaueninsel über und kehrte zurück nach Berlin. Sie bestieg den Dom und dinierte unter den Linden.
In einem Café in Kreuzberg rechnete sie sich aus, wie viele dieser Städteurlaube sie in ihrem Leben wohl noch machen konnte. Sie kam auf 25: London, Paris, Rom, Stockholm, St. Petersburg, Moskau, Krakau, Prag, Wien, Budapest, New York, San Francisco, Seattle, Quebec, Calgary, Auckland, Sydney, Melbourne, Hongkong, Tokio, Bangkok, Rio de Janeiro, Montevideo, Kapstadt, Nairobi.
Sie seufzte. Und das war nur die erste Wahl. Selbst wenn sie sich für jedes Jahr eine solche Reise vornehmen würde – Iris wollte ein paar Wochen bleiben – müsste sie 75 werden, um überall hin zu fahren.

Es sei denn, sie würde Jersey verkaufen. Von dem Erlös könnte sie drei Mal im Jahr fremde Städte besuchen, dachte Iris. Drei Monate im Jahr weg. Herrlich. Und den Rest zu Hause. Auch herrlich. Und in acht Jahren mit 25 Städten durch. Ganz herrlich.
„Legt ihr einen besonderen Wert auf Jersey?“, fragte sie die Kinder nach ihrer Rückkehr.
Gabi schüttelte den Kopf, Martin nickte. „Ich liebe es!“
Missbilligender Blick von seiner Schwester: „Das wäre ja ganz was Neues!“
„Richtig, neu. Ich habe die Insel in diesem Sommer zum ersten Mal entdeckt, weil ihr alle nicht dabei wart. Es ist ein Riesenunterschied, ob man mit der ganzen Familie da ist oder allein. Sehr interessant. Und die Insel ein Unikum! Der ganze Wahnsinn der Briten steckt in ihr, aber sie wird gerettet durch den französischen Einfluss. Und das betrifft nicht nur das Essen!“
Martin studierte Ethnologie. Nachdem er im Herbst sein Diplom hinter sich gebracht hatte, überlegte er jetzt, seinen Doktor auf der Insel zu machen. Sich in dem Haus einzuquartieren, die Jerseyianer zu beobachten und daraus seine Doktorarbeit zu bauen. „Jersey zählt weder zu Frankreich noch zu den britischen Inseln, sondern untersteht der britischen Krone. Es gibt nur 90 000 Einwohner, man muss wenig Steuern zahlen. Es gibt Palmenstrände und Papageientaucher. Steil abfallende Küsten und Heidelandschaft. Die Leute sprechen Jèrriais, einen normannischen Dialekt, der nur von den Inselbewohnern verstanden wird. Fabelhaft für die Feldforschung! Und surfen gehen kann ich auch in St. Helier gibt es eine richtige Szene. Tagsüber schreibe ich an meiner Arbeit und nachmittags fahre ich rüber. Grandios.“ Seine Augen leuchteten.
Iris betrachtete ihn frustriert, dann versuchte sie, ihm das Konzept ihrer Städtereisen nahe zu bringen. Martin blieb aufgeschlossen. Er schlug vor, dass Haus auf Jersey an Feriengäste zu vermieten und damit Iris Reisen zu finanzieren.
„Aber in dem Haus ist doch seit Jahren nichts gemacht worden, da muss doch ein Haufen Geld reingesteckt werden“ sorgte sich Iris.
„Ach was! Papa hat das Haus tipptopp in Ordnung gehalten. Fahr erst mal hin und schau’s dir an. Vielleicht gefällt es dir ja ohne ihn besser.“ Er zwinkerte ihr zu, während Gabi ihn empört in die Seite stieß.
Iris beschloss also, sobald es ihre Zeit erlaubte, nach Jersey zu fahren und dieses Haus in Augenschein zu nehmen. Im Frühherbst machte sie sich mit ihrem kleinen Renault Clio auf den Weg.
Sie genoss die Fahrt nach Frankreich. Früher hatte immer Rupert am Steuer gesessen und Iris hatte keinen Blick in die Straßenkarte geworfen. Sie hatte immer nur versucht, die Kinder in Schach zu halten und ihnen die Fahrt zu verkürzen. Sie war überrascht davon dass es immerzu nach Westen ging. Nicht ein einziges Mal bog sie in Richtung Süden ab, was sie immer mit Frankreich brachte. Erst fuhr sie nach Mannheim, dann Saarbrücken, dann Metz, dann Paris. Als sie endlich in St. Malo ankam, dem bretonischen Fährhafen für Jersey, war sie mehr als 1000 Kilometer gefahren. Und das Wetter am Atlantik war rauh. Die See rauschte in Riesenwellen heran und es war an diesem Abend fraglich, ob die Fähre überhaupt übersetzen würde. Iris beschloss, zu bleiben. St. Malo war reizend, auch so ein Unikum, mit einer eingemauerten Altstadt. Das Städtchen hatte sich immer gegen Piraten verteidigen müssen. Sie beschloss, die Nacht dort zu verbringen lieber am nächsten Tag nach Jersey überzusetzen.

Das Haus befand sich auf der Seeseite der Insel, keine zehn Kilometer von St. Queens Bay entfernt. Nachdem Iris einen Tee in St. Helier getrunken hatte, machte sie sich auf den Weg zu dem Haus. Iris kam es so vor, als ob sie die Insel zum ersten Mal sähe. Sie präsentierte sich in herbstlicher Pracht, die ganze Heide glühte in Grün-, Ocker- und Rottönen. Iris hielt dauernd an, um Fotos zu machen. Sie dachte unwillkürlich, dass sie sich nie von Jersey trennen könnte. Auf der Weiterfahrt wälzte sie diese Dreiteilung ihre Lebens im Kopf herum: ein Drittel Odenwald, ein Drittel Städtereisen und ein Drittel Jersey. Super. Nur wie das finanzieren? Wahrscheinlich lief es tatsächlich auf Martins Idee mit dem Hausvermieten raus.

Das letzte Mal war sie 2002 dagewesen. Äußerlich hatte sich das Haus sehr verändert. Die Klematis bedeckte jetzt die Vorderfront des grauen Granithauses und gab ihm einen sanfteren Charakter. Und die Drachenbäume im Garten, die Iris eins gesetzt hatte, waren in den Himmel gewachsen.
Sie versuchte, die Tür aufzuschließen. Das Schloss hakte und sie musste sich dagegen stemmen. Es dauerte einen Moment, bis sie den Bogen raushatte, mit der Hand am Knauf zu ziehen und gleichzeitig mit dem angezogenen Knie die Tür aufzudrücken.
Innen hatte sich viel verändert. Rupert war ein Tüftler gewesen, ein Werkler. In Jersey hatte er sich richtig ausgetobt, merkte Iris. Im Flur waren die Fugen zwischen den Steinfliesen frisch gestrichen, im Wohnzimmer gab es außer der Sofaecke zwei neue Schaukelstühle. Eine Hi-Fi-Anlage hatte er sich besorgt und mindestens 50 CD´s angeschafft.
Iris stieg ins Souterrain in die Küche. Früher war das ihr Lieblingsplatz gewesen. Hier hatte sie immer mit Frances gesessen und Tee getrunken. Die Küche hatte Rupert völlig umgebaut: Es war eine High-Tech-Küche mit allem möglichen Firlefanz, eines Kochmoguls im Fernsehen würdig. Iris gefiel sie nicht, zu viel Edelstahl. Sie hatte den alten Emailleherd und den groben Holztisch geliebt, der früher hier stand. Sie dachte, dass sie allein vom Verkauf dieser Küche die nächsten drei Städtereisen bezahlen könnte. Iris schmunzelte. Eine Option.

Kurze Zeit später platzte Frances durch die Tür und die beiden Freundinnen umarmten sich herzlich.
„Wie schön, dass du da bist!“, rief Frances. „Auch wenn der Anlass ein so trauriger ist!“
Bei einem Earl Grey erzählte Iris von Ruperts Tod und wie es ihm die letzten Monate seines Lebens ergangen war. Rupert war immer Agnostizist gewesen und er hatte sie nie über den Tod Gedanken gemacht. Zu Vorsorgeuntersuchungen war er nie gegangen, obwohl Iris – die alle Arzttermine genau einhielt – mit ihm deswegen stritt. Sie hatte es verantwortungslos von ihm gefunden, nicht auf seine Gesundheit zu achten, schon um seiner Familie willen. Seine Indifferenz war ein Grund für ihre Wut auf ihn die ganzen letzten Monate seines Lebens gewesen. Nein, im letzten Jahr hatten sie sich nicht mehr besonders gut verstanden, ach was, eigentlich in den letzten vier Jahren nicht mehr. Jeder war seine eigenen Wege gegangen. Iris hatte sich sogar dabei ertappt, noch zu Ruperts Lebzeiten beim Betrachten alter Aufnahmen eine Sehnsucht nach ihm zu haben, die dem Toten bestimmt waren.
Wer’s versteht, hatte sie gedacht. Jedenfalls war es schön, mit Frances zusammenzusitzen, wie in alten Zeiten. Sie erkundigte sich nach Alex. Sie wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als ob sie sich nicht für Frances und ihr Leben interessiere.
Alex war Pilot bei der Air France und hatte ein paar Jahre Probleme mit Alkohol gehabt. Alex hatte das ständige Angebot von Alkoholika in der 1. Klasse zu locker genommen und nicht gemerkt, dass er zu schnell über das übliche Maß von drei Gläsern Champagner am Tag hinausgekommen war. Wie andere Kollegen war er in eine Suchtklinik gegangen, die es eigens für Piloten eingerichtet worden war. Damals jedenfalls. Jetzt siebte man in den Auswahlverfahren rigoroser, bekam heute ein Pilot ein Alkoholproblem, flog er sofort raus.
„Er trinkt kaum noch“, sagte Frances jetzt. „Das hat sich Gott sei Dank gelöst. Dafür hat er eine neue Sucht. Er kauft Bilder bei E-Bay. Vier Stunden am Tag hockt er vor dem Bildschirm und vertickt Antiquitäten. Dann verabredet er sich mit den Leuten in der ganzen Welt und trifft sich mit ihnen bei Stop-Overn.“
Iris fragte sich, ob es wirklich nur Piloten waren. Alex war ein sehr attraktiver Mann, und Rupert hatte da einige Andeutungen gemacht. Aber sie sagte natürlich nichts.
„Komm heute Abend zu uns zum Essen, ja? Alex freut sich sehr, dich zu sehen!“

Der Abend wurde schön, sehr vertraut. Frances kredenzte heiße Kartoffelsuppe mit Würstchen, dazu gab es einen Chardonnay. Alex war gleich bei seinem Lieblingsthema. „Kennst du die amerikanische Künstlerin Louise Bourgeois? Hab ein Bild von ihr gekauft. Nicht ganz billig, aber es lohnt sich.“ Er teilte einen zweiten Schlag Kartoffelsuppe aus. „Bourgeois ist Bildhauerin und Zeichnerin. In den Staaten sehr bekannt. In Europa weniger. Sie kommt über eine Galerie aus der Schweiz herüber.“
Iris hatte in der letzten Woche einen Bericht über Bourgeois im Fernsehen gesehen und konnte bei der Unterhaltung mithalten. „In Paris geboren, jetzt New York“, bestätigte sie.
„Bourgeois verarbeitet ihre Kindheit mit Brüsten und Schwänzen. Huh, mit sechsundneunzig! Wie freudianisch! Mit 80 machte sie sich an die Zerstörung des Vaters!“ Er holte sich einen zweiten Schlag Kartoffelsuppe und erzählte, dass Bourgeois’ Vater immer zu viel geredet hatte. Die kleine Louise hatte sich aus den Monologen gerettet, indem sie Skulpturen aus Brotkügelchen formte. So fing es an mit ihrer Kunst, in Paris 1920, großbürgerlich. Man sollte es sich wie bei Proust und den Gourmantes vorstellen; Louise Bourgeois war auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
„Man trifft ja nur ungefähr alle zehn Jahre auf einen wirklich bedeutenden Künstler“, sagte Alex nachdenklich. „Mit Ausnahme der Fotografie. Die entwickelt sich weiter, und von mir aus auch die Architektur. Der Rest? Fehlanzeige. Dass man mal in einer Ausstellung stehenbleibt und sich näher was anguckt – Fehlanzeige.“
Als Frances die Teller in die Küche trug, sagte Iris zu Alex: „Frances sagt, du bist netzsüchtig!“ Sie war etwas beschwipst.
„Unsinn, ich kann jederzeit damit aufhören“, widersprach Alex. „Es ist wie Fernsehen schauen. Die Leute irritiert nur, dass man sich so engagiert.“
„Auch vier Stunden Fernsehen am Tag fände ich zu viel“, widersprach Frances, mit dem Nachtisch zurückkommend.
„Liebling, lass mir doch den Spaß. Jersey hat an Abwechslung wirklich nicht viel zu bieten. Und über den Rechner bin ich mit der ganzen Welt verbunden!“
„Die Internetsucht rangiert als Geißel des 21. Jahrhunderts“, sagte Frances. „Gleich nach der Panikattacke, der Depression und dem Übergewicht. Es führt zu Profilierungsneurosen, Potenzproblemen und multiplen Allergien.“
Alex umhalste Frances lachend. „Wo hast du nur diesen Quatsch her? Aber wie auch immer – ich hab keins dieser Probleme!“

Tags drauf machte Iris eine Runde bei anderen Nachbarn und in den Geschäften. Alle freuten sich, sie zu sehen, alle erkundigten sich nach Rupert, alle sprachen ihr Beileid aus. Einige Leute konnten mit der Situation nicht umgehen und wichen ihr aus. Stahlen sich an ihr vorbei und suchten das Weite. Dabei erwartete Iris von ihnen keine Konventionen. Ruperts Tod lag schon Monate zurück. Das Leben ging weiter.
Mit Energie machte sie sich daran, dass Haus für eine Ferienwohnungenvermietungen herzurichten. Die Küche ließ sie so, wie sie war, schlug aber in Gedanken pro Tag nochmal 10 Pfund drauf im Preis. Sie nähte neue Vorhänge und besorgte eine neue Toilettenschüssel. Alles Persönliche ließ sie in einem riesigen viktorianischen Schrank verschwinden, den sie auf einem Antikmarkt in St. Heliers auftrieb.
Als sie Ruperts Schreibtisch ausräumte – das hatte sie die ganze Zeit vermieden – fand sie sein Tagebuch. Ein Inseltagebuch. Iris wollte es erst wegschließen, dann fand sie es albern. Rupert war ihr Mann, und wer sollte seine Tagebücher lesen, wenn nicht sie (später sollte sie denken „... und wer sollte seine Tagebücher nicht lesen, wenn nicht sie?) Auf die Idee, das dort verletzende Dinge stehen könnten, kam sie leider zu spät.
Sie las seinen letzten Eintrag zuerst:

Frances, Alex und ich, wir sind eine seltsame Menage a trois. Alex ist selten da, und wenn er da ist, ersteigert er Kunstwerke. Aber er treibt Supersachen auftreibt. Vor allem Sachen aus den Zwanziger Jahren. Künstler, von denen kein Mensch gehört hat, die aber wirklich gut sind. Zum Abschied gestern hat er mir ein Gemälde einer Frau vor einem hellgelben Hintergrund geschenkt, das Frances verflixt ähnlich sieht. Im Stil Klimts. Gar nicht schlecht, wie ich finde, und er hat nur 28 Pfund dafür bezahlt. Mal sehn, was Iris dazu sagt. Ich habe mich von den beiden bis nach Weihnachten verabschiedet, aber, um ehrlich zu sein, ich glaub selbst nicht mehr dran. Es geht bergab mit mir und das wird wahrscheinlich mein letzter Aufenthalt auf Jersey gewesen sein. Die beiden haben sich nichts anmerken lassen, sehr angenehm.

Iris erinnerte sich an das Bild, natürlich, es hing zu Hause über Ruperts Schreibtisch (er und sie schliefen schon seit Jahren getrennt, weil Rupert so laut schnarchte). Auf eine Ähnlichkeit zu Frances wäre Iris allerdings nie gekommen, im Gegenteil, Rupert hatte ihr das Bild mit der Bemerkung präsentiert, es sähe ihr ähnlich. Verärgert klappte sie das Buch zu und wollte es ganz unten in den Schrank, aber plötzlich purzelte ihr ein Brief entgegen. Ein Abschiedsbrief, an sie gerichtet.
Widerwillig begann sie zu lesen:

„Liebe Iris“, schrieb Rupert, „für den Fall der Fälle schreibe ich dir rasch diesen Brief. Du wirst hier auf Jersey in der Zwischenzeit erfahren haben, dass Frances und ich ein Paar waren. Schon seit einiger Zeit. Eigentlich, seitdem du es vorgezogen hast. zu Hause zu bleiben. Alex war immer in der Weltgeschichte unterwegs, und so verkürzten wir zwei Einsamen uns die langen Winterabende. Wir beide, Iris, hatten uns auseinandergelebt (auch sexuell; du weißt, dass das nicht an mir lag); aber gut, was soll man erwarten, wenn man fast 25 Jahre zusammen ist. Daraus ist niemandem ein Vorwurf zu machen. Aber wie dem auch sei – ich hätte gern, dass Frances das Haus (zurück-)bekommt. Testamentarisch habe ich eine entsprechende Klausel verfasst und beim Notar in St. Helier hinterlegt. Natürlich haben du und die Kinder ein Wohnrecht dein Leben lang, du kannst es nur nicht weiter verkaufen.
Du erinnerst dich sicher daran, dass das Haus einmal Frances Großeltern gehörte. Es ist nur fair, wenn es in ihren Besitz zurückgelangt. Ihr werdet euch schon einigen ihr habt euch immer gut verstanden, Frances und du. Unter dem Strich musst du zugeben, dass dir an Jersey nichts liegt. Wenn ich mal nicht mehr bin, wirst du in London, Paris, Sydney, New York rumgeistern, so, wie du mir immer die Ohren damit vollgeplärrt hast. Vielleicht richtet ihr ja auch das Haus her vermietet es und teilt euch den Gewinn. Aber macht das unter euch aus. Alles Liebe, Rupert
P.S. Alex weiß nichts von Frances’ und meiner Beziehung, und ich glaube auch nicht, dass es ihn sonderlich scheren würde; trotzdem solltest du ihm vielleicht nichts davon sagen, der Gute ist etwas suchtgefährdet. Wohlan denn, ihr geliebten Frauen, (ver-)einigt euch also!

Iris wusste nicht, wie lange sie mit diesem Brief im Schoß dagesessen hatte. Als sie wieder hochschaute, war es draußen schon dunkel geworden. Sie blickte auf Uhr. Zwei Stunden hatte sie gebraucht, um alles zu kapieren. Dass ihr Mann ein Verhältnis gehabt hatte. Eine Beziehung. Eine Zweitfrau. Und wieviel Zeit er immer auf der Insel verbracht hatte. Und all die Ungereimtheiten, die plötzlich einen Sinn ergaben.
Sie stützte den Kopf schwer in die Hand. Und all die Leute im Dorf wussten es, natürlich. Deswegen hatten sie sie so seltsam geschaut. Und keine Worte zu Ruperts Tod gefunden.
Sie ging ins Bett. Heute waren Alex und Frances auf dem französischen Festland, aber morgen würde sie Frances sehen. Wie immer, zum Tee um fünf.

Ein paar Tage später saß Iris unter ihrer Pergola und sah hinaus aufs weite Meer. Es war ein herrlicher Tag, kristallklar, der Wind trieb Schönwetterwolken vor sich her. Der Spätsommer gab noch einmal alles und erhitzte die Luft nach frischer Nacht auf 20 Grad. Gemächlich grasten Schafe die Weiden ab und Iris hielt ihr Gesicht in die Sonne.
Plötzlich kam Alex’ Auto in hohem Tempo die Straße entlang. Sie stand auf und ging zum Gartenzaun.
„Was ist denn mit dir los? Warum rast du so?“
„Frances liegt im Krankenhaus!“, rief er.
„Im Krankenhaus?“
„Der Magen ich weiß auch nicht. Sie kotzt die ganze Zeit. Sie ist ganz grün im Gesicht. Die Ärzte haben keine Erklärung. Ich mache mir wirklich Sorgen, Iris!“
Iris sah ihn bestürzt an. „Gibt es überhaupt keinen Anhaltspunkt?“
„Sie schieben es auf den Fisch von gestern Abend ... aber Herrgott. Frischer als Fisch von St. Helier geht nun wirklich nicht. Außerdem habe ich keine Beschwerden, es ist absurd!“
Iris wiegte mit dem Kopf. „Na ja, Frances ist ein ziemlich empfindlicher Typ ... sie hat eine zarte Gesundheit.“ Sie ging ins Haus und holte sich rasch Jacke und Autoschlüssel. „Ich fahre sofort zu ihr. Soll ich ihr was besorgen?“
„Lass nur. Sie behält nichts bei sich. Ich suche alles zusammen, was sie im Krankenhaus braucht und fahre heute Nachmittag wieder hin.“

Iris saß schon eine Weile an Frances Bett, als sie nach tiefem Schlaf endlich erwachte. Die Ärzte hatten Iris nicht viel Hoffnung gemacht, dass Frances sich wieder erholen würde. Im Gegenteil, sie baute rapide ab. Fieberhaft arbeiten sie im Labor an den Blutuntersuchungen und Urinproben, aber die Zeit lief ihnen weg.
Freundlich lächelte Iris Frances an und wartete, bis sie sie erkannte. Es dauerte einen Moment. Ein milder Spott lag in Iris’ Blick; ein Spott, der Frances klar signalisieren sollte, dass sie über die Liaison zwischen ihr und Rupert Bescheid wusste.
Frances Blick irrte eine Weile hin und her. Dann sah sie die Freundin eine Weile schweigend an, todmüde schon. „Ach, du warst das“, murmelte sie, bevor sie das Bewusstsein verlor.
 

Sue Lynn

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Als Iris mit ihrem Sohn Martin ins Erdgeschoss fahren wollte, kam ihr Sohn Martin heraus und Iris konfrontierte ihn umgehend mit den letzten Worten seines Vaters.
Da stimmt wohl etwas nicht, oder?

Abends überfiel Iris der Schock über den Tod ihres Mannes
Hm, zuvor schriebst du, sie hatte Zeit, sich auf das Ende einzustellen, aber ein Schock ist doch etwas Plötzliches. Evtl. wäre ein anderes Wort besser geeignet. Z.B. Abends überfiel sie eine tiefe Leere....

Zur Geschichte selbst: Ich finde, dass sie etwas zu sehr "daherplätschert", ohne scheinbar einen wirklichen roten Faden zu haben. Sicher, da ist dieser letzte Satz, aber der gerät eigentlich zwischendurch zu sehr ins Abseits. Man verliert etwas die Lust, weiterzulesen durch die Beschreibungen (z.B. des Städteurlaubs), die mit der eigentlichen Story nichts zu tun haben.
Ich hoffe, du nimmst mir die Stellungnahme nicht übel, aber wir sind ja hier, um uns die Meinungen anderer einzuholen, nicht wahr?
 

Zinndorfer

Mitglied
Danke für den Hinweis, ich habe das geändert.

Normalerweise schreibe ich kürzere Geschichten, diese ist mal wieder ein bisschen länger.
 



 
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