Achtes Märchen: Von einem märchenhaften Traum

VikSo

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Achtes Märchen: Von einem märchenhaften Traum

„Gibt es einen besonderen Grund, dass du hier draußen übernachtet hast?“ Viola stand im Türrahmen, in weiten Freizeithosen, den zerzausten Kopf schief gelegt. „Es mag stimmen, dass frische Luft gesund ist. Dennoch würde ich dir als Ärztin raten, zumindest einen Schlafsack zu verwenden.“
Kai schüttelte den Kopf, durch den zusammenhanglose Gedanken flogen: Mein Schlafanzug ist nass... Der Rasen ist klamm... Wie spät ist es?... Es riecht nach Kaffee... Ich sitze auf dem Rasen... Ob Viola den Frühstückstisch gedeckt hat?... Toast und Ei... Ich sollte aufstehen und mich anziehen... Was tut Viola in meinem Schlafzimmer?... Wieso sitze ich auf dem Rasen?
Beim letzten Satz sprang er so schnell auf, dass schwarze Flecken vor seinen Augen tanzten. Tautropfen rannen über seine nackten Füße. Sein Arm und sein Nacken waren steif vom langen Liegen auf der gefrorenen Erde. Verwirrt blickte er an sich herunter.
In der Zwischenzeit war Viola in ein paar Clogs zu ihm geschlurft. Sanft aber bestimmt ergriff sie seinen Ellbogen und murmelte: „Möglicherweise willst du ja die erfrischende Morgenluft noch ein wenig genießen. Wenn du mir allerdings die Ehre gibst, mich in die Küche zu geleiten, verspreche ich dir das beste Rührei, das du jemals gegessen hast. Magst du Speck und Schnittlauch? Ach, und du solltest dir vorher was Wärmeres anziehen.“
Eine Viertelstunde später stapfte Kai in Socken, Jeans und einem übergroßen Wollpullover in die Küche. Sein Kopf fühlte sich matschig an. In seiner Nase kitzelte der Duft von gebratenem Ei und Butter. Träge sank er auf einen Holzstuhl und griff nach dem dampfenden Kaffeebecher, den Viola ihm reichte. Schweigend trank er einige Schlucke. Erst als die warme Flüssigkeit sich in seinem Bauch ausbreitete, begann er sich wohler zu fühlen. Sein Denken klärte sich und sein Magen verlangte nach einem reichlichen Frühstück. Während er genussvoll kaute, fühlte er Violas fragenden Blick auf sich gerichtet.
Was willst du?, fragte er mit einem Zucken seiner Brauen. Ich bin in meinem Vorgarten aufgewacht und das mitten im Winter. Na und? Passiert uns allen.
„Bist du früher schon schlafgewandelt?“, sprach die Ärztin aus ihr.
Kai zuckte die Schultern. „Nicht dass ich wüsste.“
„Warum jetzt auf einmal?“
„Du bist der Doktor.“
Sie fixierte ihn. Ihre schmalen Finger hüpften auf der Tischplatte auf und ab. „Hast du geträumt?“
„Nein.“, schoss Kai heraus. Ich träume nie, wollte er hinzufügen. Dann fiel ihm ein, dass das seit der letzten Woche nicht mehr stimmte. Und an noch etwas erinnerte er sich.
„Warte, doch, da war was. Ja, doch. Möglicherweise habe ich geträumt.“
„Worum ging es?“
„Ich weiß es nicht mehr genau.“ Er spülte den letzten Bissen Ei mit einem Schluck Wasser runter. „Eine Hexe kam darin vor und Zwerge. Ja, es spielte in einem Bergwerk. Es ähnelte einer von Großvaters Erzählungen, auch wenn ich nicht sagen kann, welcher. Wahrscheinlich die Nachwirkungen von“ - deinem Geschwätz - „deinen Geschichten gestern.“
Viola hielt in ihrem stummen Klavierspiel inne. „Was passierte mit der Hexe? In deinem Traum?“
„Keine Ahnung.“, antwortete Kai gereizt. „Ist das wichtig?“
Sie schlürfte nachdenklich ihren Kaffee. „Plötzliches Schlafwandeln kann ein Symptom von Stress sein.“
„Wie zum Beispiel nach einem Todesfall?“
Sie nickte, ohne auf seinen ironischen Tonfall einzugehen. „Wahrscheinlich nur vorübergehend. Allerdings würde ich gern die Ursache genau kennen. Dein Traum könnte uns einen Hinweis geben.“
Er kaute auf seiner Unterlippe. „Ich kann darüber nachdenken. Vielleicht fällt es mir wieder ein.“
„Schreib es auf!“, forderte Viola, während sie sich erhob und ihre Tasse abspülte. „Ich muss jetzt zu einer Rheuma-Patienten. Aber sobald dir etwas einfällt, halte es fest. Schreiben kann therapeutisch sein. Notiere so viele Einzelheiten wie möglich. Dann lesen wir es uns heute Abend gemeinsam durch. Ich bringe was vom Chinesen mit, was hältst du davon?“
Ohne eine Antwort abzuwarten eilte sie davon und kehrte wenig später zurück, in einer frischen Jeans und mit einem Mantel überm Arm. „Lege heute ein weißes Blatt neben dich und einen Bleistift, für alle Fälle. Erinnerungen kommen in den ungewöhnlichsten Momenten, vor allem wenn du nicht daran denkst. Bis heute Abend.“ Damit schnappte sie sich eine sperrige braune Tasche. Dann war sie verschwunden.
Hübsches Mädchen, dachte Kai. Aber eindeutig zu gebieterisch. Und ein wenig verschroben. Weißes Papier. Na – wenn es hilft.
Leise den Kopf schüttelnd machte sich Kai daran, das Geschirr abzuwaschen. Danach führte er einige Telefonate und saß drei Stunden an seiner Doktorarbeit. Erst als er das siebte Kapitel zu seiner Zufriedenheit abgeschlossen hatte und glaubte, keinen zusammenhängenden Satz mehr verfassen zu können, schaltete er den Computer auf Standby. Frische Luft täte ihm jetzt gut, beschloss er. Also packte er sich dick ein und begab sich auf den Weg in die Stadt. Gegenüber des Rathauses hatte die Filiale einer Backshop-Kette eröffnet. Hier erhielt er einen Kaffee und ein reichlich belegtes Sesambrötchen. Während er dieses im Stehen verschlang, ließ er seinen Blick aus dem Fenster über den Markt schweifen. Dabei gewahrte er Marias Teeladen, in dem er erst am vergangenen Tag eingekauft hatte. Zwei Mädchen, Teenager und pickelig, drängten sich vor dem Schaufenster und flüsterten sich abwechselnd ins Ohr. Wahrscheinlich wollen sie einen Liebestrank kaufen, schoss es Kai durch den Kopf. Oder ein Mittel gegen Akne.
In diesem Moment zuckte er zusammen. Rasch glitt seine Hand zur Brusttasche seines Mantels. Da, ein Kugelschreiber. „Entschuldigen Sie“, bat er die Verkäuferin, „hätten Sie wohl einen Notizzettel für mich?“ Ein Bild spukte in seinem Kopf herum. Grimmige Menschen, enge, finstere Häuser, eine einsame Hütte. Und eine Hexe. Was hatte die Hexe damit zu tun? Eine Erinnerung lauerte am Rande seines Bewusstseins wie die Lösung einer schwierigen mathematischen Gleichung. Was war es nur?
„Eine Hexe“, schrieb er auf das weiße Blatt. Nein. „Eine Frau...“

Vor langer Zeit lebte in einem winzigen Dorf eine junge Frau ohne Mann, ohne Kind und ohne Familie. Niemand wusste, woher sie gekommen war. Niemand erinnerte sich an eine Zeit, in der sie nicht in der Hütte am Rand des Örtchens gewohnt hatte. Niemand sprach je mit ihr, außer wenn sie etwas von ihr kauften. Sie hatte sich auf den Handel mit allerlei Kräutersuden und Salben verlegt, die sie gegen diese oder jene Krankheit des Körpers und manchmal auch der Seele einsetzte. Damit war sie sehr erfolgreich und wurde deshalb von vielen beneidet. Hinter vorgehaltener Hand nannten die Leute sie eine Hexe.
Eines Tages tauchte ein kleines Mädchen in diesem Dorf auf, ein Kind fahrender Gaukler. Durch schwere Krankheit war sie zur Waise geworden. Da es ein Jahr mit besonders schwacher Ernte gewesen war, sah sich niemand fähig, sie bei sich aufzunehmen und zu ernähren, als allein die Hexe. Diese zeigte sich nicht sonderlich erfreut über den ungebetenen Gast. Gleichwohl gewährte sie ihr Obdach, sorgte für sie und lehrte sie allerhand Kunstgriffe. Dies währte einige Zeit und die Leute hätten sich wohl daran gewöhnen können. Da geschah es eines Morgens, kurz nach Sonnenaufgang, dass die Hexe an der Tür des Priesters klopfte. Eilend zog sie ihm zu ihrem Haus. Wenig später verließ der gute Mann Gottes es wieder, bedauernd das Haupt gesenkt. Man rief zwei starke Männer und den Totengräber. Dann wurde das Waisenmädchen aus der Hütte getragen, mit den Füßen voraus, wie es bei Toten üblich ist.
Das Begräbnis war kurz und einsam. Nur die Hexe und der Kirchendiener waren anwesend. Doch obgleich die Dörfler sich wenig für das Kind interessierten, es auch nicht gewollt hatten, als es noch lebte, erweckte sein Tod doch einiges Aufsehen unter ihnen. Wie kam es, dass ein so junges und gesundes Mädchen so plötzlich, mitten im Schlaf, aus dem Leben schied? Das konnte keiner von ihnen sich vorstellen. Musste da nicht eine teuflische Kraft dahinter stecken? Hatte das Kind nicht bei einer Hexe gelebt? War nicht bekannt, dass die schwarze Frau keine Liebe für den Zögling empfunden, ihn gar als störend empfunden hatte? Ja, so musste es sein: Die Hexe hatte sie ermordet. Wie und warum sie das so plötzlich getan hatte, war zwar nicht im Detail bekannt. Es reichte aber, um die Dorfbewohner zu einem Entschluss zu bringen: Ein Leben für ein Leben – die Hexe musste sterben. Doch als die Menge an der Hütte ankam, die Kräuterfrau zu holen, da fanden sie den Ort verlassen. Das Licht war gelöscht, die Asche im Kamin war kalt. Die Hexe war gegangen und niemand im Dorf sah sie jemals wieder.
Im Norden des Dorfes befand sich ein Wald und durch den Wald führte ein Weg weit, weit in die Fremde hinein. Diesen Weg hatte die Hexe eingeschlagen, mit nichts bei sich als den Kleidern auf dem Leib und dem nackten Leben. Obwohl sie auf der Flucht war, war ihr Herz ruhig und fast erleichtert, dem engen Leben im Dorf zu entfliehen.
Das Jahr neigte sich dem Ende zu; die Winde bliesen frostig und der Himmel weinte eisig auf die Welt herab. Schritt für schritt stapfte die Hexe vorwärts. Ihre Kleider verschlissen, ihre Füße wurden wund, ihre Glieder magerten ab. Und immer weiter führte sie ihr Weg, weit entfernt von den Siedlungen der Menschen, auf unbegangenen Straßen, durch Gestrüpp und Dornen, über sieben steile Berge und durch sieben verwilderte Täler.
Dann, eines Abends, als das neue Jahr schon angebrochen war, glaubte die Hexe endlich, dass ihre Beine sie nicht mehr weiter tragen könnten. Müde und hungrig ließ sie sich auf dem kahlen Erdboden nieder und wartete – wartete auf den Tod oder auf ein Wunder...

„Ein Wunder, dass sie sich überhaupt noch auf den Beinen halten kann.“
Bei diesen Worten zuckte Kai zusammen? Wer hatte sie gesprochen? War er das? Oder etwa die Hexe?
Nein. Als er sich umsah merkte er, dass er immer noch in dem Café saß. Sein Kaffee war kalt. Ein Rest seines Brötchens lag auf dem Pappteller. Der Raum war leer, bis auf einen älteren Herrn, der an einem der Stehtische seine Zeitung las und einer mageren Mittvierzigerin, die sich gedämpft, aber deutlich hörbar, mit der Verkäuferin unterhielt. „Und wirklich, Tessa, sage ich zu ihr, du darfst dieses Stück Torte nicht essen, bei deinem Diabetes und überhaupt, deine Oberschenkel, deine Taille...“
Kai schüttelte sich. Seine Hand, die immer noch verkrampft den Kugelschreiber hielt, schmerzte und ihn fröstelte. Blinzelnd starrte er auf den Zettel vor sich. Er war fast vollkommen von krakeligen, engen Buchstaben bedeckt. Konnte er das alles geschrieben haben? Doch, offensichtlich hatte er es getan. Wie spät war es eigentlich? Ein schneller Blick auf die Armbanduhr. Eine ganze Stunde war vergangen, seit er Großvaters Haus verlassen hatte. Höchste Zeit, dass er sich wieder an die Arbeit machte. Eilig packte er den Zettel und stopfte ihn in die Hosentasche. Dann schüttete er den ekligen Kaffeerest in einem Zug hinunter, stopfte sich den Bissen Brötchen in den Mund und verließ hastig grüßend das Geschäft.
Auf dem Weg nach Hause kaute Kai nervös auf seiner Unterlippe herum. Seit Jahren hatte er nicht mehr geträumt. Wieso nun so oft und so lebendig? Kaum zu Hause, warf er seine Sachen von sich und überflog, was er im Café geschrieben hatte. Wie kam es, dass er sich so genau erinnerte? War das normal bei einem Traum? Und da, diese Formulierung: „das enge Leben“ - verwendete er für gewöhnlich solche Ausdrücke? Wenn er es genau überlegte, benutzte er überhaupt keine schmückenden Adjektive, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Woher dieser plötzliche Wortschwall, für den das Papier kaum ausgereicht hatte? Das alles verwirrte ihn.
Ach was! Irgendein dummer Traum, ausgelöst von dem dummen Geschwätz einer etwas durchgedrehten jungen Frau. Er sollte lieber etwas tun, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Also fuhr er den Computer wieder hoch. Aber eine halbe Stunde später merkte er, dass er weder schrieb noch nachdachte, sondern nur den Bildschirm anstarrte. Seufzend klappte er den Laptop wieder zu. Er griff nach dem Papier mit der Geschichte seines verrückten Traumes, um das Ganze noch einmal zu lesen. Mh. So ganz unsinnig war es vielleicht doch nicht. Allerdings fehlte das Ende. Wie ging es weiter? Das sollte er wissen. Oder war er zu früh aufgewacht? Nein, da kam noch etwas. Bloß wie? Seufzend lehnte er sich zurück und dachte nach. Da fiel ihm etwas ein. Und er schrieb: „Auf einmal...“
 



 
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