Adagio

eli-fant

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Es war schon fast dunkel.
Theresa ging schnell. Ihr war kalt, obwohl sie ihren Wintermantel trug.
Der erste Schneeregen in diesem Jahr hatte die Straße in eine einzige Pfütze verwandelt und bei jedem Schritt spritzte eisiges Wasser auf ihre dünnen Nylonstrümpfe. Der Weg von der U-Bahn-Station zum Konzerthaus war weit und sie bereute es schon fast, daß sie dem Rat ihrer Tante, warme Stiefel anzuziehen, nicht gefolgt war.
Doch als sie in der Ferne das festlich erleuchtete Gebäude erblickte, durchflutete sie ein warmer Schauer der Erregung. Sie würde heute in ein Konzert gehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben ein richtiges Sinfoniekonzert!
Da drängte sich unerbittlich die kühle, etwas blecherne Stimme ihrer Tante in ihre freudigen Gedanken:
"Wenn sie dich überhaupt reinlassen...! Solche Veranstaltungen sind nichts für uns einfache Leute. Da gehen nur die hin, die sich einbilden, was Besseres zu sein. Du wirst schon merken, daß du dort fehl am Platz bist!"

Theresa befiel eine leichte Beklemmung, als sie die große, erleuchtete Eingangshalle betrat.Überall standen elegant gekleidete Damen und Herren, die meisten unterhielten sich gedämpft.
Als sie jedoch wahrnahm, daß niemand ihr besondere Beachtung schenkte, entspannte sie sich.
Sie ging zur Garderobe und gab ihren Mantel ab.
Dann kramte sie in ihrer Handtasche nach der Eintrittskarte und warf einen Blick darauf, der jedoch nicht nötig gewesen wäre. Seit Tagen wusste sie auswendig, was darauf stand:
Block C Reihe 4 Platz 11
Ihre Augen wanderten suchend durch den Raum, dann folgte sie einem Hinweisschild in den ersten Stock.

Auf halber Höhe der Treppe zeigte ihr ein großer Spiegel ein Abbild ihrer selbst und sie musterte sich verstohlen.
Als sie am Nachmittag endlich damit fertig gewesen war, ihr Firmungskleid um die drei Zentimeter zu verlängern, die der Saum noch hergegeben hatte, hatte sie es anprobiert und sich richtig hübsch gefühlt. Das dunkle Blau schien ihr gut zu Gesicht zu stehen und die im Rücken gebundenen Bänder ihre schmale Figur vorteilhaft zu betonen. Sie hatte beinahe erwartet, von ihrer Tante, die einen kritischen Blick auf sie geworfen hatte, ein Kompliment zu erhalten, doch hatte diese nur gefragt:
"Was hast'n da am Kinn? Einen Pickel?"
Theresa seufzte. Die Tante hatte recht gehabt.
Und steckte nicht auch ein Körnchen Wahrheit in deren Überzeugung, daß jemand wie Theresa, der aus einfachsten Verhältnissen stammte, nicht ins vornehme Publikum eines Sinfoniekonzerts passte?
Das blaue Kleid wirkte auf einmal mehr als unscheinbar - es war altmodisch und plump. Theresa fühlte sich unsicher und linkisch, als sie die Treppe weiter hinaufstieg.

Am Eingang zum Saal warf ein älterer Herr einen Blick auf Theresas Eintrittskarte und wies ihr mit einer Handbewegung den Weg zu ihrer Sitzreihe.
Erst als sie auf ihrem Platz saß, sah sie auf. Sie war verblüfft. So groß hatte sie sich den Konzertsaal nicht vorgestellt. Zahlreiche Sitzreihen auf verschiedenen Ebenen - alle leicht nach vorne geneigt, so daß jeder in dem riesigen Raum freien Blick auf das Orchester hatte.
Von den Musikern war allerdings noch nichts zu sehen. Einzig ein Fagottist saß bereits auf seinem Platz und entlockte seinem Instrument brummige und doch auf seltsame Weise zart klingende Töne.

Theresa lauschte und lächelte. Bei den Klängen mußte sie an ihren Großvater denken. Er war schon sehr alt und gebrechlich und lebte in einem Altenheim. Theresa mochte den alten Mann gerne und besuchte ihn regelmäßig.
Von ihm hatte sie auch die Eintrittskarte für dieses Konzert bekommen. Es war sein Geschenk zu ihrem
18. Geburtstag.
Zu Hause - bei Onkel und Tante, bei denen Theresa aufgewachsen war - hatte dies großes Mißfallen erregt. Die Konzertkarte sei ein Zeichen dafür, daß der alte Mann anfange, verrückt zu werden, hatte die Tante böse gesagt und er Onkel hatte zustimmend genickt.

Der Besuch eines Sinfoniekonzerts war in ihren Augen nichts für Leute der Klasse, der sie angehörten. Das war etwas für die "feinen Leute", für diejenigen, die ihrer Meinung nach kaum etwas anderes zu tun hatten, als auf die weniger Gebildeten und Begüterten herabzuschauen.
Onkel und Tante gaben viel auf ihre einfache Herkunft und achteten streng darauf, möglichst wenig mit den "Bessergestellten" in Berührung zu kommen. Bessergestellt waren in ihren Augen fast alle anderen Menschen und so lebten sie recht zurückgezogen und pflegten außer mit ein paar Verwandten mit niemandem Kontakt.
Ihr Musikgenuß beschränkte sich auf das Hören volkstümlicher Musik im Radio und ihre tägliche Zeitungslektüre auf das Überfliegen der Überschriften und das Lesen der Todesanzeigen. So bestand ihre Weltsicht aus einigen wenigen, unumstößlichen und oft wiederholten "Tatsachen", zum Beispiel, daß früher alles besser gewesen war, alle Politiker Verbrecher seien und man sich vor Ausländern in Acht nehmen müsse.
Theresa war in der engen Welt von Onkel und Tante großgeworden, da ihre Mutter früh verstorben war. Ihren Vater hatte sie nie gekannt, wußte nur aus gelegentlichen Äußerungen der Tante, daß dieser ein "verrückter Taugenichts" gewesen sei, mit dem ihre leichtsinnige Mutter sich eingelassen hatte.

Allmählich fand sich das Orchester ein. Die Musiker begannen, ihre Instrumente zu stimmen.
Theresa horchte fasziniert auf das bunte Gewirr von Tönen. Die ungeordneten Klänge der Streicher und Bläser, das Durcheinander von Laut und Leise, schnellen Läufen und bedächtigen Tönen erzeugten eine Atmosphäre der gespannten Erwartung, die in ihr widerhallte und sie ganz in ihren Bann zog.
Sie nahm nicht wahr, wie sich rings um sie her die Publikumsplätze füllten.
Dann verstummten die Instrumente wie auf ein geheimes Zeichen und wenige Augenblicke später betrat der Dirigent den Raum. Er wurde mit Beifall begrüßt.
Als er sich dem Orchester zuwandte und die Arme hob, herrschte fuer ein paar Sekunden absolute Stille im Saal.

Während der ersten Takte der Haydn-Sinfonie vergaß Theresa zu atmen, so überwältigt war sie von dem, was da auf einmal machtvoll den Raum erfüllte. Sie fühlte, wie die Musik von ihr Besitz ergriff und in ihrem Innersten etwas anrührte und zum Leben erweckte, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatte.
Während sie hingerissen lauschte, wanderten ihre Augen durch das Orchester. Sie musterte die ernsten, konzentrierten Gesichter der Musiker und konnte sich nicht sattsehen daran, wie sie ihren Instrumenten mit scheinbarer Leichtigkeit und doch solcher Präzision diesen Zauber entlockten.
Als Theresa ihren Blick einmal kurz durchs Publikum schweifen ließ, nahm sie mit einigem Befremden wahr, daß das Adagio des ersten Satzes anscheinend bei niemandem solche Wirkung hervorzurufen schien wie bei ihr. Einige Gesichter wirkten gar gelangweilt, viele drückten freundliches Interesse aus, aber mehr nicht.
Doch ehe sie sich noch Gedanken darüber machen konnte, wurde sie schon wieder weggetragen von der Flut von Tönen, die jetzt fröhlicher und lebhafter wurde und ihr ein Lächeln entlockte.

Theresa wußte kaum etwas über klassische Musik.
Sie hätte nicht beschreiben können, was sie so bewegte, doch allmählich begann eine leise Ahnung in ihr aufzusteigen. Als der zweite Satz seinem Ende zuging, wurde diese Ahnung plötzlich zur Gewissheit.
Das war es!
Es mußte mehr geben, als die enge, starre, muffige Welt, in der sie aufgewachsen war.
Solche Musik konnte nur komponiert und gespielt werden, wenn es etwas gab, wofür es sich zu leben lohnte. Einem kleinkarierten und stumpfsinnigen Dasein, wie ihre Tante und ihr Onkel es lebten, konnte ein solches Kunstwerk niemals entspringen.
Theresa atmete tief durch.
Das Tor zu einer ganz neuen Welt hatte sich vor ihr aufgetan. Sie hatte zwar keine genaue Vorstellung davon, was diese Welt zu bieten hatte, doch war sie sicher, daß es in ihr unendlich viel Schönes und Spannendes zu entdecken gab. Ihre Abenteuerlust und ihr Tatendrang waren geweckt.
Das Sinfonische Orchester in M. hatte etwas geschafft, was noch niemand fertiggebracht hatte: Theresa verspürte plötzlich eine unbändige Lust zu leben.

Und noch etwas wurde Theresa schlagartig klar:
Die Tür zu der Welt, die sie soeben betreten hatte, hatte sich hinter ihr geschlossen. Die Tante mit ihren glanzlosen Augen und den nach unten gezogenen Mundwinkeln hatte hier keinen Zutritt. Sie würde Theresa nicht folgen können, um mit ihren kalten und zynischen Bemerkungen zu zerstören, was diese glücklich machte. Diesmal würde es ihr nicht gelingen, die Nichte fuer die Bitterkeit ihres eigenen kargen Daseins zu bestrafen, wie sie es schon so oft getan hatte.

Theresa durchflutete eine ungeheure Erleichterung.
Sie fühlte sich dermaßen befreit, daß ihr plötzlich die Tränen übers Gesicht liefen. Sie biß sich auf die Unterlippe, um dem Weinen Einhalt zu gebieten, doch es gelang ihr nicht.
Ihre Hände tasteten nach der Handtasche.
Mist! Die Taschentücher waren im Mantel in der Garderobe!

Plötzlich spürte sie, wie sich von hinten eine Hand auf ihre Schulter legte.
Sie erstarrte.
In diesem Augenblick war der Zauber der Musik, der sie eben noch ganz umfangen hatte, gebrochen.
Im Geiste hörte sie die Stimme der Tante:
"Na siehst du! Schon hast du dich danebenbenommen. Im Konzertsaal heult man nicht und raschelt auch nicht mit dem Inhalt von Handtaschen. Die feinen Leute, die Musik hören wollen, mögen das nicht."
Theresa geriet beinahe in Panik
"Ruhig atmen," dachte sie. "So tun, als wäre nichts geschehen. Und sich um Himmels willen nicht umdrehen!"
Der Druck der Hand auf ihre Schulter verstärkte sich und sie erblickte eine zweite Hand, die in einem braunkarierten Jackettärmel steckte und ihr ein Taschentuch vor die Nase hielt.
Mechanisch griff Theresa danach und trocknete ihre Tränen.

Bis zur Pause hatte sie sich einigermaßen beruhigt. Die letzten Takte der Sinfonie hatte sie auch wieder genießen können und anschließend heftig Beifall geklatscht.
Nachdem sich das Orchester zurückgezogen hatte und auch die meisten Leute im Publikum aufstanden, beschloß Theresa, ihren Platz nicht zu verlassen. Sie vermied es auch tunlichst, sich umzudrehen. Als sie schließlich vorsichtig über ihre Schulter schielte, stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, daß die Sitzreihe hinter ihr leer war.
Unschlüssig betrachtete sie das Taschentuch in ihren Händen. Es war ein weißes Herrentaschentuch mit dunkelgrünem Rand. Sie würde es dem Besitzer zurückgeben müssen. Oder gehörte es sich nicht, daß man Taschentücher, in die man sich geschneuzt hatte, zurückgab?

Und noch ein anderes Problem beschäftigte sie: Wie würde sie es fertigbringen, möglichst bald wieder ein Konzert zu besuchen? Denn das wünschte sie sich - so sehr wie kaum etwas anderes.
Der Großvater mit seiner winzigen Rente würde ihr ein solches Geschenk kaum ein zweites Mal machen können und Tante und Onkel würden auch jetzt, wo sie volljahrig war, ihre Ausgaben streng kontrollieren.

Theresa blickte auf, als ein Mann zwischen den Sitzreihen hindurch auf sie zusteuerte.
Das braunkarierte Jackett kam ihr bekannt vor und ihr Magen krampfte sich zusammen. Wie sollte sie sich jetzt verhalten?
Der Mann lächelte und setzte sich zu ihr. Einen Sitzplatz ließ er zwischen ihnen frei, wie um ihr nicht zu nahe zu treten und Theresa war dankbar dafür.
Er war mittleren Alters, hatte blaue Augen und kleine Lachfältchen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Konzertbesuchern, die sehr festlich gekleidet waren, wirkten sein Jackett und die helle Hose eher leger, was Theresa zumindest etwas Vertrauen einflößte.
"Hab' ich reingeschmuggelt," sagte er und hob leicht die Hand, in der er ein Glas Sekt hielt. "Eigentlich darf man keine Getränke mit in den Saal nehmen, aber ich dachte, Sie könnten einen Schluck gebrauchen."
Er hielt ihr das Glas hin.
Da Theresa nicht wußte, wie sie reagieren sollte, sagte sie nichts. Unschlüssig starrte sie auf den Mann mit dem Glas in der Hand.
"Hm, sie mögen wohl keinen Sekt? Nun, das konnte ich nicht wissen." brummte er.
Theresa schwieg noch immer.
Sie konnte ihm ja nicht gut erklären, daß sie gar nicht wusste, ob sie Sekt mochte. Sie hatte noch nie welchen getrunken.
"Aber eines werden Sie mir ja wohl abnehmen," meinte der Mann und kramte in seiner Tasche. "Wissen Sie, ich habe nämlich ein Konzertabonnement und muß für einige Zeit verreisen. Ich hatte mir gedacht, ich treffe heute abend vielleicht jemanden, dem ich mit den vier Karten eine Freude machen kann."

Theresa verspürte einen leichten Schwindel.
Vier Konzertkarten! Für sie!
Sie zögerte einen Augenblick, dann nahm sie dem Mann das Sektglas aus der Hand.
Der Sekt schmeckte anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Herber und interessanter. Er perlte und prickelte auf ihrer Zunge.
Sie lächelte.
"Danke!" sagte sie und streckte die Hand nach den Konzertkarten aus.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo eli-fant,

ich möchte mich flammarion im Großen und Ganzen anschließen. Beim Lesen hat mich die Geschichte zunehmend gepackt. Die Wirkung, welche die Musik auf das damit zum ersten Mal in Berührung kommende Mädchen ausübt, hast Du wunderbar beschrieben. Und immer, wenn ich so in einen Text eintauche, wie hier, dann höre ich unbewußt auf, nach kleinen Fehlern oder Ungereimtheiten zu suchen. Und so behaupte ich einfach: Es sind keine drin. Dein Stil gefällt mir - er wirkt einfach rund - und der Inhalt ist schlüssig. Das gilt meiner Auffassung nach bis zu dem Absatz:

"Die Tür zu der Welt, die sie soeben betreten hatte, hatte sich hinter ihr geschlossen. Die Tante mit ihren glanzlosen Augen und den nach unten gezogenen Mundwinkeln hatte hier keinen Zutritt. Sie würde Theresa nicht folgen können, um mit ihren kalten und zynischen Bemerkungen zu zerstören, was diese glücklich machte. Diesmal würde es ihr nicht gelingen, die Nichte fuer die Bitterkeit ihres eigenen kargen Daseins zu bestrafen, wie sie es schon so oft getan hatte."

Das ist nach meinem Dafürhalten bereits der Höhepunkt der Geschichte. Hier könnte (sollte?) sie sogar zu Ende sein. Den Rest habe ich leider nicht mehr als so stark empfunden. Da rutscht die Handlung ins leicht Kitschige ab. Aber das ist natürlich auch Geschmackssache.

Gruß Ralph
 



 
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