Aketimes Versklavung - Zumbi dos Palmares

Nimroc

Mitglied
Prolog

Aketimes Gefangenschaft

1666 n.Ch.

Aketime rannte weiter. Sie lief kopflos in der Nacht hinein. Der Angriff kam ohne Vorwarnung und sie floh aus ihrem Dorf. Alle versuchten in den umliegenden Wäldern zu verschwinden. Die Schatten der Bäume und das Dunkel der Nacht machten jeden Schritt zu einem halsbrecherischen Manöver. Das Klopfen ihres Herzens erschwerte ihr Denken und sie verlor immer wieder die Orientierung. Sie kämpfte hart um jeden Atemzug, der viel zu laut in ihren Ohren dröhnte. Eine Baumwurzel, über die sie stolperte, erinnerte sie daran, sich auf das Laufen zu konzentrieren. Aketime lief um ihr Leben.
Das Brennen in ihren Beinen verschlimmerte sich. Länger würde sie dieses Tempo nicht halten können. Sie suchte vergeblich nach einem Versteck, um sich zu erholen. Als sie erneut stolperte, rammte sie ihren Fuß gegen einen Baumstumpf und fiel mit einem leisen Fluchen. Orundo, ihr Beschützer, half ihr hoch. Überflüssigerweise klopfte sie den Dreck von ihren Händen.
„Danke“, sagte Aketime.
Ein Ruf, von Gelächter begleitet, kam aus dem Gebüsch. Orundos Augen dehnten sich aus, wie die einer Antilope, bevor sie losspringt. Er ließ sie los, stellte sich beschützend vor sie und schrie:
„Lauf! Versteck dich! Lauf, Aketime!“ Orundo brachte seine Hiebwaffe in Stellung.
„Hier sind sie!“, rief einer der drei weißen Männer, die bewaffnet auf die kleine Lichtung traten. Sie zückten ihren Säbel und kreisten Orundo langsam ein. Ihre Absicht war deutlich. Der Beschützer würde sich lieber töten lassen, bevor er sich ergab. Die verängstigte Antilope weidete durch Orundos Augen, und sie las den Todeswunsch in seinem Gesicht. Sie fürchtete sich nicht mehr alleine. Sie war den Tränen nahe, und schämte sich dafür, dass sie Angst hatte. Sie fühlte sich ihres Mutes beraubt.
‚Bedränge nie ein verletztes Tier, es wird dich kratzen!’ Ein Messer blitzte in ihrer Hand. Sie drehte die Messerspitze nach oben, wie man es ihr beigebracht hatte. Sie vertraute der Schärfe des Messers. Aketime war trainiert zu töten und wollte sich mit ihrem Leben verteidigen. Die Angreifer sollten teuer zahlen für das, was sie ihrem Volk angetan hatten. Sehr unklar ausgedrückt.
Unerwartet schloss sich um Aketimes Hals eine kraftvolle Hand. Eine harte Berührung einer Messerspitze an ihrer Kehle ließ sie auf der Stelle erstarren. Sie fühlte kaum den Stichschmerz, sondern das feuchte Klebrige ihres eigenen Blutes rinnen. Ein ekeliger Schweißgeruch stieg ihr in die Nase. Der Stoppelbart, der an ihrer Wange kratzte, brandmarkte sie. Durch den festen Druck auf ihren Hals konnte Aketime kaum atmen und schnappte laut nach Luft. Aketimes Furcht wuchs und sie spürte den Drang ihren Kopf zu bewegen, aber der Griff um ihren Hals verhinderte es.
„Waffe fallen lassen!“, zischte die Stimme bedrohlich leise. Orundo verstand die Worte offensichtlich nicht, dennoch tat er wie geheißen und ergab sich. Das Laub auf dem Waldboden dämpfte das Geräusch seiner fallenden Lanze. Für Aketime klang es so laut wie ein Trommelschlag.
Schnell fesselten die anderen Männer Orundos Hände an seinem Nacken. Die weißen Männer lächelten, während sie Aketime in gleicher Weise schnürten. Sie verstand wenig, was sie mit einander redeten, aber sie schienen zufrieden zu sein. Mit dem gelegentlichen Stoß der Breitseiten der Säbel führte man sie zurück ins Dorf. Die Nebel zeigten sich hartnäckig an diesem Morgen, aber beim ersten Licht erreichten sie den Ort des Massakers.
Ein unterdrückter und verzweifelter Schrei kündigte ihre Ankunft an. Es dauert etwas, bis sie erkannte, dass sie selbst geschrieen hatte. Das halbe Dorf war abgebrannt. Verraucht stachen die Bilder in ihr Auge. Das Ausmaß der Verwüstung war enorm. Überall lagen Leichen. Mehr als die Hälfte aller Einwohner lag tot am Boden, Kinder, Frauen und Greise. Auch die Weisen und Ältesten des Dorfes hatten sie niedergemetzelt. Sie schloss ihre Augen, aber die Bilder der Toten verfolgten sie in Gedanken. Der Tod nahm heute für Aketime viele bekannte Gesichter, Gesichter, die sie liebte, erstarrt im Moment des Todes. Sie bezeugten den Schmerz und die Brutalität ihres letzten Atemzuges in dieser Welt. Das Entsetzen um den Raub ihres Lebens, gemalt in Blut. Manche lächelten noch im Tode, als blickten sie gestärkt durch ihren Glauben in die nächste Welt. Sie konnte das Schluchzen nicht mehr zurückhalten und schrie ihren Schmerz frei. Ihr Atem geriet ins Stocken, und sie beruhigte sich mit ein paar tiefen Atemzügen.
„Mamuku? Wo bist du?“, schrie Aketime ihrer Mutter nach. Ihr Klageton blieb nicht unbeantwortet. Das Wimmern, die Wut und die Verzweifelung widerhallten aus jeder Ecke des abgebrannten Dorfes.
Die Stimme ihrer Mamuku rief sie aus ihrem Schock heraus. Sie schüttelte sich von ihren Wächtern frei und kniete sich neben eine alte Frau, die auf dem Boden lag. Sie lag im Sterben, für jeden ersichtlich, und hielt ihr Eingeweide mit geröteten Fingern. Die sterbende Frau war für Aketime wie eine Mutter, ihre Mutter-im-Glauben, gewesen. Blut blubberte aus ihrem Mundwinkel, und jeder Atemzug schwächte sie mehr. Aketime versuchte instinktiv ihre Arme um Mamuku zu legen, aber ihre Hände waren gebunden. Wut stieg in ihr hoch und ihr Körper bebte. Das Gefühl der Ohnmacht überfiel sie und sie weinte.
„Mamuku! Mamuku!“, rief sie verzweifelt.
Mamuku Lider flatterten. Das Leben verließ rasch den zerbrochenen Körper, und Blut gurgelte aus Mamukus Mund. Ihre letzten Worte kamen gequält aus ihr heraus.
„Aketime ... mein Licht ... du lebst ...“ „Ja, Mamuku, bitte, sprich nicht, alles wird wieder gut!“, flüsterte Aketime. „Aketime … ich verlasse dich nicht ... alle deine Ahnen sind bei dir ... ‚Ihr Geist wird im Körper schwächer.’ „Ruhig, Mamuku! Ruhig!“ Mamuku nahm einen kleinen Beutel und stopfte ihn in Aketime’ Gürtel. Sie starb kurz darauf mit einem entspannten Lächeln im Gesicht.
Einer der Männer zog Aketime grob auf ihre Füße. Unkontrollierte Wut explodierte in Bewegung. Sie nutzte den kräftigen Zug des Mannes und schmetterte ihren Kopf gegen seinen Kiefer. Er ging zu Boden. Ein lauter Knall hämmerte an ihre Ohren, und die Härte der Schläge war das einzige, was sie noch mitbekam. Alles, was dann geschah, erlebte sie wie in Trance. Als ob alles in weiche Watte gehüllt wäre. Alles erschien grell und gleichzeitig weich gezeichnet. Sie konnte kaum atmen. Alles klang zu laut in ihren Ohren, bis sie endlich in der Dunkelheit eines Schiffbauches erwachte.

Sie kannte solche Schiffe durch Händler, die ab und zu im Dorf vorbeikamen. Die Sklavenjäger benutzten kleine und überfüllte Fischerboote, die aus allen Fugen zu platzen drohten. Diesmal würde ihr Volk die Ware dieser Händler sein. Zusammengepfercht auf engstem Raum, konnte sie sich kaum bewegen, ihr Kopf tat höllisch weh und sie fühlte sich innerlich tot, begraben und vergessen.
Sie legten in einem größeren Hafen an, jenseits des Flusses. Dort wurden sie abgeladen. Unfähig zu jeglichem Gefühl folgte sie widerstandslos den Anweisungen. Sie nahm das Geschehen um sich wahr wie in einem bösen Traum, den man zu vergessen sucht. Sie und alle anderen Gefangenen wurden zusammen getrieben und zum Hafen gebracht. Sie warteten lange Zeit in der Sonne sitzend auf irgendetwas. Die Geräuschkulisse einer Hafenstadt erfüllte alle Winkel. Fischerweiber rollten ihr Wagen herbei und priesen ihre Waren an. Emsige Matrosen verluden Gepäck aus ihren Schiffen. Der aufgewirbelte Staub, die Insekten, die man mit gefesselten Händen nicht verjagen konnte, und die angestaute Hitze des Nachmittags quälten sie. Der Durst trocknete ihre Lippen. Später wurden sie auf ein größeres Schiff geladen, in dessen Bauch gezwängt und angekettet. Das alles wurde zu einem einzigen Nebel in ihrem Kopf. Die Pumpe in ihren Ohren übertönte das Geschrei und den Schmerz um sie herum.
In diesem Schiffsbauch saßen bereits gefangene Bantos aus anderen Flussdörfern. Ein alles beherrschender Geruch überwältigte Aketime. Ein Geruch der Gefangenschaft, durchdrungen mit Gestank von Fäkalien, Schweiß, Krankheit, Angst, Tod und Salz. Die Gefangenen lebten schon lange in ihrem eigenen Kot. Das verzweifelte Gefühl, das sich in Aketimes Herz bohrte, war diesem Geruch sehr ähnlich. Ein lebendiger Ausdruck ihres Inneren. Übermüdet versuchte sie zu schlafen …
… Exú lachte ihr ins Gesicht, mächtig in seinen Farben. Das Rot des Blutes war überall zu sehen, vermischt mit dem Dunkel der Gefühllosigkeit in ihrem Herzen und in der Magengrube. Er trug seine Hörner mit schrägem Humor zur Schau. Exú in voller Pracht.
’Was willst du wirklich von mir, Exú? Lass mich in Ruhe!’, sie stöhnte im Schlaf. Exú ließ ungern los. Sein spottendes Grinsen trieb sie zum Weinen. Sie weinte ihren Verlust hinaus, und je mehr sie weinte, desto mehr schien sich Exú darüber zu amüsieren. Der Orixábote beschnupperte ihr Zweifeln, streckte seine lange Zunge und trank aus ihr Tränen. ‚Köstlich!’
… Ihre Verzweiflung schmeckte bitter, unerträglich und scharf genug, um sie doch noch aus ihrer Gefühllosigkeit zu wecken. Sie fühlte sich elend und klammerte sich daran wie ein Matrose bei hohem Seegang. Die Gedanken an die Toten und Verlust kreisten in ihr Kopf herum. Alles, was sie kannte, gehörte jetzt der Vergangenheit an. Ihre Ausbildung zur „Mutter der Götter“, ihr Dorf, ihre Freunde ... Alles, was sie bis dahin kannte, war vernichtet innerhalb eines Tages. Aketime stellte sich vor, wie dieses Schiff zu sein, dem Wind folgend über die Wellen zu fahren, tänzelnd, befreit von allen Sorgen, wie ein Kind, das sein Spielzeug dem Wellengang des Strandes anvertraute. Wie um sie zu necken, begann sich das Schiff geduldig von rechts nach links zu schaukeln.
‚Wohin werden diese Männer mich und mein Volk bringen, Exú?’, sie bekam keine Antwort auf ihre Frage. War Exú nicht der Bote der Götter? Er war verpflichtet, ihre Fragen zu beantworten.
Doch er antwortete nicht. Exú wollte nicht reden. Wo verlor sie ihr Vertrauen an ihre Orixás? Sie spürte nur diese Leere. Dieser unbeschreibliche Verlust breitete sich wie ein Geschwür in ihrer Magengrube aus.
Sie massierte ihren Bauch, um diese Leere zu verbannen, und fand die kleine Tasche, die Mamuku ihr noch einsteckte bevor sie starb. Ein dünnes Lächeln der Sehnsucht breitete sich in ihrem Gesicht aus, als sie den kleinen Lederbeutel, der Mamukus Ifá enthielt, liebkoste. Es war tatsächlich Mamukus Tasche, in der sie ihr Búzios Muschelspiel aufbewahrte und die weich vom häufigen Benutzen jetzt in ihren Händen lag. Die Ifá, das Muschelspiel, wurde von Generation zu Generation der Mamukus weitergereicht und diente dem Kontakt mit ihren Ahnen und Göttern. Exú wachte über das Spiel. Mamuku konsultierte ihr Orakel jeden Tag und warf die Búzios nach Antworten auf die Fragen ihres Kunden.. Sie trug diesen kleinen Beutel stets bei sich, wie ein Patuá.
‚In jeder Kurve oder Kreuzung deines Weges wartet dein Schicksal, dein Axé auf dich. Es gibt keinen Zufall, Aketime. Alles fällt dir zu! Du hast die Wahl selbst schon vor längerer Zeit getroffen!’
Mamukus tadelnde Stimme zu hören, auch wenn nur im Geist, war für Aketime wie der Anblick eines Regenbogens. Ihre Gesichtszüge erhellten sich. Wenn Mamukus Geist wirklich bei ihr weilte, würde sie ihr, Aketime, den richtigen Weg durch das Orakelspiel zeigen? Aketime öffnete den Beutel, nahm die Muscheln heraus und begann mit den Búzios zu spielen.
Sie klärte ihren Geist von aller Furcht und unnötigen Gedanken, so wie sie es gelernt hatte, und bat ihre Ahnen um Hilfe. Gespannt würfelte sie die erste „Welle“.
Ständig begleitet von Mamukus Stimme suchte Aketime über das Ifá die Antwort auf ihre Fragen. Nach einiger Zeit begann sie die Muster der Muscheln zu erkennen. Ihre Zukunft breitete sich vor Aketime aus wie ein Buch. Das Muschel-Orakel formte Bilder in ihrem Geist. Je öfter sie würfelte, desto mehr durchblickte sie den trügerischen Willen der Götter und Ahnen. Die Ergebnisse schockierten sie. Aketime, in Afrika geboren, um Königin zu sein, sie, die ihre Ausbildung genoss, um „Mutter-der-Götter“ zu werden, die so viele Männer haben könnte wie sie wollte, sie hatte einen Auftrag. Die Orixás brachten sie als Sklavin in neue Länder, um dort wieder Königin und Mutter-der-Götter zu werden. Die Orixás wollten dieses neue Land erobern, und Aketime war ihr Instrument dazu. Sie sollte dort dienen.
Die Prophezeiung, der Ifá, nahm ihren Lauf, und Aketime fühlte sich wie ein Blatt im Wind. Durch Gewalt aus ihrem Baum gerissen, geschüttelt und hin und her geworfen. Durch diesen Wind würde sie an einen neuen fruchtbaren Boden gebracht werden. Aketime müsste dort einen neuen Baum ihres Lebens pflanzen.
‚Der Wille meiner Ahnen!’, dachte sich Aketime.
Sie konnte hören, wie Exú über sie lachte. Die Zukunft sprach zu ihr. Sie musste nur genug Kraft besitzen und das Hier und Jetzt überleben! So waren die Spiele von Exú. Das Wissen über den Willen der Götter erleichterte ihr nicht, die Geschehnisse zu ertragen. Aketime war erst sechzehn Jahre alt. Sie weinte sich mit ihren letzten Tränen in den Schlaf. Von Schmerz erfülltes Weinen und Schreie rissen sie mit Gewalt aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie erwachte mit schmerzenden Gliedern. Die Ketten rieben unerträglich an ihren Knöcheln und Handgelenken. Ihre Lippen waren mittlerweile vor Durst geschwollen und aufgeplatzt. Sie stellte überrascht fest, dass sich zumindest ihre Kopfschmerzen gebessert hatten, da ihrer Körper sich über so viele andere Dinge zu beklagen hatte.
Es dauerte sehr lange, bis irgendeine Form der Verpflegung kam. Den Matrosen schien das Überleben der Sklaven nicht so wichtig zu sein. Einmal am Tag bekamen sie zu essen und zu trinken. Keiner wusste zu sagen, was sie hier aßen. Den Geschmack kannten sie nicht. Das Wenige, das sie erhielten, wurde verteilt. Manche der Gefangenen beäugten gierig ihren Anteil. Aketime zwang sich, so rasch, wie es ihr die Ketten erlaubten, zu essen. Am Anfang lebte Aketime von einem Tag zum anderen. Je mehr sie das Zeitgefühl verlor, um so mehr trat ihr Hunger in den Vordergrund. Tage, vielleicht Monaten verstrichen, und Aketime fühlte sich körperlich immer schwächer. Die tägliche Essenszeit wurde langsam zum Mittelpunkt ihres Daseins. Schlafen, aufwachen, schlafen, essen, trinken, schlafen und bis zur nächsten Mahlzeit überleben. Ein Rhythmus, der seinen Platz fand. Monoton, und doch etwas, an das zu klammern es sich lohnte. Langsam füllte der fürchterliche Hunger alles aus und wich nie aus ihren Gedanken. Sie fühlte sich kraftlos und missbraucht, gezwungen, jeden Tag aufs Neue zu beginnen.
Das Leben auf dem Schiff war geprägt von fremdartigen Geräuschen. Holz knirschte oder zerbarst, die Segel sangen mit dem Wind, die Matrosen riefen sich Kommandos zu oder sangen Lieder in unbekannten Sprachen. Das Leben auf dem Schiff wurde nicht leichter, sondern von Tag zu Tag schwieriger. Das Wenige an Essen und Wasser und der feuchte, dreckige, von menschlichen Ausdünstungen gefüllte Schiffsbauch war Quelle für viele Krankheiten. Manche der Älteren und Schwachen trieb die Hoffnungslosigkeit in den Wahnsinn. Das Schmerzen der Gliedmaßen, die kleinen Abschürfungen, die sich sofort entzündeten und eitrig wurden, zerrte ständig an den verbliebenen Kräften der Gefangenen.
Eines Tages bemerkte sie, dass sie so abgestumpft war, dass sie den Geruch nicht mehr wahrnahm. Es wurde ihr nicht mehr bewusst. Kurz danach starben die Ersten von ihnen. Der Tod nahm zuerst die Älteren und die Jüngeren zu sich. Freunde, Familienmitglieder und zusammen gewürfelte Fremde mussten Tag für Tag mit ansehen, wie andere „Malungos“ in diesen Tagen der Reise ins neue Land ihr Leben aushauchten. Malungos, das Wort für die Verdammten in ihrer Sprache.
Wenn jemand starb, durchbrach dieses Ereignis die Monotonie des Tages. Erst nach Stunden kamen die Matrosen herunter und schleppten die Leiche hoch auf das Deck. Später hörte man etwas ins Wasser platschen. Die Augen der Gefangenen spiegelten ihre verzweifelten Gedanken: „Danke, meinen Ahnen, dass ich noch am Leben bin“, sagte ein Unbekannter.
“Dies ist das Schiff der Untoten! Das Schiff der Verdammten, das mich in die Unterwelt bringen soll!“, schrie ein Anderer.
„Dies ist das Schiff der Malungos, der Verdammten!“, schrieen so manche ohne Hoffnung zu den Wänden, die ihnen sowieso kein Gehör schenkten.

Die Schwäche ihres Körpers schien jedoch Aketimes Geist zu klären. Visionen holten sie in eine andere Welt. Sie sah ihr Dorf, bevor es zum Angriff kam. Mamuku erklärte ihr manches über das Feuer, Wasser, Erde, und Himmel. Und über das Land der Geister und ihrer Ahnen. Mamuku erzählte, wie Gott den Orixás befahl, Teile der Erde zu regieren. Die kräftige Stimme Mamukus erfüllte Aketime mit Freude und hinterließ sie in nostalgischen Träumen. Diese etwas dicke, gedrungene, bunt gekleidete alte Frau diente ihr als Mamuku, ihre Mutter in der Spirituellen Welt. Sie erzählte ihr, wie Gott den Orixás Aufgaben zuteilte.
„Die Orixás sollten der Menschheit zeigen, auf welche Art und Weise sie überleben sollen“, lehrte Mamuku sie in ihrer liebevollen Art.
„Aber Mamuku, ist diese Aufgabe nicht erledigt?“, fragte Aketime. Selbst in ihren Ohren klang ihre kindliche Stimme fremdartig. „Wir überleben doch!“
Mamuku lachte und sagte: „Gewiss, mein Kind, aber die Orixás begleiten uns noch weiter. Damit du das verstehen kannst, benötigst du das Wissen über die verschiedenen Welten. Sie sind alle miteinander verbunden und trotzdem können sie getrennt gesehen werden.“ „Welche Welten Mamuku?“
„Alle anderen Welten, Aketime. Die schnelle und die langsame, die dichte und die luftige, die pflanzliche oder erdige, selbst die der Untoten oder die der Geister.“ „Als du geboren wurdest,Aketime, standen dir gleich drei Orixás zur Seite, und diese begleiten dich dein Leben lang weiter. Der Erste ist mit deinem Körper verbunden. Er hilft dir deinen Charakter zu entwickeln, deine Körperkraft zu steigern, und deine Verbindung zum anderen Geschlecht aufzubauen. Der zweite Orixá ist dein Geist, er gibt dir deine eigene Identität. Dein Axé.
Der dritte Orixá ist dein Gottesfunke, deine Seele. Du trägst ihn in dir. Jeder trägt diesen Funken mit sich. Er scheint sehr hell. Er lenkt dein Schicksal,, und führt dich durch deinen Weg zur Erleuchtung, auch Axé genannt!“ Aketime, sah, hörte, und fühlte diese ewigen Wahrheiten in ihrem Herzen, ohne daran zu zweifeln. Ihr Gefühl von Stärke und Geborgenheit wurde in diesem Moment allmächtig. Ungewollte Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie erwachte aus ihrem Traum, denn Orundo schüttelte sie. Sie stöhnte leise, öffnete die Augen und sah Orundo vor sich knien. Er sah schrecklich aus. Seine Augen brannten in Feuer. Sie legte ihre Hand auf seine Stirn und spürte, wie Orundo sich heiß anfühlte. Seine Stimme war sehr schwach. Er hatte viel Gewicht verloren. Der muskulöse Mann war zur Hälfte seines Körpers geschrumpft. „Du hast im Schlaf gesprochen“, sagte er. Aketime wurde erst jetzt bewusst, dass viele der Gefangenen sie anstarrten. Die Augen ihres Volkes waren, seit sie im Bauch des Schiffes gefangen waren, dunkel und traurig geworden. Der Traum mit Mamuku öffnete ihre Augen erneut für ihre Umwelt und ihre Mitmenschen. Wo waren ihr Mut, ihre Würde und Freude geblieben?
Sahen sie in Aketimes Augen jetzt ebenfalls die Angst widergespiegelt? „Orundo, ich sprach in meinem Traum mit Mamuku. Sie erzählte mir vieles über die Götter und unsere Ahnen. Es war wunderschön.“ Husten schüttelte Orundos Körper, bevor er antworten konnte. „Ah, hätte doch ich auch solche Träume“, flüsterte Orundo leise zu Aketime. „Alles, was ich denken kann, ist: weiteratmen und weiter essen. Aketime, wie lang werden wir das noch ertragen können? Wie lange sind wir schon hier drinnen? Eingekerkert wie Tiere, die in ihrem eigenen Dreck schlafen müssen. Ich kann das alles nicht länger ertragen.“ „Gib die Hoffnung nicht auf, Orundo! Ich brauche dich! Es kann nicht mehr lange dauern, bis wir unser Ziel erreichen. Halte bitte durch!“ Aketime merkte, dass mehrere der Mitgefangenen ebenfalls Husten hatten. Wenn sie alle das hier überlebten, wäre das wirklich ein Wunder. Sie hatte selbst wenig Kraft. Alle bewegten sich nur noch sparsam, langsam. Menschen mit glasigen Augen, aller Hoffnung und Richtung beraubt. Auch die Essensverteilung verlief anders, manche verweigerten das Essen. Sie beschloss, dass die Zeit reif für Geschichten und Gesang war. Mamukus Geschichten hatten Aketime stets geholfen.
‚Wer singt, verjagt seinen Ängste!’, Aketime begann leise zu singen: „É Babà Ojê ôô é é Rué É Babà Ojê ôô é é Rué È Guni Guni É Babà Ojê ôô é é Rué È Guni Guni“ „Oxalufan Oxá Babá Oxalá Salufan Sabará e Sagrian“ Als Aketime die zweite Strophe wiederholte, stimmten mehrere Stimmen mit ein. Sie klangen schwach, aber man fühlte noch einen Funken Hoffnung darin. „É Babà Ojê ôô é é Rué É Babà Ojê ôô é é Rué È Guni Guni É Babà Ojê ôô é é Rué È Guni Guni“ „Oxalufan Oxá Babá Oxalá Salufan Sabará e Sagrian“ Nachdem der Gesang abstarb, fühlte sich Aketime etwas besser.
“Wieso singst du diese Melodie?“, fragte ein Mann, den Aketime nicht kannte.
Sie erzählte über ihren Traum und über die Prophezeiung, die sie durch das Búzios-Spiel gesehen hatte. Sie erzählte über ihre Ausbildung zur „Mutter-der-Geister“. Der Mann lachte.
„Träume weiter, liebliche Aketime, viel mehr bleibt uns nicht mehr übrig ...“ Aketime entgegnete:
„ Ist Oxalá nicht der Orixá, der den Menschen in die Nase atmete und sie alle zum Leben erweckte? Ohne Oxalá wären wir alle nur Puppen aus Lehm. Er gab uns Leben und Vielfalt. Oxalá gab uns die Fähigkeit, uns zu vermehren und das Leben zu genießen. Wenn ich um mich schaue, sehe ich nur Tote. Ihr lebt nicht mehr. Ihr verleugnet den Oxalá in euch. Ihr habt eure Hoffnung verloren." Der Mann lachte gequält und gab seiner Hoffnungslosigkeit Ausdruck, indem er seine Ketten schüttelte. „Welche Hoffnung können wir hiermit noch haben? Wir sind im Bauch eines Schiffes, das uns irgendwohin verschleppt. Wir schlafen in unserem eigenen Kot!“, entgegnete er wütend. Alle um ihn herum nickten. Sie gaben dem Mann Recht. „Wie heißt du, mein Freund?“
“Oxaguianketu, ist mein Name“, antwortete er. „Oxaguianketu, ein wahrer Kriegername.“ Aketime legte ihre Hand auf Oxanguianketus Schulter und lächelte ihn an. „So wie du mich bekriegst, mein Freund, so solltest du die da oben, die uns entführt haben, bekriegen. Diese Wut und das Feuer, das ich in dir entfache, dieses Feuer gab dir Oxalá. Richte es auf die da oben, die unser Volk in Ketten legen. Solange es dauern mag, solange sie uns gefangen halten, solange werden auch wir nicht aufgeben. Das Feuer muss brennen. Das Feuer muss bleiben. Wo Leben ist, gibt es auch Hoffnung! Wer keine Hoffnung hat, ist schon verloren! Das ist die Wille der Götter!“, sagte Aketime.

Aketime versuchte danach ihr Schicksal und das ihrer Mitreisenden, vor allem der Kinder, zu erleichtern, indem sie Geschichten erzählte oder sie auch zum Singen animierte, manchmal mit mehr, manchmal mit geringerem Erfolg.
Umso erschreckender war für alle Verschleppten, als es eines Tages plötzlich ganz still um sie wurde. Kein Geräusch war mehr zu hören. Man hörte außer schmerzvollen Seufzern und dem Atmen der Gefangenen nicht viel. Die Welt oben an Deck schien zu warten. Aber worauf?
„Der Wind! Sie warten auf den Wind. Wir stehen inmitten einer Flaute.“
Spät am Nachmittag, durch die Flaute beunruhigt und auch um ihre Langeweile zu bekämpfen, begannen die Matrosen sich zu betrinken. Sie wurden laut, es gab ein Handgemenge, das man sich unter Deck nur durch die Kampfgeräusche vorstellen konnte. Ein Mann wurde auf dem Oberdeck ausgepeitscht. Seine Schmerzschreie fügten sich nahtlos an die der Sklaven. Spät am Abend kamen die Matrosen in ihr Gefängnis getorkelt, um holten sich eine junge Frau. Dann wurde jedem klar, dass es doch noch schlimmer kommen könnte. Jeder verdrängte die Gedanken an das Schlimmste. Jeder wusste, was gerade geschah. Ihr Schreien der Furcht blieb unbeantwortet. Sie hatten selber Angst, und jeder wurde sich seiner Scham gewahr. Aketime war froh, dass sie nicht zum Vergnügen der Matrosen ausgewählt wurde. Scham brannte sich in ihre Seele wie Feuer. Ihre Wut bekämpfte ihre Angst und verlor.
Die Flaute dauerte noch mehrere Tage an. Es waren merkwürdige Tage. Sie waren alle gezwungen, darüber zu grübeln, weshalb man eine solche Prüfung zu bestehen hatte. Aketime schwebte dauernd zwischen Angst und Glaube. Nur, es machte alles keinen Sinn. Sie nahmen in Ohnmacht alles hin, wie es kam. Aketime sorgte sich viel mehr um Orundo, weil sein Zustand sich erheblich zu verschlechtern schien.
Auch die Mädchen und die Jungen, die von den Matrosen Nacht für Nacht nach oben zum „Spielen“ geholt wurden, waren Grund genug für Aketime, sich zu sorgen. Sie kamen zurück, apathischer, melancholischer, verrückter, als sie schon zuvor waren. Jedes Mal wünschte sich Aketime irgendetwas tun zu können, aber was? Sie hatte noch nie solche Gefühle der Bedeutungslosigkeit erlebt. Waren die Schreie der Lust den schmerzvollen so ähnlich? Oder bildete sie sich das ein? Tag für Tag wurden die Opfer der Vergewaltigungen mehr und ließen Aketime erkennen, dass sie selbst bald an der Reihe sein musste. Umso mehr wuchs ihre Angst davor.
Was würde sie tun? Was taten diese Männer da oben? Sie sah die geschwollenen Münder und die blauen Flecken im Gesicht der Opfer, die bezeugten, wie brutal diese Matrosen die Gefangenen benutzten. Sie verglich in Gedanken, wie liebvoll ihre Einweihung in das Erwachsenenalter war, nachdem sie ihre ersten Blutungen gehabt hatte. Sie musste zwar die Tage der Blutungen allein in einer Hütte mit den anderen Mädchen verbringen, aber danach erlebte sie die Wollust mit einem älteren Mann ihrer Wahl. Damit war ihre Kindzeit vorbei und sie wurde ein angesehenes Mitglied des Frauenrates. Eine Candomblé Eingeweihte, die zukünftige „Mutter–der–Geister“. Mächtiger als jeder Mann. Der Mann war sehr zärtlich zu Aketime gewesen, und sie genoss an diesem gemeinsamen warmen Sommerabend ihren ersten Höhepunkt. Welche Freude war dieses Erlebnis gewesen. Die Wonne, zwischen Mann und Frau geteilt, wenn sie sich gegenseitig rücksichtsvoll verhielten.
Welch ein Unterschied zu den Erlebnissen dieser Mädchen hier. Von einem Fremden mit Gewalt gezwungen, etwas zu tun, was Mann und Frau nur freiwillig tun sollten. Es war für Aketime entsetzlich darüber nachzudenken.
Die Windflaute dauerte fast einen ganzen Monat. Aketime hoffte, als sie eines Tages aufwachte und den Wind in den Segeln hörte, sich dieses Vergewaltigungsschicksal zu ersparen. Sie spürte, wie das Schiff endlich wieder in Bewegung kam. Die Geschäftigkeit der Schiffsbesatzung über ihren Köpfen nahm wieder ihren gewohnten Lauf. Der Abend kam, und obwohl der Wind in einer stetigen Brise wehte, erkannten alle im Schiffsbauch, dass sich oben etwas geändert hatte. Die Matrosen betranken sich weiterhin. Sie spielten grob miteinander und amüsierten sich vorerst auf Kosten der Schiffsjungen. Doch es dauerte nicht lange, und schon kamen Matrosen unter Deck. Ihre ehemaligen Opfer versuchten, als sie die Gier in ihren Augen erkannten, sich tot zu stellen. Alle hatten große Angst.
Aketime verachtete diese Männer. Ihr Hass war so groß, er sprudelte förmlich aus ihr heraus. Wenn sie könnte, würde sie jeden einzelnen dieser Männer zusammenschlagen und ihm die Ohren abschneiden. Sicher nicht nur die Ohren. Sie würde alles klein zerhacken und den Fischen vorwerfen.
Die Männer bemerkten ihren hasserfüllten Blick, dieses Feuer, das aus ihren Augen leuchtete. So manchen von ihnen ängstigte dieser Blick, der soviel Kälte und Hass verströmte, doch sie überwanden ihre Angst und antworteten mit roher Gewalt. Sie packten Aketime und zerrten sie lachend an Deck.
Dieses „Spiel“ war einfach.
Aketime wehrte sich nicht. Es hatte ja doch keinen Sinn. Sie wollte endlich diese Furcht hinter sich bringen und sich nicht Tag für Tag quälen, ob und wann es passieren könnte. Vielleicht war die Realität weniger erschreckend als ihre Vorstellungskraft. Wie oft hatte sie darüber nachgedacht? Wie oft hatte sie sich ausgemalt, wie diese Männer sie mit Gewalt nahmen?
Wie oft hatte sie sich vorgestellt, wie sie diese Männer, einen nach dem anderen, umbringen, das Schiff kapern und alle Mitgefangenen befreien würde? Wie oft hatte sie enttäuscht erkennen müssen, dass dies alles nur in ihrer Vorstellung möglich war.
Die Männer waren viel kleiner als in ihren Alpträumen, aber nicht hässlicher. Sie gewann durch ihren Hass etwas Abstand. Während diese Männer sie an Armen und Beinen festhielten, und einer nach dem anderen über sie herfiel, benutzte Aketime ihren Hass wie eine Rüstung. Wieviel Positives würde in ihrem Leben geschehen, nach solchen Prüfungen! Sie klammerte sich an ihren Hass wie ein Schiffbrüchiger an eine Planke.
‚Das wird dich teuer zu stehen kommen, Exú! Das sollst du wissen!’, Aketime schrie ihren Zorn, ihre Wut und Ohnmacht laut aus sich heraus. So laut, damit Exú es hörte. Die Matrosen, durch ihre Schreie aufgestachelt, feuerten sich gegenseitig an. Sie dachten, Aketime schrie aus Angst. Das schürte ihre Wollust noch mehr.
In ihrer Not erkannte sie, dass diese Männer nur ihrem Körper Gewalt antun konnten, ihre Seele jedoch, ihr wahres Ich, blieb unbefleckt. Dieser Teil trieb ihre Wut an, Ohnmacht in Macht umzuwandeln. Sie hatte gelernt, mit Magie umzugehen. Sie musste sie jetzt einfach nur nutzen! Mit jedem Stoß beraubte Aketime die Matrosen ihrer Lebensenergie. Sie benutzte ihre eigene sexuelle Energie wie einen Schwamm. Die Matrosen erkannten nicht, dass sie diejenigen waren, die vergewaltigt wurden. Aketime beraubte sie ihrer Lebensenergie.
Nachdem sie sich befriedigt hatten, fühlten sie sich kraftlos und müde, und manche Schreie von Aketime waren eher kriegerisch als schmerzvoll. Als ihr das Spiel der Magie kein Vergnügen mehr bereitete, setze Aketime die angesammelte sexuelle Energie um. Sie blickte den Matrosen der Reihe nach genau in die Augen und ließ wie einen Schlangenbiss ihre Energie auf den letzten von ihnen, der an der Reihe war, los. Zur Belustigung seiner Kameraden bekam er keine Erektion.
Aketime verspottete ihn in ihrer eigenen Sprache. Nur ihre Zeichen waren den anderen verständlich.
Der Matrose, sichtlich durcheinander und erniedrigt, wollte nun allen seine Männlichkeit zeigen und verpasste Aketime einen Schlag ins Gesicht. Ihr rechtes Auge begann sofort zu bluten und sie konnte kaum noch sehen. Der Matrose zog sein Messer, und als er sich näherte, um sie zu erledigen, trat Aketime mit voller Wucht in seine Geschlechtsteile. Er fiel mit einem leisen Aufschrei zu Boden. Seine Schiffskameraden wussten nicht, ob sie lachen oder sich vereint auf Aketime stürzen sollten. Manche zogen ihre Messer. Ein riesiger schwarzer Matrose drängte sich vor und baute sich vor Aketime auf. Er schrie ihr Drohungen ins Gesicht, dass die Spucke flog, hob sie aber danach vorsichtig auf und trug sie aus dem Raum zurück in den Schiffsbauch. Die anderen Männer waren ermüdet und zu überrascht oder betrunken, um zu reagieren.
Auch Aketime überraschte es. Jemanden wie ihn, als freien Mann, als Matrosen, auf so einem Schiff arbeiten zu sehen, war völlig außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Wie konnte einer ihrer eigenen Rasse bei so etwas mitmachen? Wie konnte er die Versklavung ihres Volkes zulassen?
Als sie das Klicken ihrer Eisenketten hörte, ließ die Neugier ihre Zunge endlich frei.
„Wie heißt du?“
Der schwarze Matrose zögerte, senkte seinen Blick zu Boden und rang sichtlich innerlich aufgewühlt und zerrissen um Worte.
„Ich heiße Baga. Und ich weiß was du gerade denkst. Aber es ist besser, du vergisst das schnell wieder. Ich bin ein Sklave, so wie du. Ich darf da oben nur mein Leben riskieren, weil ich stark bin und ein anderer Matrose während meiner „Malungo“ Reise starb. So wurde ich gezwungen hier zu arbeiten. Während ihr bald wieder Festland sehen werdet, werde ich noch lange Jahre hier Gefangener sein.“
„Baga, schau dich hier um. Mach deine Augen auf. Das sind Kinder hier! Mein Freund dort stirbt gerade, weil keine Medizin vorhanden ist! Ha! Keine Medizin, kein Wasser, kein Essen, nichts außer Tod, Wahnsinn, Vergewaltigung und Krankheit. Du musst für uns etwas unternehmen.“ Aketime blickte ihn eindringlich an.
„Ich kann nichts für euch tun.“
Daraufhin drehte sich Baga um und verließ den Raum.

Orundo sah Aketimes geschundenen Körper und ihr geschwollenes Gesicht. Er fühlte sich elend, aber wie würde Aketime sich jetzt fühlen?
Orundo wusste es nicht. Sie war für ihn wie eine jüngere Schwester oder Tochter. Er liebte sie wie ein Vater. Er war ihr Beschützer fürs Leben. Er würde bereitwillig sein Leben für das ihre geben. Das, was diese Männer ihr angetan hatten, war unerträglich. Orundo brannte innerlich darauf, sie alle in seine Finger zu kriegen. Er brannte nicht aus Fieber, sondern aus Hass, aus gerechtem Zorn. Diese Wut würde seine Rettung sein. Er konnte unmöglich sein Leben aufgeben, solange Aketime hier war und selbst weiter kämpfte. Sie ging diesem schrecklichen Schicksal mit einer Würde entgegen, die Orundo nur von Erzählungen kannte. Sie war wie ein König der Legenden und Mythen, aber hier war sie und lebte auf diese Weise, direkt vor seinen Augen. Der ganze Dreck, der ihre lieblichen Gesichtzüge verdeckte, war nicht genug, um ihre Würde und ihren Mut vor Orundo zu verstecken. Er wurde seines eigenen Stolzes auf sie noch nie so bewusst wie in diesem einen Moment.
Er hasste diese Männer für das, was sie Aketime angetan hatten.
Er versprach sich insgeheim, alle diese Männer, einen nach dem anderen, zu töten. Zu Ogum, dem Orixá der Eisen, besiegelte er seinen Schwur mit einen Kuss auf die Ketten, die ihn gefangen hielten.
Spät am Abend des nächsten Tages, öffnete sich die Luke wieder. Alle warteten gespannt, wer diesmal zum Opfer gemacht werden würde. Anstatt dessen tauchte Baga wieder auf. Er trug ein Wasserfass mit sich. Er kam zu Aketime und streckte ihr zerstampfte Kräuter und Knoblauch entgegen.
„Das sollte deinem Freund helfen, diese Reise zu überleben. Lang kann es nicht mehr dauern, wir haben gerade das Äquatorfest gefeiert. Wenn der Kapitän nicht besoffen ist, traut sich keiner der Mannschaft mehr solche Spiele zu spielen. Bete nur zu deinen Orixás, dass es keine Windflaute mehr gibt. Dann ist alles nur mehr halb so schlimm.“ Ohne weitere Versprechungen ging Baga, der schwarze Matrose, wieder.
Aketime war ihren Göttern dankbar. War Baga der Grund, weshalb sie soviel über sich ergehen lassen musste?
Das Leben der Sklaven wurde mit der Hilfe dieses Mannes von nun an ein wenig erträglicher. Sie bekamen regelmäßiger zu essen und hatten gerade ausreichend zu trinken, um zu überleben. Immer, wenn es regnete, brachte Baga danach ein frisches Wasserfass hinunter.
Orundo ging es mit Bagas Kräutern langsam besser. Orundo war ein Krieger. Gewohnt, wie ein Löwe um sein Leben zu kämpfen. Langsam fing sein Fieber an zu sinken, seine Augen wurden klarer, und er fühlte sich besser. Sein Körper war noch schwach, aber er wusste, dass er überleben würde.

Ihre Reise kam zu Ende, so plötzlich, wie sie begann. Ein ferner Ruf, der Land ankündigte, die Vorbereitungen, die für das Einlaufen des Schiffes getroffen wurden, und endlich das Andocken mit lautem Getöse im Hafen der Kolonie. Da der Sklavenhändler sich die Steuern an die Krone ersparen wollte, gingen sie nicht gleich in Recife, dem Haupthafen, an Land, sondern steuerten ihr Schiff etwas südlicher in eine Bucht namens „Porto de Galinha“ – der Hühner-Hafen. Die Händler aus Pernambuco wussten, wenn es hieß: „Es sind Hühner aus Angola eingetroffen“, dass neue Sklaven in „Porto de Galinha“ angekommen waren. Sie wussten auch, dass sie hier Sklaven günstiger kaufen konnten. Es war ein wohlbekanntes Geheimnis.
Die Sklaven, angetrieben durch Peitschenhiebe, verließen so schnell ihre Ketten es zuließen, das Schiff. Ihre Hände als Schutz vor der Sonne vor die Augen haltend, atmeten sie gierig die erste frische Luft in Monaten. Es fühlte sich an, als hätte ihre Reise sehr lange gedauert. Zwei, drei Monate? Aketime schätzte diese Reise durch die Hölle auf Erden auf drei Monate.
‚Was wird jetzt passieren?’, dachte sich jeder, der noch bei Sinnen war.
Sie wurden in zwei Reihen aufgestellt. Die Stärksten unter ihnen mussten die Leichen aus dem Schiffsbauch tragen, die respektlos direkt am Strand in den Sand geworfen wurden. Riesige bläuliche Krebse mit einer einzigen großen Schere begannen gleich an den Leichen zu fressen. Manche der Matrosen fütterten gerne diese „Guaiamuns“, wie sie die Krebse nannten. Aketime ekelte beim Gedanken, dass diese Krebse auch gefangen, gekocht und verspeist wurden. Sie würde sich hüten, einen von denen jemals wieder zu essen. Schwarze geierartige Vögel und weiße Möwen gesellten sich dazu, um das gruselige Bankett zu genießen.
Aketime fühlte, wie ihre Kraft langsam schwand. Die Hitze stieg im Verlauf des Tages an, und sie fürchtete sich vor der Distanz des Weges, den sie zu gehen hatten. Zu ihrer größten Überraschung war ihr neues „Zuhause“ aber nicht weit von der Andockstelle entfernt. Gleich rechts nach der Straße, die zur Bucht führte, befand sich, in weißen Mauern erbaut, eine Farm. Dort gab es Kühe und sogar Schweine und Hühner zu sehen.
Sie wurden zuerst zum nahen Fluss getrieben und unsanft in das Wasser gestoßen, um sich zu waschen. Das Wasser war kalt und sehr erfrischend. Aketime weinte über dieses Gefühl. Das erste Mal durfte sie sich wieder reinigen, und obwohl die von Ketten verletzten Stellen auf ihrem Körper brannten wie der Teufel, war das Gefühl unvergleichlich. Sie sog dieses Moment der Frische und Klarheit gierig in sich ein. Sie trank das Wasser, in dem sie bis zu ihrem Bauch stand und pantschte. Danach trockneten sich die Gefangenen in der Sonne und bekamen leichte Bekleidung aus weicher Wolle, die ihren Oberkörper frei ließ. Dann brachte man sie erneut zur Farm, wo sie in ein unterirdisches Gefängnis getrieben wurden. Die Männer nannten diese Behausung „Senzala“. Allein der Eingang war einladend wie ein Grab. Ein dunkles Loch, in den Boden gegraben und verstärkt mit Putz und Lehm. Es war dunkel, dreckig und erdig, aber dafür angenehm kühl. Sie machten es sich auf dem nackten Boden bequem, und als die Tür verschlossen wurde, erlosch alles Licht. Ein Klagen ertönte in die Dunkelheit. Nach dem Erlebnis, wieder die Sonne zu spüren, im Fluss zu baden und sich zu reinigen, war es nicht leicht, wieder in einem finsteren Verlies zu verweilen. Aketime tastete die kühle nackte Erde mit ihren Händen, fühlte sich trotz allem geborgen und schlief ein. Sie war endlich angekommen. Sie hatte alle ihre Prüfungen bis jetzt überstanden. Ihr neues Leben würde hier beginnen. Was jetzt kam, konnte nicht schlimmer sein, oder?
 

Nimroc

Mitglied
oder so? Kritik erwünscht

Ein Schiff mit gefülltem Segel steuerte zu einen Versteckte Bucht. Ein ferner Ruf kündigte das Land an. Die Vorbereitungen für das Einlaufen des Schiffes wurden geschrieen, und das Andocken mit lautem Getöse im Hafen der brasilianischen Kolonie raubte den Möwen ihre Ruhe die sich laut beschwerten. Die Sklaven, angetrieben durch Peitschenhiebe, verließen so schnell ihre Ketten es zuließen, das Schiff. Ihre Hände als Schutz vor der Sonne vor die Augen haltend, atmeten sie gierig die erste frische Luft in Monaten. Sie wurden in zwei Reihen aufgestellt und an lange Hölzer zusammen gebunden. Die Stärksten unter ihnen mussten die Leichen aus dem Schiffsbauch tragen, die respektlos direkt am Strand in den Sand geworfen wurden. Riesige bläuliche Krebse mit einer einzigen großen Schere begannen gleich an den Leichen zu fressen. Schwarze geierartige Vögel und weiße Möwen gesellten sich dazu, um das gruselige Bankett zu genießen.
Die Hitze stieg im Verlauf des Tages an und sie fürchteten sich vor der Distanz des Weges, den sie zu gehen hatten. Sie wurden zuerst zum nahen Fluss getrieben und unsanft in das Wasser gestoßen, um sich zu waschen. Das Wasser war kalt und sehr erfrischend.
Aketime weinte über dieses Gefühl. Das erste Mal durfte sie sich wieder reinigen, und obwohl die von Ketten verletzten Stellen auf ihrem Körper brannten wie der Teufel, war das Gefühl unvergleichlich. Sie sog dieses Moment der Frische und Klarheit gierig in sich ein. Sie trank das Wasser, in dem sie bis zu ihrem Bauch stand und planschte. Später trockneten sich die Gefangenen in der Sonne und bekamen leichte Bekleidung aus weicher Wolle, die ihren Oberkörper frei ließ. Dann trieb man sie zur einen unterirdischen Gefängnis. Die Männer nannten diese Behausung „Senzala“. Der Eingang war einladend wie ein Grab. Ein dunkles Loch, in den Boden gegraben und verstärkt mit Putz und Lehm. Es war dunkel, dreckig und erdig, aber dafür angenehm kühl. Sie machten es sich auf dem nackten Boden bequem, und als die Tür verschlossen wurde, erlosch alles Licht.
Ein Klagen ertönte in die Dunkelheit. Nach dem Erlebnis der Versklavung und der Qual der Schiffsreise von Afrika nach Brasilien, wieder die Sonne zu spüren, im Fluss zu baden und sich zu reinigen, war es nicht leicht, wieder in einem finsteren Verlies zu verweilen. Aketime tastete die kühle nackte Erde mit ihren Händen. Sie hatte alle ihre Prüfungen bis jetzt überstanden. Ihr neues Leben würde hier beginnen. Sie war endlich angekommen. Was jetzt kam, konnte nicht schlimmer sein, oder?
Sie schlief trotz allem ein und träumte.

… Aketime rannte weiter. Sie lief kopflos in der Nacht hinein. Sie floh aus ihrem Dorf. Der Angriff kam ohne Vorwarnung und alle versuchten in den umliegenden Wäldern zu verschwinden. Die Schatten der Bäume und das Dunkel der Nacht machten jeden Schritt zu einem halsbrecherischen Manöver. Das Klopfen ihres Herzens erschwerte ihr Denken und sie verlor immer wieder die Orientierung. Sie kämpfte hart um jeden Atemzug. Aketime lief um ihr Leben.
Das Brennen in ihren Beinen verschlimmerte sich. Länger würde sie dieses Tempo nicht halten können. Sie suchte vergeblich nach einem Versteck, um sich zu erholen. Als sie stolperte, rammte sie ihren Fuß gegen einen Baumstumpf und fiel mit einem leisen Fluchen. Orundo, ihr Beschützer, half ihr hoch. Überflüssigerweise klopfte sie den Dreck von ihren Händen.
„Danke“, sagte Aketime. Orundos Augen dehnten sich aus, wie die einer Antilope, bevor sie losspringt. Ein Ruf, von Gelächter begleitet, kam aus dem Gebüsch. Er ließ sie los, stellte sich beschützend vor sie und schrie:
„Lauf! Versteck dich! Lauf, Aketime!“ Orundo brachte seine Hiebwaffe in Stellung.
„Hier sind sie!“, rief einer der drei weißen Männer, die bewaffnet auf die kleine Lichtung traten. Sie zückten ihren Säbel und kreisten Orundo langsam ein. Ihre Absicht war deutlich. Der Beschützer würde sich lieber töten lassen, bevor er sich ergab. Die verängstigte Antilope weidete durch Orundos Augen, und sie las den Todeswunsch in seinem Gesicht. Sie war den Tränen nahe, und schämte sich dafür, dass sie Angst hatte.
‚Bedränge nie ein verletztes Tier, es wird dich kratzen!’ Ein Messer blitzte in ihrer Hand. Sie drehte die Messerspitze nach oben, wie man es ihr beigebracht hatte. Sie vertraute der Schärfe des Messers. Aketime war trainiert zu töten und wollte sich mit ihrem Leben verteidigen.
Ein ekeliger Schweißgeruch stieg ihr in die Nase aber kam als Warnung zu spät. Eine kraftvolle Hand packte sie am Hals. Durch den festen Druck auf ihren Hals konnte Aketime nicht atmen und schnappte laut nach Luft. Aketime spürte den Drang ihren Kopf zu bewegen, aber der Griff um ihren Hals verhinderte es. Einer Messerspitze an ihrer Kehle ließ sie auf der Stelle erstarren. Sie war kurz davor Ohnmächtig zu werden. Sie fühlte kaum den Stichschmerz.
„Waffe fallen lassen!“, zischte die Stimme bedrohlich leise. Orundo ergab sich. Das Geräusch seiner fallenden Lanze klang so laut wie ein Trommelschlag.
Schnell fesselten die Männer Orundos Hände an seinem Nacken. Die weißen Männer lächelten, während sie Aketime in gleicher Weise schnürten. Mit dem gelegentlichen Stoß der Breitseiten der Säbel führte man sie zurück ins Dorf.
Sie erreichten den Ort des Massakers beim ersten Licht. Die Nebel zeigten sich hartnäckig an diesem Morgen. Ein unterdrückter und verzweifelter Schrei kündigte ihre Ankunft an. Sie schriee selbst. Ihr Atem geriet ins Stocken, und sie beruhigte sich mit ein paar tiefen Atemzügen. Die Bilder wie der Rauch stachen ihr in Auge. Das halbe Dorf war abgebrannt. Das Ausmaß der Verwüstung war enorm. Überall lagen Leichen. Viele der Einwohner lagen tot am Boden, Kinder, Frauen und Greise. Sie schloss ihre Augen, aber die Bilder der Toten verfolgten sie in Gedanken. Der Tod nahm heute für Aketime viele bekannte Gesichter, Gesichter, die sie liebte, erstarrt im Moment des Todes. Sie bezeugten den Schmerz und die Brutalität ihres letzten Augenblicks in dieser Welt. Das Entsetzen um den Raub ihres Lebens, gemalt in Blut. Sie konnte das Schluchzen nicht mehr zurückhalten und schrie ihren Schmerz frei. Ihr Klageton blieb nicht unbeantwortet. Das Wimmern, die Wut und die Verzweifelung widerhallten aus jeder Ecke des zerstörten Dorfes.
Die Stimme ihrer Mamuku rief sie aus ihrem Schock heraus.
„Mamuku? Wo bist du?“, schrie Aketime ihrer Mutter nach. Sie schüttelte sich von ihren Wächtern frei und kniete sich neben eine alte Frau, die auf dem Boden lag. Sie lag im Sterben, für jeden ersichtlich. Die sterbende Frau war für Aketime wie eine Mutter, ihre Mutter-im-Glauben, ihr Yalorixá gewesen. Blut blubberte aus ihrem Mundwinkel, und jeder Atemzug schwächte sie mehr. Aketime versuchte instinktiv ihre Arme um Mamuku zu legen, aber ihre Hände waren immer noch gebunden. Wut stieg in ihr hoch und ihr Körper bebte. Das Gefühl der Ohnmacht überfiel sie und sie weinte.
„Mamuku! Mamuku!“, rief sie verzweifelt.
Mamuku Lider flatterten. Das Leben verließ rasch den zerbrochenen Körper, und Blut gurgelte aus Mamukus Mund. Ihre letzten Worte kamen gequält aus ihr heraus.
„Aketime ... mein Licht ... du lebst ...“ „Ja, Mamuku, bitte, sprich nicht, alles wird wieder gut!“, flüsterte Aketime. „Aketime … ich verlasse dich nicht ... alle deine Ahnen sind bei dir ... ‚Ihr Geist wird im Körper schwächer.’ „Ruhig, Mamuku! Ruhig!“ Mamuku nahm einen kleinen Beutel und stopfte ihn in Aketime’ Gürtel. Sie starb kurz darauf mit einem entspannten Lächeln im Gesicht.
Einer der Männer zog Aketime grob auf ihre Füße. Unkontrollierte Wut explodierte in Bewegung. Sie nutzte den kräftigen Zug des Mannes und schmetterte ihren Kopf gegen seinen Kiefer. Er ging zu Boden. Ein lauter Knall hämmerte an ihre Ohren, und die Härte der Schläge war das einzige, was sie noch mitbekam. Alles, was dann geschah, erlebte sie wie in Trance. Als ob alles in weiche Watte gehüllt wäre. Alles erschien grell und gleichzeitig weich gezeichnet. Sie konnte kaum atmen. Alles klang zu laut in ihren Ohren, bis sie endlich in der Dunkelheit eines Schiffbauches erwachte.
Sie kannte solche Schiffe durch Händler, die ab und zu im Dorf vorbeikamen. Die Sklavenjäger benutzten kleine und überfüllte Fischerboote, die aus allen Fugen zu platzen drohten. Diesmal würde ihr Volk die Ware dieser Händler sein. Zusammengepfercht auf engstem Raum, konnte sie sich kaum bewegen, ihr Kopf tat höllisch weh und sie fühlte sich innerlich tot, begraben und vergessen.
Nach mehrere Stunden Fahrt legten sie in einem größeren Hafen an, jenseits des Flusses. Dort wurden sie abgeladen. Unfähig zu jeglichem Gefühl folgte sie widerstandslos den Anweisungen. Sie nahm das Geschehen um sich wahr wie in einem bösen Traum, den man zu vergessen sucht. Sie und alle anderen Gefangenen wurden zusammen getrieben und zum Hafen gebracht. Sie warteten lange Zeit in der Sonne sitzend auf irgendetwas. Die Geräuschkulisse der Hafenstadt Benin erfüllte alle Winkel. Fischerweiber rollten ihr Wagen herbei und priesen ihre Waren an. Emsige Matrosen verluden Gepäck aus ihren Schiffen. Der aufgewirbelte Staub, die Insekten, die man mit gefesselten Händen nicht verjagen konnte, und die angestaute Hitze des Nachmittags quälten sie. Der Durst trocknete ihre Lippen. Später wurden sie auf ein größeres Schiff geladen, in dessen Bauch gezwängt und angekettet. Das alles wurde zu einem einzigen Nebel in ihrem Kopf. Die Pumpe in ihren Ohren übertönte das Geschrei und den Schmerz um sie herum.
In diesem Schiffsbauch saßen bereits gefangene Bantos aus anderen Flussdörfern. Ein alles beherrschender Geruch überwältigte Aketime. Ein Geruch der Gefangenschaft, durchdrungen mit Gestank von Fäkalien, Schweiß, Krankheit, Angst, Tod und Salz. Die Gefangenen lebten schon lange in ihrem eigenen Kot. Das verzweifelte Gefühl, das sich in Aketimes Herz bohrte, war diesem Geruch sehr ähnlich. Ein lebendiger Ausdruck ihres Inneren. Sie müsste sich übergeben und den bitteren Geschmack haftete an ihr. Übermüdet, durstig, und im Schock versuchte sie zu schlafen …

… Exú lachte ihr ins Gesicht, mächtig in seinen Farben. Rot und Dunkelheit. Das Rot des Blutes war überall zu sehen, vermischt mit dem Dunkel der Gefühllosigkeit in ihrem Herzen und in der Magengrube. Er trug seine Hörner mit schrägem Humor zur Schau. Exú in voller Pracht.
’Was willst du wirklich von mir, Exú? Lass mich in Ruhe!’, stöhnte sie im Schlaf. Exú ließ ungern los. Sein spottendes Grinsen trieb sie zum Weinen. Die Gedanken an die Toten und Verlust kreisten in ihr Kopf herum. Alles, was sie kannte, gehörte jetzt der Vergangenheit an. Ihre Ausbildung zur „Mutter der Götter“, ihr Dorf, ihre Freunde ... Alles innerhalb eines Tages vernichtet. Sie weinte ihren Verlust hinaus, und je mehr sie weinte, desto mehr schien sich Exú darüber zu amüsieren. Der Orixábote beschnupperte ihr Zweifeln, streckte seine lange Zunge und trank aus ihr Tränen. ‚Köstlich!’

… Ihre Verzweiflung trieb sie aus dem Schlaf. Sie fühlte sich elend und klammerte sich daran wie ein Matrose bei hohem Seegang. Aketime stellte sich vor, wie dieses Schiff zu sein, frei dem Wind über die Wellen zu folgen, tänzelnd, erleichtert von allen Sorgen, wie ein Kind, das sein Spielzeug dem Wellengang des Strandes anvertraute. Um sie zu necken, begann sich das Schiff geduldig von rechts nach links zu schaukeln.
‚Wohin werden diese Männer mich und mein Volk bringen, Exú?’, sie bekam keine Antwort auf ihre Frage. War Exú nicht der Bote der Götter? Er war verpflichtet, ihre Fragen zu beantworten.
Doch er antwortete nicht. Exú wollte nicht reden. Wo verlor sie ihr Vertrauen an ihre Orixás? Sie spürte nur diese Leere. Dieser unbeschreibliche Verlust breitete sich wie ein Geschwür in ihrer Magengrube aus.
Sie massierte ihren Bauch, um diese Leere zu verbannen, und fand die kleine Tasche, die Mamuku ihr noch einsteckte bevor sie starb. Ein dünnes Lächeln der Sehnsucht breitete sich in ihrem Gesicht aus, als sie den kleinen Lederbeutel liebkoste, der den Ifá enthielt. Es war tatsächlich Mamukus Tasche, in der sie ihr Búzios Muschelspiel aufbewahrte und die weich vom häufigen Benutzen jetzt in ihren Händen lag. Die Ifá, das Orakel aus Muschel gemacht, wurde von Generation zu Generation der Yalorixás weitergereicht und diente dem Kontakt mit ihren Ahnen und Göttern. Exú wachte über das Spiel. Mamuku konsultierte ihr Orakel jeden Tag und warf die Búzios nach Antworten auf die Fragen ihres Kunden.. Sie trug diesen kleinen Beutel stets bei sich, wie ein Talisman.
‚In jeder Kurve oder Kreuzung deines Weges wartet dein Schicksal, dein Axé auf dich. Es gibt keinen Zufall, Aketime. Alles fällt dir zu! Du hast die Wahl selbst schon vor längerer Zeit getroffen!’
Mamukus tadelnde Stimme zu hören, auch wenn nur im Geist, war für Aketime wie der Anblick eines Regenbogens. Ihre Gesichtszüge erhellten sich. Wenn Mamukus Geist wirklich bei ihr weilte, würde sie ihr, Aketime, den richtigen Weg durch das Orakelspiel zeigen? Aketime öffnete den Beutel, nahm die Muscheln heraus und begann mit den Búzios zu spielen.
Sie klärte ihren Geist von aller Furcht und unnötigen Gedanken mit einem tiefen Atemzug so wie sie es gelernt hatte, und bat ihre Ahnen um Hilfe. Gespannt würfelte sie die erste „Welle“.
Nach einiger Zeit begann sie die Muster der Muscheln zu erkennen. Ihre Zukunft breitete sich vor Aketime aus wie ein Buch. Das Muschel-Orakel formte Bilder in ihrem Geist. Je öfter sie würfelte, desto mehr durchblickte sie den trügerischen Willen der Götter und Ahnen. Die Ergebnisse schockierten sie. Aketime, in Afrika geboren, um Königin zu sein, sie, die ihre Ausbildung genoss, um „Mutter-der-Götter“ zu werden, die so viele Männer haben könnte wie sie wollte, sie hatte einen Auftrag. Die Orixás brachten sie als Sklavin in neue Länder, um dort wieder Königin und Mutter-der-Götter zu werden. Die Orixás wollten dieses neue Land erobern, und Aketime war ihr Instrument dazu. Sie sollte dort dienen.
Die Prophezeiung, der Ifá, nahm ihren Lauf, und Aketime fühlte sich wie ein Blatt im Wind. Durch Gewalt aus ihrem Baum gerissen, geschüttelt und hin und her geworfen. Durch diesen Wind würde sie an einen neuen fruchtbaren Boden gebracht werden. Aketime müsste dort einen neuen Baum ihres Lebens pflanzen.
‚Der Wille meiner Ahnen!’, dachte sich Aketime.
Sie konnte hören, wie Exú über sie lachte. Die Zukunft sprach zu ihr. Sie musste nur genug Kraft besitzen und das Hier und Jetzt überleben! So waren die Spiele von Exú. Das Wissen über den Willen der Götter erleichterte ihr nicht, die Geschehnisse zu ertragen. Aketime war erst sechzehn Jahre alt. Sie weinte sich mit ihren letzten Tränen in den Schlaf …

… Von Schmerz erfülltes Weinen und Schreie rissen sie mit Gewalt aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie erwachte mit schmerzenden Gliedern. Die Ketten rieben unerträglich an ihren Knöcheln und Handgelenken. Ihre Lippen waren mittlerweile vor Durst geschwollen und aufgeplatzt. Sie stellte überrascht fest, dass sich zumindest ihre Kopfschmerzen gebessert hatten, da ihrer Körper sich über so viele andere Dinge beklagte.
Das Leben auf dem Schiff war geprägt von fremdartigen Geräuschen. Holz knirschte oder zerbarst, die Segel sangen mit dem Wind, die Matrosen riefen sich Kommandos zu oder sangen Lieder in unbekannten Sprachen. Es dauerte sehr lange, bis irgendeine Form der Verpflegung kam. Den Matrosen schien das Überleben der Sklaven nicht so wichtig zu sein. Einmal am Tag bekamen sie zu essen und zu trinken. Keiner wusste zu sagen, was sie hier aßen. Den Geschmack kannten sie nicht. Das Wenige, das sie erhielten, wurde verteilt. Manche der Gefangenen beäugten gierig ihren Anteil. Aketime zwang sich, so rasch, wie es ihr die Ketten erlaubten, zu essen.
Am Anfang lebte Aketime von einem Tag zum anderen. Je mehr sie das Zeitgefühl verlor, um so mehr trat ihr Hunger in den Vordergrund. Tage, vielleicht Monaten verstrichen, und Aketime fühlte sich körperlich immer schwächer. Die tägliche Essenszeit wurde langsam zum Mittelpunkt ihres Daseins. Schlafen, aufwachen, schlafen, essen, trinken, schlafen und bis zur nächsten Mahlzeit überleben. Ein Rhythmus, der seinen Platz fand. Monoton, und doch etwas, an das zu klammern es sich lohnte. Langsam füllte der fürchterliche Hunger alles aus und wich nie aus ihren Gedanken. Sie fühlte sich kraftlos und missbraucht, gezwungen, jeden Tag aufs Neue zu beginnen.
Das Leben auf dem Schiff wurde nicht leichter, sondern von Tag zu Tag schwieriger. Das Mangel an Essen und Wasser und der feuchte, dreckige, von menschlichen Ausdünstungen gefüllte Schiffsbauch war Quelle für viele Krankheiten. Manche der Älteren und Schwachen trieb die Hoffnungslosigkeit in den Wahnsinn. Das Schmerzen der Gliedmaßen, die kleinen Abschürfungen, die sich sofort entzündeten und eitrig wurden, zerrte ständig an den verbliebenen Kräften der Gefangenen.
Eines Tages bemerkte sie, dass sie so abgestumpft war, dass sie die Gerüche nicht mehr wahrnahm. Es wurde ihr nicht mehr bewusst. Kurz danach starben die Ersten von ihnen. Der Tod nahm zuerst die Älteren und die Jüngeren zu sich. Freunde, Familienmitglieder und zusammen gewürfelte Fremde mussten Tag für Tag mit ansehen, wie andere „Malungos“ in diesen Tagen der Reise ins neue Land ihr Leben aushauchten. Malungos, das Wort für die Verdammten in ihrer Sprache.
Wenn jemand starb, durchbrach dieses Ereignis die Monotonie des Tages. Erst nach Stunden kamen die Matrosen herunter und schleppten die Leiche hoch auf das Deck. Später hörte man etwas ins Wasser platschen. Die Augen der Gefangenen spiegelten ihre verzweifelten Gedanken: „Danke, meinen Ahnen, dass ich noch am Leben bin“, sagte ein Unbekannter.
“Dies ist das Schiff der Untoten! Das Schiff der Verdammten, das mich in die Unterwelt bringen soll!“, schrie ein Anderer.
„Dies ist das Schiff der Malungos, der Verdammten!“, schrieen so manche ohne Hoffnung zu den Wänden, die ihnen sowieso kein Gehör schenkten.

Die Schwäche ihres Körpers schien jedoch Aketimes Geist zu klären. Visionen holten sie in eine andere Welt. Sie sah ihr Dorf, bevor es zum Angriff kam. Mamuku erklärte ihr manches über das Feuer, Wasser, Erde, und Himmel. Und über das Land der Geister und ihrer Ahnen. Mamuku erzählte, wie Gott den Orixás befahl, Teile der Erde zu regieren. Die kräftige Stimme Mamukus erfüllte Aketime mit Freude und hinterließ sie in nostalgischen Träumen. Diese etwas dicke, gedrungene, bunt gekleidete alte Frau diente ihr als Mamuku, ihre Mutter in der Spirituellen Welt. Sie erzählte ihr, wie Gott den Orixás Aufgaben zuteilte.
„Die Orixás sollten der Menschheit zeigen, auf welche Art und Weise sie überleben sollen“, lehrte Mamuku sie in ihrer liebevollen Art.
„Aber Mamuku, ist diese Aufgabe nicht erledigt?“, fragte Aketime. Selbst in ihren Ohren klang ihre kindliche Stimme fremdartig. „Wir überleben doch!“
Mamuku lachte und sagte: „Gewiss, mein Kind, aber die Orixás begleiten uns noch weiter. Damit du das verstehen kannst, benötigst du das Wissen über die verschiedenen Welten. Sie sind alle miteinander verbunden und trotzdem können sie getrennt gesehen werden.“ „Welche Welten Mamuku?“
„Alle anderen Welten, Aketime. Die schnelle und die langsame, die dichte und die luftige, die pflanzliche oder erdige, selbst die der Untoten oder die der Geister.“ „Als du geboren wurdest,Aketime, standen dir gleich drei Orixás zur Seite, und diese begleiten dich dein Leben lang weiter. Der Erste ist mit deinem Körper verbunden. Er hilft dir deinen Charakter zu entwickeln, deine Körperkraft zu steigern, und deine Verbindung zum anderen Geschlecht aufzubauen. Der zweite Orixá ist dein Geist, er gibt dir deine eigene Identität. Dein Axé.
Der dritte Orixá ist dein Gottesfunke, deine Seele. Du trägst ihn in dir. Jeder trägt diesen Funken mit sich. Er scheint sehr hell. Er lenkt dein Schicksal,, und führt dich durch deinen Weg zur Erleuchtung, auch Axé genannt!“ Aketime, sah, hörte, und fühlte diese ewigen Wahrheiten in ihrem Herzen, ohne daran zu zweifeln. Ihr Gefühl von Stärke und Geborgenheit wurde in diesem Moment allmächtig. Ungewollte Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie erwachte aus ihrem Traum, denn Orundo schüttelte sie. Sie stöhnte leise, öffnete die Augen und sah Orundo vor sich knien. Er sah schrecklich aus. Seine Augen brannten in Feuer. Sie legte ihre Hand auf seine Stirn und spürte, wie Orundo sich heiß anfühlte. Seine Stimme war sehr schwach. Er hatte viel Gewicht verloren. Der muskulöse Mann war zur Hälfte seines Körpers geschrumpft. „Du hast im Schlaf gesprochen“, sagte er. Aketime wurde erst jetzt bewusst, dass viele der Gefangenen sie anstarrten. Die Augen ihres Volkes waren, seit sie im Bauch des Schiffes gefangen waren, dunkel und traurig geworden. Der Traum mit Mamuku öffnete ihre Augen erneut für ihre Umwelt und ihre Mitmenschen. Wo waren ihr Mut, ihre Würde und Freude geblieben?
Sahen sie in Aketimes Augen jetzt ebenfalls die Angst widergespiegelt? „Orundo, ich sprach in meinem Traum mit Mamuku. Sie erzählte mir vieles über die Götter und unsere Ahnen. Es war wunderschön.“ Husten schüttelte Orundos Körper, bevor er antworten konnte. „Ah, hätte doch ich auch solche Träume“, flüsterte Orundo leise zu Aketime. „Alles, was ich denken kann, ist: weiteratmen und weiter essen. Aketime, wie lang werden wir das noch ertragen können? Wie lange sind wir schon hier drinnen? Eingekerkert wie Tiere, die in ihrem eigenen Dreck schlafen müssen. Ich kann das alles nicht länger ertragen.“ „Gib die Hoffnung nicht auf, Orundo! Ich brauche dich! Es kann nicht mehr lange dauern, bis wir unser Ziel erreichen. Halte bitte durch!“ Aketime merkte, dass mehrere der Mitgefangenen ebenfalls Husten hatten. Wenn sie alle das hier überlebten, wäre das wirklich ein Wunder. Sie hatte selbst wenig Kraft. Alle bewegten sich nur noch sparsam, langsam. Menschen mit glasigen Augen, aller Hoffnung und Richtung beraubt. Auch die Essensverteilung verlief anders, manche verweigerten das Essen. Sie beschloss, dass die Zeit reif für Geschichten und Gesang war. Mamukus Geschichten hatten Aketime stets geholfen.
‚Wer singt, verjagt seinen Ängste!’, Aketime begann leise zu singen: „É Babà Ojê ôô é é Rué É Babà Ojê ôô é é Rué È Guni Guni É Babà Ojê ôô é é Rué È Guni Guni“ „Oxalufan Oxá Babá Oxalá Salufan Sabará e Sagrian“ Als Aketime die zweite Strophe wiederholte, stimmten mehrere Stimmen mit ein. Sie klangen schwach, aber man fühlte noch einen Funken Hoffnung darin. „É Babà Ojê ôô é é Rué É Babà Ojê ôô é é Rué È Guni Guni É Babà Ojê ôô é é Rué È Guni Guni“ „Oxalufan Oxá Babá Oxalá Salufan Sabará e Sagrian“ Aketime fühlte sich etwas besser nachdem Gesang.
“Wieso singst du diese Melodie?“, fragte ein Mann, den Aketime nicht kannte.
Sie erzählte über ihren Traum und über die Prophezeiung, die sie durch das Búzios-Spiel gesehen hatte. Sie erzählte über ihre Ausbildung zur „Mutter-der-Geister“. Der Mann lachte sarkastisch.
„Träume weiter, liebliche Aketime, viel mehr bleibt uns nicht mehr übrig ...“ Aketime entgegnete verärgert:
„ Ist Oxalá nicht der Orixá, der den Menschen in die Nase atmete und sie alle zum Leben erweckte? Ohne Oxalá wären wir alle nur Puppen aus Lehm. Er gab uns Leben und Vielfalt. Oxalá gab uns die Fähigkeit, uns zu vermehren und das Leben zu genießen. Wenn ich um mich schaue, sehe ich nur Tote. Ihr lebt nicht mehr. Ihr verleugnet den Oxalá in euch. Ihr habt eure Hoffnung verloren." Der Mann lachte gequält und gab seiner Hoffnungslosigkeit Ausdruck, indem er seine Ketten schüttelte. „Welche Hoffnung können wir hiermit noch haben? Wir sind im Bauch eines Schiffes, das uns irgendwohin verschleppt. Wir schlafen in unserem eigenen Kot!“, entgegnete er wütend. Alle um ihn herum nickten. Sie gaben dem Mann Recht. „Wie heißt du, mein Freund?“
“Oxaguianketu, ist mein Name“, antwortete er. „Oxaguianketu, ein wahrer Kriegername.“ Aketime legte ihre Hand auf Oxanguianketus Schulter und lächelte ihn an. „So wie du mich bekriegst, mein Freund, so solltest du die da oben, die uns entführt haben, bekriegen. Diese Wut und das Feuer, das ich in dir entfache, dieses Feuer gab dir Oxalá. Richte es auf die da oben, die unser Volk in Ketten legen. Solange es dauern mag, solange sie uns gefangen halten, solange werden auch wir nicht aufgeben. Das Feuer muss brennen. Das Feuer muss bleiben. Wo Leben ist, gibt es auch Hoffnung! Wer keine Hoffnung hat, ist schon verloren! Das ist die Wille der Götter!“, sagte Aketime.

Aketime versuchte danach ihr Schicksal und das ihrer Mitreisenden, vor allem der Kinder, zu erleichtern, indem sie Geschichten erzählte oder sie auch zum Singen animierte, manchmal mit mehr, manchmal mit geringerem Erfolg.
Umso erschreckender war für alle Verschleppten, als es eines Tages plötzlich ganz still um sie wurde. Kein Geräusch war mehr zu hören. Man hörte außer schmerzvollen Seufzern und dem Atmen der Gefangenen nicht viel. Die Welt oben an Deck schien zu warten. Aber worauf?
„Der Wind! Sie warten auf den Wind. Wir stehen inmitten einer Flaute.“
Spät am Nachmittag, durch die Flaute beunruhigt und auch um ihre Langeweile zu bekämpfen, begannen die Matrosen sich zu betrinken. Sie wurden laut, es gab ein Handgemenge, das man sich unter Deck nur durch die Kampfgeräusche vorstellen konnte. Ein Mann wurde auf dem Oberdeck ausgepeitscht. Seine Schmerzschreie fügten sich nahtlos an die der Sklaven. Spät am Abend kamen die Matrosen in ihr Gefängnis getorkelt, um holten sich eine junge Frau. Dann wurde jedem klar, dass es doch noch schlimmer kommen könnte. Jeder verdrängte die Gedanken an das Schlimmste. Jeder wusste, was gerade geschah. Ihr Schreien der Furcht blieb unbeantwortet. Sie hatten selber Angst, und jeder wurde sich seiner Scham gewahr. Aketime war froh, dass sie nicht zum Vergnügen der Matrosen ausgewählt wurde. Scham brannte sich in ihre Seele wie Feuer. Ihre Wut bekämpfte ihre Angst und verlor.
Die Flaute dauerte noch mehrere Tage an. Es waren merkwürdige Tage. Sie waren alle gezwungen, darüber zu grübeln, weshalb man eine solche Prüfung zu bestehen hatte. Aketime schwebte dauernd zwischen Angst und Glaube. Nur, es machte alles keinen Sinn. Sie nahmen in Ohnmacht alles hin, wie es kam. Aketime sorgte sich viel mehr um Orundo, weil sein Zustand sich erheblich zu verschlechtern schien.
Auch die Mädchen und die Jungen, die von den Matrosen Nacht für Nacht nach oben zum „Spielen“ geholt wurden, waren Grund genug für Aketime, sich zu sorgen. Sie kamen zurück, apathischer, melancholischer, verrückter, als sie schon zuvor waren. Jedes Mal wünschte sich Aketime irgendetwas tun zu können, aber was? Sie hatte noch nie solche Gefühle der Bedeutungslosigkeit erlebt. Waren die Schreie der Lust den schmerzvollen so ähnlich? Oder bildete sie sich das ein? Tag für Tag wurden die Opfer der Vergewaltigungen mehr und ließen Aketime befürchten, dass sie selbst bald an der Reihe sein musste. Umso mehr wuchs ihre Angst davor.
Was würde sie tun? Was taten diese Männer da oben? Sie sah die geschwollenen Münder und die blauen Flecken im Gesicht der Opfer, die bezeugten, wie brutal diese Matrosen die Gefangenen benutzten. Sie verglich in Gedanken, wie liebvoll ihre Einweihung in das Erwachsenenalter war, nachdem sie ihre ersten Blutungen gehabt hatte. Sie musste zwar die Tage der Blutungen allein in einer Hütte mit den anderen Mädchen verbringen, aber danach erlebte sie die Wollust mit einem älteren Mann ihrer Wahl. Damit war ihre Kindzeit vorbei und sie wurde ein angesehenes Mitglied des Frauenrates. Eine Candomblé Eingeweihte, die zukünftige „Mutter–der–Geister“. Mächtiger als jeder Mann. Der Mann war sehr zärtlich zu Aketime gewesen, und sie genoss an diesem gemeinsamen warmen Sommerabend ihren ersten Höhepunkt. Welche Freude war dieses Erlebnis gewesen. Die Wonne, zwischen Mann und Frau geteilt, wenn sie sich gegenseitig rücksichtsvoll verhielten.
Welch ein Unterschied zu den Erlebnissen dieser Mädchen hier. Von einem Fremden mit Gewalt gezwungen, etwas zu tun, was Mann und Frau nur freiwillig tun sollten. Es war für Aketime entsetzlich darüber nachzudenken.
Die Windflaute dauerte fast einen ganzen Monat. Aketime hoffte, als sie eines Tages aufwachte und den Wind in den Segeln hörte, sich dieses Vergewaltigungsschicksal zu ersparen. Sie spürte, wie das Schiff endlich wieder in Bewegung kam. Die Geschäftigkeit der Schiffsbesatzung über ihren Köpfen nahm wieder ihren gewohnten Lauf. Der Abend kam, und obwohl der Wind in einer stetigen Brise wehte, erkannten alle im Schiffsbauch, dass sich oben etwas veränderte. Die Matrosen betranken sich weiterhin. Sie spielten grob miteinander und amüsierten sich vorerst auf Kosten der Schiffsjungen. Doch es dauerte nicht lange, und schon kamen Matrosen unter Deck. Ihre ehemaligen Opfer versuchten, als sie die Gier in ihren Augen erkannten, sich tot zu stellen. Vielleicht waren sie wirklich tot. Alle hatten große Angst.
Aketime verachtete diese Männer. Ihr Hass war mittlerweile so groß, dass es förmlich sprudelte aus ihr. Sie würde jeden einzelnen dieser Männer zusammenschlagen und ihm die Ohren abschneiden. Sicher nicht nur die Ohren. Sie würde alles klein zerhacken und den Fischen vorwerfen.
Der Hass leuchtete aus ihren Augen. Die Männer bemerkten ihren Blick und antworteten mit roher Gewalt. Sie packten Aketime und zerrten sie lachend an Deck. Dieses „Spiel“ war einfach.
Aketime wehrte sich nicht. Es hatte ja doch keinen Sinn. Sie wollte endlich diese Furcht hinter sich bringen und sich nicht Tag für Tag quälen, ob und wann es passieren könnte. Vielleicht war die Realität weniger erschreckend als ihre Vorstellungskraft. Wie oft hatte sie darüber nachgedacht? Wie oft hatte sie sich ausgemalt, wie diese Männer sie mit Gewalt nahmen?
Wie oft hatte sie sich vorgestellt, wie sie diese Männer, einen nach dem anderen, umbringen, das Schiff kapern und alle Mitgefangenen befreien würde? Wie oft hatte sie enttäuscht erkennen müssen, dass dies alles nur in ihrer Vorstellung möglich war.
Die Männer waren viel kleiner als in ihren Alpträumen. Sie gewann durch ihren Hass etwas Abstand. Während diese Männer sie an Armen und Beinen festhielten, und einer nach dem anderen über sie herfiel, benutzte Aketime ihren Hass wie eine Rüstung. Wieviel Positives würde in ihrem Leben geschehen, nach solchen Prüfungen! Sie klammerte sich an ihren Hass wie ein Schiffbrüchiger an eine Planke.
‚Das wird dich teuer zu stehen kommen, Exú! Das sollst du wissen!’, Aketime schrie ihren Zorn, ihre Wut und Ohnmacht laut aus sich heraus. So laut, damit Exú es hörte. Die Matrosen, durch ihre Schreie aufgestachelt, feuerten sich gegenseitig an. Sie dachten, Aketime schrie aus Angst. Das schürte ihre Wollust noch mehr.
In ihrer Not erkannte sie, dass diese Männer nur ihrem Körper Gewalt antun konnten, ihre Seele jedoch, ihr wahres Ich, blieb unbefleckt. Dieser Teil trieb ihre Wut an, Ohnmacht in Macht umzuwandeln. Sie bediente sich ihre Fähigkeiten als Mutter-der-Geheimnisse. Sie benutzte ihre eigene sexuelle Energie wie einen Schwamm und beraubte mit jedem Stoß die Männer ihrer Lebensenergie. Die Matrosen waren diejenigen die vergewaltigt wurden. Nachdem sie sich befriedigten, fühlten sie sich kraftlos und müde, und manche Schreie von Aketime waren eher kriegerisch als schmerzvoll. Sie setzte die angesammelte sexuelle Energie um. Sie blickte den Matrosen der Reihe nach und ließ wie einen Schlangenbiss ihre Energie auf einen von ihnen, der an der Reihe war, los. Zur Belustigung seiner Kameraden bekam er keine Erektion.
Aketime verspottete ihn in ihrer eigenen Sprache. Nur ihre Zeichen waren den anderen verständlich.
Der Matrose, sichtlich durcheinander und erniedrigt, verpasste Aketime einen Schlag ins Gesicht. Er wollte nun allen seine Männlichkeit zeigen. Ihr rechtes Auge begann sofort zu bluten und sie konnte kaum noch sehen. Der Matrose zog bedrohlich sein Messer. Es war unglaublich lang und spiegelte sich scharf im Licht. Als er sich näherte, um sie zu erledigen, trat Aketime mit voller Wucht in seine Geschlechtsteile. Er fiel mit einem leisen Aufschrei zu Boden. Seine Schiffskameraden wussten nicht, ob sie lachen oder sich vereint auf Aketime stürzen sollten. Manche zogen ihre Messer. Ein riesiger schwarzer Matrose drängte sich vor und baute sich vor Aketime auf. Er schrie ihr Drohungen ins Gesicht, dass die Spucke flog, hob sie aber danach vorsichtig auf und trug sie aus dem Raum zurück in den Schiffsbauch. Die anderen Männer waren ermüdet und zu überrascht oder betrunken, um zu reagieren.
Auch Aketime überraschte es. Jemanden wie ihn, als freien Mann, als Matrosen, auf so einem Schiff arbeiten zu sehen, war völlig außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Wie konnte einer ihrer eigenen Rasse bei so etwas mitmachen? Wie konnte er die Versklavung ihres Volkes zulassen?
Als sie das Klicken ihrer Eisenketten hörte, ließ die Neugier ihre Zunge endlich frei.
„Wie heißt du?“
Der schwarze Matrose zögerte, senkte seinen Blick zu Boden und rang sichtlich innerlich aufgewühlt und zerrissen um Worte.
„Ich heiße Baga. Und ich weiß was du gerade denkst. Aber es ist besser, du vergisst das schnell wieder. Ich bin ein Sklave, so wie du. Ich darf da oben nur mein Leben riskieren, weil ich stark bin und ein anderer Matrose während meiner „Malungo“ Reise starb. So wurde ich gezwungen hier zu arbeiten. Während ihr bald wieder Festland sehen werdet, werde ich noch lange Jahre hier Gefangener sein.“
„Baga, schau dich hier um. Mach deine Augen auf. Das sind Kinder hier! Mein Freund dort stirbt gerade, weil keine Medizin vorhanden ist! Ha! Keine Medizin, kein Wasser, kein Essen, nichts außer Tod, Wahnsinn, Vergewaltigung und Krankheit. Du musst für uns etwas unternehmen.“ Aketime blickte ihn eindringlich an.
„Ich kann nichts für euch tun.“
Daraufhin drehte sich Baga um und verließ den Raum.

Orundo sah Aketimes geschundenen Körper und ihr geschwollenes Gesicht. Er fühlte sich elend, aber wie würde Aketime sich jetzt fühlen?
Orundo wusste es nicht. Sie war für ihn wie eine jüngere Schwester oder Tochter. Er liebte sie wie ein Vater. Er war ihr Beschützer fürs Leben. Er würde bereitwillig sein Leben für das ihre geben. Das, was diese Männer ihr angetan hatten, war unerträglich. Orundo brannte innerlich darauf, sie alle in seine Finger zu kriegen. Er brannte nicht aus Fieber, sondern aus Hass, aus gerechtem Zorn. Diese Wut würde seine Rettung sein. Er konnte unmöglich sein Leben aufgeben, solange Aketime hier war und selbst weiter kämpfte. Sie ging diesem schrecklichen Schicksal mit einer Würde entgegen, die Orundo nur von Erzählungen kannte. Sie war wie ein König der Legenden und Mythen, aber hier war sie und lebte auf diese Weise, direkt vor seinen Augen. Der ganze Dreck, der ihre lieblichen Gesichtzüge verdeckte, war nicht genug, um ihre Würde und ihren Mut vor Orundo zu verstecken. Er wurde seines eigenen Stolzes auf sie noch nie so bewusst wie in diesem einen Moment.
Er hasste diese Männer für das, was sie Aketime angetan hatten. Er versprach sich insgeheim, alle diese Männer, einen nach dem anderen, zu töten. Zu Ogum, dem Orixá der Eisen, besiegelte er seinen Schwur mit einen Kuss auf die Ketten, die ihn gefangen hielten.
Spät am Abend des nächsten Tages, öffnete sich die Luke wieder. Alle warteten gespannt, wer diesmal zum Opfer gemacht werden würde. Anstatt dessen tauchte Baga wieder auf. Er trug ein Wasserfass mit sich. Er kam zu Aketime und streckte ihr zerstampfte Kräuter und Knoblauch entgegen.
„Das sollte deinem Freund helfen, diese Reise zu überleben. Lang kann es nicht mehr dauern, wir haben gerade das Äquatorfest gefeiert. Wenn der Kapitän nicht besoffen ist, traut sich keiner der Mannschaft mehr solche Spiele zu betreiben. Bete nur zu deinen Orixás, dass es keine Windflaute mehr gibt. Dann ist alles nur mehr halb so schlimm.“ Ohne weitere Versprechungen ging Baga, der schwarze Matrose, wieder. Aketime war ihren Göttern dankbar. War Baga der Grund, weshalb sie soviel über sich ergehen lassen musste?
Das Leben der Sklaven wurde mit der Hilfe dieses Mannes von nun an ein wenig erträglicher. Sie bekamen regelmäßiger zu essen und hatten gerade ausreichend zu trinken, um zu überleben. Immer, wenn es regnete, brachte Baga danach ein frisches Wasserfass hinunter.
Orundo ging es mit Bagas Kräutern langsam besser. Langsam fing sein Fieber an zu sinken, seine Augen wurden klarer, und er fühlte sich besser. Sein Körper war noch schwach, aber er wusste, dass er überleben würde. Orundo war ein Krieger. Gewohnt, wie ein Löwe um sein Leben zu kämpfen.

Ihre Reise kam zu Ende, so plötzlich, wie sie begann. Ein ferner Ruf, der Land ankündigte, die Vorbereitungen, die für das Einlaufen des Schiffes getroffen wurden, und das Andocken mit lautem Getöse im Hafen der Kolonie.
Da der Sklavenhändler sich die Steuern an die Krone ersparen wollte, gingen sie nicht gleich in Olinda, dem Haupthafen, an Land, sondern steuerten ihr Schiff etwas südlicher in eine Bucht namens „Porto de Galinha“ – der Hühner-Hafen. Bald würde den Ruf erhört werden: „Es sind Hühner aus Angola eingetroffen!“ Die Händler aus Pernambuco wussten dann, dass neue Sklaven in „Porto de Galinha“ angekommen waren. Sie wussten auch, dass sie hier Sklaven günstiger kaufen konnten. Es war ein wohlbekanntes Geheimnis.
 



 
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