Akte 4 - Verzeichnis

Viola

Mitglied
Akte 4 - Verzeichnis

Neonlichtkonturen
Gehirnkatheter gelegt
Zum selbsttätigen Buchstaben-Abfluss
Großes vermischt sich mit Kleinem
Medianhirnig
Silben ohne grünem Punkt
Recyclebar? Der Nächste bitte!
Auch die Konsonanten -
Kontaminiert...ach
Syntaxausfall
Kapillaren platzen -zettig auf
Lamellenregenschirm
Darunter kauern einzelne Vokale
Scharfes S mit stumpfer Waffe
Ausgesondert, exekutiert
Anämie der streikenden Stammzellen
Debiler Artikulierversuch
Epiphyse hängt am seidenen Faden
Träge Masse kopflastig
Brigaden an Leukozyten
Leiden an ss-Sucht
Rückenmark zerfressen - ausgehöhlt
Draußen Synapsensprachgewitter
oh, eine Oxymoron-Ausschüttung
Inspiration bitte an Kasse 5 anstellen
Ordnung muss sein!
Grammatik-Ticks
Strichcode unlesbar - und jetzt?
Zelebriertes commotio cerebri
Todesursache: Herzversagen

Viola Latter ©2001
 

Svalin

Mitglied
Sprachpathologie?

Hallo Viola

Invasive in-vivo-Diagnostik erkrankter Buchstaben mittels direkter Cerebralpunktion? Interessant ;-) Klingt zum Ende hin wie ein Sektionsbefund aus der Pathologie. Ich frage mich nur, wer in deinem Text woran krankt. Die Sprache am Menschen oder umgekehrt? Etwa eine medizinische Literaturkritik? Oder andersherum? Hm ... kann das nicht so eindeutig diagnostizieren ;-) Jedenfalls eine in der Wirkung für mich sehr interessante Verknüpfung von Aspekten aus dem Bereich der Sprache und Medizin. Hätte ich nicht tagtäglich damit zu tun, würde es mich vielleicht sogar befremden ;-)

Grüße Martin

P.S.: Fehlerteufelchen in Zeile 2: Gehirnkatheter und Zeile 11: Kapillaren.
 

Viola

Mitglied
dankeschön

Hallo Slavin,

danke fürs Aufmerksammachen, habs natürlich gleich geändert, bin eben nicht vom Fach ;-)

Gruß Vio
 

Viola

Mitglied
nochmal hallo, Martin

so, jetzt habe ich ein bißchen mehr Zeit, dir zu antworten. Das Gedicht soll, wie du richtig erkannt hast, wie ein Sektionsbericht in der Pathologie wirken. Das kritische Moment liegt im letzten Satz "Todesursache:Herzversagen"; denn viele Todesfälle werden aus Zeitnot oder Schlamperei mit der Diagnose Herzversagen abgekanzelt und zu den Akten gelegt. Deshalb auch der Titel; eben eine von vielen Akten, die durchnummeriert und nicht mal mehr mit dem Namen des Toten betitelt werden. Wie siehst du dieses Problem der Aufklärung und Aufdeckung als "Eingeweihter"?

Grüße aus Köln

Vio
 

Svalin

Mitglied
Zahlenspiele ?

Daß man auch nach dem Tod weiterhin eine von vielen Fallnummern in irgendwelchen Ämtern bleibt, verwundert mich nicht. Es ist ein generelles Problem der Formalisierung, das wir -sicher zu Recht- im günstigsten Fall als unpersönliche Behandlung wahrnehmen. Eine grundsätzliche Kritik in der Art "verwaltungstechnische Methodik vs. seelenloser Aktenbürokratie" wolltest du aber bestimmt nicht anstellen.
Ich denke, in diesem speziellen Fall tragen vor allem die Ärzte, die die Leichenschau durchführen, eine besondere Verantwortung, der sie offenbar nicht immer (oder häufig nicht) gerecht werden können. In der 1997 von der Gesellschaft für Rechtsmedizin veröffentlichten Studie "Fehlleistungen bei der Leichenschau", kamen die Autoren per Hochrechnung zu dem Schluss, dass jährlich in Deutschland etwa 18 000 nicht natürliche Todesfälle bei der ersten Leichenschau übersehen werden. ("Wie viele Morde bleiben unentdeckt?" - Medical Tribune) Zudem scheinen aber auch die strafverfolgenden Behörden in manchen Fällen "unpassende" Diagnosen wegen des zu erwartenden Arbeitsaufwandes kurzerhand umdeuten zu wollen. ("Wenn die Todesart der Polizei nicht passt" - Medical Tribune) Das war selbst mir neu und erschüttert mein ohnhein geringes Vertrauen in die Unwägbarkeiten menschlichen Handelns. Um die Toten mache ich mir dabei -ehrlich gesagt- weniger Sorgen. Dann stimmen halt Statistiken nicht oder das Prinzip >Gerechtigkeit< ist im Fall unentdeckter Morde verletzt. Leider relativiert sich dieses Prinzip schon zu Lebzeiten. Wer den momentanen Zustand des Gesundheitssystems kennt, weiß, daß die absolute Priorität nicht mehr dem Mensch gilt, sondern den durch ihn entstehenden Kosten. Er scheint also für immer in Zahlenspielen (Statistiken, Fallpauschalen, Kostenfaktoren) gefangen zu sein ... zurückgesetzt, verloren(?). Es liegt wohl an uns, das nicht allzusehr zu verinnerlichen ;-)

Grüße Martin
 



 
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