Akteneinsichten

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Gut dreissig muss er sein. Das Gesicht nicht mehr faltenlos. Helle verwaschene nicht gänzlich fleckenlose Sommerjeans. Ein Shirt mit der Aufschrift: Pubertät ist, wenn man aus Trotz jünger bleibt. Dunkle, sehr kurze Haare. Und eine Figur, die auf häufige Besuche im Fitness-Studio schließen lässt. Also im Grunde genommen überhaupt nicht ungewöhnlich…, wenn Toni nicht wäre.
Der, ein knopfäugiger Mops, den jener, sich zur Spätpubertät bekennende Mitdreissiger auf dem Arm vor seiner breiten Studio-Brust herträgt.
Frank Hahn zieht seinen etwas zu kurzen grauen Pullover über die graue Jeans herunter. Mit seinen 58 Jahren will er nur noch durch Unauffälligkeit auffallen. Auf dem Weg zum Büro im fünften Stockwerk des Jugendamts nimmt er sonst nicht den Fahrstuhl. Tut lieber was für seine Figur. Der Weg über das Treppenhaus ist nun einmal der sportlichere. Außerdem hasst er Enge, vor allem die, wenn mehrere Leute im Fahrstuhl sind.
Heute ist er zu spät. Und es steht auch nur ein Mann im Lift.
„Willst du den Knopf drücken. Oder soll Papi das machen?“
Der sportliche Enddreissiger nimmt Tonis Mops-Pfote und drückt sie behutsam gegen den Knopf neben dem Schild Fünfter Stock – Jugendamt. „Fein machst du das. Bald kannst du das bestimmt allein.“
Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung, und der dralle Hund jault zustimmend und legt seinen Kopf gegen die vom geöffneten Hemd frei gelegte unbehaarte (weil rasierte) Brust seines Herrchens. Das bringt ihm einen schmatzenden Kuss auf die faltenreiche Stirn ein, genau zwischen die steil aufgerichteten Ohren. Das kleinere, ein schwarzes, das andere weiß und knapp unter der Spitze leicht angeknickt.
Papi küsst bei der kurzen Fahrstuhlfahrt öfter, während Toni bei jedem Kuss die großen vorstehenden runden Augen schließt. Im dritten Stock steigt eine junge Frau zu, die einen Aktenordner unter ihrem sonnengebräuten Arm und ein für städtische Bedienstete äußerst tief ausgeschnittenes kurzärmeliges rotes Blüschen trägt.
„Ach, ist der niedlich.“ Mops-Papi nickt, küsst und schielt dabei nicht sonderlich unauffällig in den Ausschnitt, während die junge Schöne dem schwarz-weißen Hund vorsichtig den Rücken krault.
Frank Hahn, die Offenherzige, der er bisher noch nicht begegnete, und der Vater des Mopses verlassen im fünften Stock gemeinsam den Fahrstuhl.
Hahn geht Kopf schüttelnd schnurstracks in sein Büro, wirft die Aktentasche vor den Schreibtisch und drückt routinert auf den Knopf der Kaffeemaschine, die er startbereit mit Wasser und Kaffeepads am Tag zuvor verlassen hatte.
Kaum sitzt er auf seinem vom zuständigen Amtsarzt verschriebenen rückenfreundlichen Schreibtischstuhl, klopft es. Zögernd. Dann heftiger.
Franks knappes „Ja“ klingt wenig begeistert. Er ist es gewohnt, zu Arbeitsbeginn beim Kaffeetrinken ungestört die Tageszeitung zu lesen.
Die Bürotür öffnet sich spaltweit. Knopfäugig blickt Toni hinter der Tür hervor. Dann tritt breit und muskulös Tonis Papi in den Türrahmen.
„Bin ich hier richtig bei Herrn Hahn im Jugendamt?“ Er stutzt. „Ach, wir kennen uns ja schon aus dem Fahrstuhl. Zu ihrer jungen Kollegin wär ich zwar lieber gegangen, aber … .“
Frank Hahn stellt die Kaffeemaschine noch einmal ab.
„Mag sowieso keinen Kaffee. Bin Teetrinker....“, murmelt der Hundevater. „Aber haben sie zufällig ein bisschen Wasser für Toni?“
Unten in der hintersten Ecke des Büroschranks findet Frank Hahn einen großen alten Aschenbecher, stellt ihn auf den Boden und gießt ein wenig Stilles Wasser hinein. Eine Flasche davon steht immer im Schrank, falls Eltern mit durstigen Kindern kommen.
„Stilles Wasser mag er am liebsten. Is auch gesünder.“ freut sich Tonis Papi, setzt sich unaufgefordert an den kleinen Besprechungstisch und sieht Hahn erwartungsvoll an.
Der nimmt wieder hinter seinem breiten Schreibtisch Platz und fragt sehr höflich: „Und was kann ich sonst noch für Sie tun?“
„Für mich weniger. Eher für Toni.“
Frank Hahn blickt zu dem Mops hinab und der Hundepapi lacht. „Jaja, ich weiß schon, ich übertreibe es mit Toni ein wenig…“
Hahn nickt. „Hunde, die Kinder ersetzen müssen, sind keine glücklichen Tiere. Und Kinder, die wie Tiere behandelt werden, sind erst recht unglücklich.“
„Nein, nein, mein Toni soll es echt gut bei mir haben. Mit mir und meinem Vater war das nicht so pricklend.“ Er versucht zu lachen. „Aber eigentlich bin ich wegen der Akteneinsicht gekommen. Ich war als Kind öfter beim Jugendamt.“
Toni hört auf Wasser zu schlabbern, hockt sich vor seinen Papi und knurrt. Papi bückt sich lächelnd und krault ihn zwischen den Ohren. „Is gut Toni. Wissen Sie, mein Vater hat mich nie gestreichelt, aber wegen jeder Kleinigkeit geschlagen. Bei Toni wäre mir kürzlich fast die Hand ausgerutscht. Eigentlich bellt er nie. Aber da wollte er nicht mehr aufhören zu bellen und zu jaulen.“
Frank Hahn räuspert sich. „Also, Sie sind hier beim Jugendamt. Und für Tiere sind wir nun mal nicht zuständig. Was ist denn mit der Akteneinsicht. Haben Sie die beantragt?“
Tonis Papa sieht wütend auf. „Was denken Sie denn. Und Tiere und Menschen schlägt man nicht…! Sie als Jugendamtsmensch wissen doch, dass Erwachsene, die als Kinder geschlagen wurden, ihre eigenen Kinder auch wieder schlagen.“
Frank Hahn nickt und hebt abwehrend die Hände. „Wegen der Akteneinsicht muss ich zunächst bei der Registratur nachfragen.“
„Ich heiße übrigens Sebastian Bildner. Alle nennen mich Basti.“
Hahn nickt weiter, lehnt sich in seinem Stuhl zurück, als wolle er zu einem längeren Vortrag ausholen, greift zum Telefon und ruft in der Registratur an.
„Da kommt gleich eine Kollegin. Sie wird die Akte vorbeibringen.“
Jetzt hebt Sebastian Bildner abwehrend die Hände. „Auch wenn Sie mich jetzt am liebsten wegschicken würden, sagen Sie mir bitte noch schnell, ob ich es mir erlauben kann, mit meiner zukünftigen Frau Kinder zu bekommen. Und wird Toni dann nicht eifersüchtig?“
„Ach, wissen Sie. Wenn man erst Kinder hat, sieht vieles ganz anders aus.“
Sebstian bückt sich, nimmt Toni auf den Schoß, streichelt ihn, steht plötzlich auf, bedankt sich für den Rat und will das Büro verlassen.
Es klopft. Schon steht jene offenherzige Angestellte, mit der sie gemeinsam Fahrstuhl fuhren, mitten im Büro und schwenkt einen alten abgeschabten Aktenordner.
„Mein Gruppenleiter schickt mich. Soll die Akte Bildner vorbeibringen.“
Sofort setzt sich Tonis Papi wieder. „Meine Akte?“
Hahn nimmt die Akte und beginnt darin zu blättern. „Oh, hier ist sogar ein Foto von Ihnen. Als Kind. Und hier eines von Ihrem Rücken. Lauter blaue Flecken und Striemen.“
Die Offenherzige schüttelt entsetzt den Kopf. „Ich geh dann mal wieder!“
Basti Bildner springt auf. „Von mir aus können Sie gern bleiben, nicht war Toni?“ Der schnüffelt gerade an ihren roten Pumps. Sie bückt sich und streichelt den Mops.
Papi sieht den Beiden genüsslich zu. „Meinen Hund würde ich nie schlagen. Aber hätte ich Kinder…?“ Er blickt Frank Hahn an. „Sie haben mir sehr geholfen. Die Akte will ich gar nicht mehr sehen.“ Der jungen Kollegin Hahns tätschelt er die Schulter. „Und Sie haben mir natürlich auch geholfen.“
Toni jault leise. „Nene, mein Kleiner, du bist groß. Kannst schon selber laufen.“ Er hält ihm die Bürotür auf und Toni trollt sich. „Also dann, Tschüss. Und noch mal vielen Dank.“
Die junge Kollegin lächelt Frank Hahn an. „Haben Sie eigentlich Kinder, Herr Kollege?“
„Nicht mal `nen Hund. Aber es muss ja nicht unbedingt ein Mops sein.“
 
Gut dreissig muss er sein. Das Gesicht nicht mehr faltenlos. Helle verwaschene nicht gänzlich fleckenlose Sommerjeans. Ein Shirt mit der Aufschrift: Pubertät ist, wenn man aus Trotz jünger bleibt. Dunkle, sehr kurze Haare. Und eine Figur, die auf häufige Besuche im Fitness-Studio schließen lässt. Also im Grunde genommen überhaupt nicht ungewöhnlich…, wenn Toni nicht wäre.
Der, ein knopfäugiger Mops, den jener, sich zur Spätpubertät Bekennende auf dem Arm vor seiner breiten Studio-Brust herträgt.
Frank Hahn zieht seinen etwas zu kurzen grauen Pullover über die graue Jeans herunter. Mit seinen 58 Jahren will er nur noch durch Unauffälligkeit auffallen. Auf dem Weg zum Büro im fünften Stockwerk des Jugendamts nimmt er sonst nicht den Fahrstuhl. Tut lieber was für seine Figur. Der Weg über das Treppenhaus ist nun einmal der sportlichere. Außerdem hasst er Enge, vor allem die, wenn mehrere Leute im Fahrstuhl sind.
Heute ist er zu spät. Und es steht auch nur ein Mann im Lift.
„Willst du den Knopf drücken. Oder soll Papi das machen?“
Der sportliche Mitdreissiger nimmt Tonis Mops-Pfote und drückt sie behutsam gegen den Knopf neben dem Schild Fünfter Stock – Jugendamt. „Fein machst du das. Bald kannst du das bestimmt allein.“
Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung, und der dralle Hund jault zustimmend und legt seinen Kopf gegen die vom geöffneten Hemd frei gelegte unbehaarte (weil rasierte) Brust seines Herrchens. Das bringt ihm einen schmatzenden Kuss auf die faltenreiche Stirn ein, genau zwischen die steil aufgerichteten Ohren. Das kleinere, ein schwarzes, das andere weiß und knapp unter der Spitze leicht angeknickt.
Papi küsst bei der kurzen Fahrstuhlfahrt öfter, während Toni bei jedem Kuss die großen vorstehenden runden Augen schließt. Im dritten Stock steigt eine junge Frau zu, die einen Aktenordner unter ihrem sonnengebräuten Arm und ein für städtische Bedienstete äußerst tief ausgeschnittenes kurzärmeliges rotes Blüschen trägt.
„Ach, ist der niedlich.“ Mops-Papi nickt, küsst und schielt dabei nicht sonderlich unauffällig in den Ausschnitt, während die junge Schöne dem schwarz-weißen Hund vorsichtig den Rücken krault.
Im fünften Stock verlassen sie gemeinsam den Fahrstuhl.
Hahn geht Kopf schüttelnd schnurstracks in sein Büro, wirft die Aktentasche vor den Schreibtisch und drückt routinert auf den Knopf der Kaffeemaschine, die er startbereit mit Wasser und Kaffeepads am Tag zuvor verlassen hatte.
Kaum sitzt er auf seinem vom zuständigen Amtsarzt verschriebenen rückenfreundlichen Schreibtischstuhl, klopft es. Zögernd. Dann heftiger.
Franks knappes „Ja“ klingt wenig begeistert. Er ist es gewohnt, zu Arbeitsbeginn beim Kaffeetrinken ungestört die Tageszeitung zu lesen.
Die Bürotür öffnet sich spaltweit. Knopfäugig blickt Toni hinter der Tür hervor. Dann tritt breit und muskulös Tonis Papi in den Türrahmen.
„Bin ich hier richtig bei Herrn Hahn im Jugendamt?“ Er stutzt. „Ach, wir kennen uns ja schon aus dem Fahrstuhl. Zu ihrer jungen Kollegin wär ich zwar lieber gegangen, aber … .“
Frank Hahn stellt die Kaffeemaschine noch einmal ab.
„Mag sowieso keinen Kaffee. Bin Teetrinker....“, murmelt der Hundevater. „Aber haben sie zufällig ein bisschen Wasser für Toni?“
Unten in der hintersten Ecke des Büroschranks findet Frank Hahn einen großen alten Aschenbecher, stellt ihn auf den Boden und gießt ein wenig Stilles Wasser hinein. Eine Flasche davon steht immer im Schrank, falls Eltern mit durstigen Kindern kommen.
„Stilles Wasser mag er am liebsten. Is auch gesünder.“ freut sich Tonis Papi, setzt sich unaufgefordert an den kleinen Besprechungstisch und sieht Hahn erwartungsvoll an.
Der nimmt wieder hinter seinem breiten Schreibtisch Platz und fragt sehr höflich: „Und was kann ich sonst noch für Sie tun?“
„Für mich weniger. Eher für Toni.“
Frank Hahn blickt zu dem Mops hinab und der Hundepapi lacht. „Jaja, ich weiß schon, ich übertreibe es mit Toni ein wenig…“
Hahn nickt. „Hunde, die Kinder ersetzen müssen, sind keine glücklichen Tiere. Und Kinder, die wie Tiere behandelt werden, sind erst recht unglücklich.“
„Nein, nein, mein Toni soll es echt gut bei mir haben. Mit mir und meinem Vater war das nicht so prickelnd.“ Er versucht zu lachen. „Aber eigentlich bin ich wegen der Akteneinsicht gekommen. Ich war als Kind öfter beim Jugendamt.“
Toni hört auf Wasser zu schlabbern, hockt sich vor seinen Papi und knurrt. Papi bückt sich lächelnd und krault ihn zwischen den Ohren. „Is gut Toni. Wissen Sie, mein Vater hat mich nie gestreichelt. Bei Toni wäre mir kürzlich fast die Hand ausgerutscht. Eigentlich bellt er nie. Aber da wollte er nicht mehr aufhören zu bellen und zu jaulen.“
Frank Hahn räuspert sich. „Also, Sie sind hier beim Jugendamt. Für Tiere sind wir nun mal nicht zuständig. Was ist denn mit der Akteneinsicht. Haben Sie die beantragt?“
Tonis Papa sieht wütend auf. „Was denken Sie denn. Tiere und Menschen schlägt man nicht…! Sie als Jugendamtsmensch wissen doch, dass Erwachsene, die als Kinder geschlagen wurden, ihre eigenen Kinder auch wieder schlagen.“
Frank Hahn nickt und hebt abwehrend die Hände. „Wegen der Akteneinsicht muss ich zunächst bei der Registratur nachfragen.“
„Ich heiße übrigens Sebastian Bildner. Alle nennen mich Basti.“
Hahn nickt weiter, lehnt sich in seinem Stuhl zurück, als wolle er zu einem längeren Vortrag ausholen, greift zum Telefon und ruft in der Registratur an.
„Da kommt gleich eine Kollegin. Sie wird die Akte vorbeibringen.“
Jetzt hebt Sebastian Bildner abwehrend die Hände. „Auch wenn Sie mich jetzt am liebsten wegschicken würden, sagen Sie mir bitte noch schnell, ob ich es mir erlauben kann, mit meiner zukünftigen Frau Kinder zu bekommen. Und wird Toni dann nicht eifersüchtig?“
„Ach, wissen Sie. Wenn man erst Kinder hat, sieht vieles ganz anders aus.“
Sebstian bückt sich, nimmt Toni auf den Schoß, streichelt ihn, steht plötzlich auf, bedankt sich für den Rat und will das Büro verlassen.
Es klopft. Schon steht jene offenherzige Angestellte, mit der sie gemeinsam Fahrstuhl fuhren, mitten im Büro und schwenkt einen alten abgeschabten Aktenordner.
„Mein Gruppenleiter schickt mich. Soll die Akte Bildner vorbeibringen.“
Sofort setzt sich Tonis Papi wieder. „Meine Akte?“
Hahn nimmt die Akte und beginnt darin zu blättern. „Oh, hier ist sogar ein Foto von Ihnen. Als Kind. Und hier eines von Ihrem Rücken. Lauter blaue Flecken und Striemen.“
Die Offenherzige schüttelt entsetzt den Kopf. „Ich geh dann mal!“
Basti Bildner springt auf. „Von mir aus können Sie gern bleiben, nicht war Toni?“ Der schnüffelt gerade an ihren roten Pumps. Sie bückt sich und streichelt den Mops.
Papi sieht den Beiden genüsslich zu. „Meinen Hund würde ich nie schlagen. Aber hätte ich Kinder…?“ Er blickt Frank Hahn an. „Sie haben mir sehr geholfen. Die Akte will ich gar nicht mehr sehen.“
Toni jault leise. „Nene, mein Kleiner, du bist groß. Kannst schon selber laufen.“ Er hält ihm die Bürotür auf und Toni trollt sich. „Also dann, Tschüss. Und noch mal vielen Dank.“
Die junge Kollegin lächelt Frank Hahn an. „Haben Sie eigentlich Kinder, Herr Kollege?“
„Nicht mal `nen Hund.“
 
Gut dreissig muss er sein. Das Gesicht nicht mehr faltenlos. Helle verwaschene nicht gänzlich fleckenlose Sommerjeans. Ein Shirt mit der Aufschrift: Pubertät ist, wenn man aus Trotz jünger bleibt. Dunkle, sehr kurze Haare. Und eine Figur, die auf häufige Besuche im Fitness-Studio schließen lässt. Also im Grunde genommen überhaupt nicht ungewöhnlich…, wenn Toni nicht wäre.
Der, ein knopfäugiger Mops, den jener sich zur Spätpubertät Bekennende auf dem Arm vor seiner breiten Studio-Brust herträgt.
Frank Hahn zieht seinen etwas zu kurzen grauen Pullover über die graue Jeans herunter. Mit seinen 58 Jahren will er nur noch durch Unauffälligkeit auffallen. Auf dem Weg zum Büro im fünften Stockwerk des Jugendamts nimmt er sonst nicht den Fahrstuhl. Tut lieber was für seine Figur. Der Weg über das Treppenhaus ist nun einmal der sportlichere. Außerdem hasst er Enge, vor allem die, wenn mehrere Leute im Fahrstuhl sind.
Heute ist er zu spät. Und es steht nur ein Mann im Lift.
„Willst du den Knopf drücken. Oder soll Papi das machen?“
Der sportliche Mitdreissiger nimmt Tonis Mops-Pfote und drückt sie behutsam gegen den Knopf neben dem Schild Fünfter Stock – Jugendamt. „Fein machst du das. Bald kannst du das bestimmt allein.“
Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung, der dralle Hund jault zustimmend und legt seinen Kopf gegen die vom geöffneten Hemd frei gelegte unbehaarte (weil rasierte) Brust seines Herrchens. Das bringt ihm einen schmatzenden Kuss auf die faltenreiche Stirn ein, genau zwischen die steil aufgerichteten Ohren. Das kleinere, ein schwarzes, das andere weiß und knapp unter der Spitze leicht angeknickt.
Papi küsst bei der kurzen Fahrstuhlfahrt öfter, während Toni bei jedem Kuss die großen vorstehenden runden Augen schließt. Im dritten Stock steigt eine junge Frau zu, die einen Aktenordner unter ihrem sonnengebräuten Arm und ein für städtische Bedienstete äußerst tief ausgeschnittenes rotes Blüschen trägt.
„Ach, ist der niedlich.“ Mops-Papi nickt, küsst und schielt dabei nicht sonderlich unauffällig in den Ausschnitt, während die junge Schöne dem schwarz-weißen Hund vorsichtig den Rücken krault.
Im fünften Stock verlassen sie gemeinsam den Fahrstuhl.
Hahn geht Kopf schüttelnd schnurstracks in sein Büro, wirft die Aktentasche vor den Schreibtisch und drückt routinert auf den Knopf der Kaffeemaschine, die er startbereit mit Wasser und Kaffeepads am Tag zuvor verlassen hatte.
Kaum sitzt er auf seinem vom zuständigen Amtsarzt verschriebenen rückenfreundlichen Schreibtischstuhl, klopft es. Zögernd. Dann heftiger.
Franks knappes „Ja“ klingt wenig begeistert. Zu Arbeitsbeginn ist er es gewohnt, beim Kaffeetrinken ungestört die Tageszeitung zu lesen.
Die Bürotür öffnet sich spaltweit. Knopfäugig blickt Toni hinter der Tür hervor. Dann tritt breit und muskulös Tonis Papi in den Türrahmen.
„Bin ich hier richtig bei Herrn Hahn im Jugendamt?“ Er stutzt. „Ach, wir kennen uns ja schon aus dem Fahrstuhl.“
Frank Hahn stellt die Kaffeemaschine noch einmal ab.
„Mag sowieso keinen Kaffee. Bin Teetrinker....“, murmelt der Hundevater. „Aber haben sie zufällig ein bisschen Wasser für Toni?“
Unten in der hintersten Ecke des Büroschranks findet Frank Hahn einen alten Aschenbecher, stellt ihn auf den Boden und gießt ein wenig Stilles Wasser hinein. Eine Flasche davon steht immer im Schrank, falls Eltern mit durstigen Kindern kommen.
„Stilles Wasser mag er am liebsten. Is auch gesünder.“ freut sich Tonis Papi, setzt sich unaufgefordert an den kleinen Besprechungstisch und sieht Hahn erwartungsvoll an.
Der nimmt wieder hinter seinem breiten Schreibtisch Platz und fragt höflich: „Und was kann ich sonst noch für Sie tun?“
„Für mich weniger. Eher für Toni.“
Frank Hahn blickt zu dem Mops hinab und der Hundepapi lacht. „Jaja, ich weiß schon, ich übertreibe es mit ihm ein wenig…“
Hahn nickt. „Hunde, die Kinder ersetzen müssen, sind keine glücklichen Tiere. Und Kinder, die wie Tiere behandelt werden, sind erst recht unglücklich.“
„Nein, nein, mein Toni soll es echt gut bei mir haben. Mit mir und meinem Vater war das nicht so prickelnd.“ Er versucht zu lachen. „Und meine Mutter hat mich nur ausgetragen und danach nicht mehr in den Arm genommen. Aber eigentlich bin ich wegen der Akteneinsicht gekommen. Ich war als Kind öfter beim Jugendamt.“
Toni hört auf Wasser zu schlabbern, hockt sich vor Papi und knurrt. Papi bückt sich lächelnd und krault ihn zwischen den Ohren. „Is gut Toni. Wissen Sie, mein Vater hat mich nie gestreichelt. Bei Toni wäre mir kürzlich fast die Hand ausgerutscht. Eigentlich bellt er nie. Aber da wollte er nicht mehr aufhören zu bellen und zu jaulen.“
Frank Hahn räuspert sich. „Also, Sie sind hier beim Jugendamt. Für Tiere sind wir nicht zuständig. Was ist denn mit der Akteneinsicht. Haben Sie die beantragt?“
Tonis Papa sieht wütend auf. „Was denken Sie denn. Tiere und Menschen schlägt man nicht…! Sie als Jugendamtsmensch wissen doch, dass Erwachsene, die als Kinder geschlagen wurden, ihre eigenen Kinder auch wieder schlagen.“
Frank Hahn nickt und hebt abwehrend die Hände. „Wegen der Akteneinsicht muss ich zunächst bei der Registratur nachfragen.“
„Tun Sie das. Ich heiße übrigens Sebastian Bildner. Alle nennen mich Basti.“
Hahn lehnt sich in seinem Stuhl zurück, als wolle er zu einem längeren Vortrag ausholen, greift zum Telefon und ruft in der Registratur an.
„Da kommt gleich eine Kollegin. Sie wird die Akte vorbeibringen.“
Jetzt hebt Sebastian Bildner abwehrend die Hände. „Auch wenn Sie mich jetzt am liebsten wegschicken würden, sagen Sie mir bitte noch schnell, ob ich es mir erlauben kann, mit meiner zukünftigen Frau Kinder zu bekommen. Wird Toni dann nicht eifersüchtig?“
„Ach, wissen Sie. Wenn man erst Kinder hat, sieht vieles ganz anders aus.“
Sebstian bückt sich, nimmt Toni auf den Schoß, streichelt ihn, steht plötzlich auf, bedankt sich für den Rat und will das Büro verlassen.
Es klopft. Schon steht jene offenherzige Angestellte, mit der sie gemeinsam Fahrstuhl fuhren, mitten im Büro und schwenkt einen alten abgeschabten Aktenordner.
„Mein Gruppenleiter schickt mich. Soll die Akte Bildner vorbeibringen.“
Sofort setzt sich Tonis Papi wieder. „Meine Akte?“
Hahn nimmt die Akte und beginnt darin zu blättern. „Oh, hier ist sogar ein Foto von Ihnen. Als Kind. Und hier eines von Ihrem Rücken. Lauter blaue Flecken und Striemen.“
Die Offenherzige schüttelt entsetzt den Kopf. „Ich geh dann mal!“
Basti Bildner springt auf. „Von mir aus können Sie bleiben, nicht war Toni?“ Der schnüffelt gerade an ihren roten Pumps. Sie bückt sich und streichelt den Mops.
Papi sieht den Beiden genüsslich zu. „Meinen Hund würde ich nie schlagen. Aber hätte ich Kinder…?“ Er blickt Frank Hahn an. „Die Akte will ich gar nicht mehr sehen.“
Toni jault leise. „Nene, mein Kleiner, du bist groß. Kannst schon selber laufen.“ Er hält ihm die Bürotür auf und Toni trollt sich. „Also dann, Tschüss. Und noch mal vielen Dank.“

Die junge Kollegin lächelt Frank Hahn an. „Haben Sie eigentlich Kinder, Herr Kollege?“
„Nicht mal `nen Hund.“
 



 
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