Alice

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Pommel

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Regenvorhang, dachte Alice. Ein Regenvorhang hing über der Straße. An Fäden, die sie nicht greifen konnte, lief alles herab, machte alles naß. Nichts blieb trocken in ihren Gedanken. Sie rochen so schwer nach dem Auswaschen. Das Wasser rauschte gegen den Bordstein, die Reifen gluckerten in jeder Pfütze. Das Quietschen der Scheibenwischer konnte Alice nicht hören. Dafür sah sie ganz klar durch die angelaufenen Autoscheiben. Sie hatte nur eine Gestalt im Blickfeld. Wie damals, als sie in die Columbia Avenue einzogen, stand Mark im Garten, tropfnaß, und schaute ihrem Auto mit riesigen Augen nach. Die dicken schwarzen Ränder seiner Brille stachen aus dem blassen Sommersprossengesicht heraus, die dunklen Haare hingen in langen, nassen Strähnen. Und er hielt einen Gartenschlauch fest in seinen kleinen Händen, um die Blumen zu wässern. Als hätte Mark alles um sich herum vergessen, stand er in der Gartenpfütze und wässerte weiter, obwohl er selbst im Regen stand.
Dann blinzelte Alice in den nächsten Kleingarten hinein. Mr. Wilson ließ dort die Blitze und Gewitter zum Himmel aufsteigen. Sein Gesicht war unter der großen Metallmaske nicht zu sehen, aber die Blitze aus seiner Gewittermaschine spiegelten sich in seinen nassen Oberarmmuskeln. Als Alice mit ihren Eltern im Wagen vorbeifuhr, hielt er mit dem Blitzen inne, legte den Schleifer ab und schob die Schweißermaske hoch. Auch Mr. Wilson hatte sehen wollen, wer dort neu in Columbia Ave einziehen würde.
Alice schüttelte den Kopf, versuchte zu schreien. Wenigstens ihre Eltern müßten doch bemerken, daß sie schreckliche Schmerzen hatte. Das, was am Morgen so aus ihr herausgelaufen war, hatte fürchterlich gerochen. So bitter gallengelb, aber süßlich schwer nach Blut, schon überreif. Wenn Pfirsiche faulig werden, aber noch immer an den Bäumen hängen. Und Erbrochenes. Alice hatte das nicht so gewollt, es hätte so ohne Schmerzen gehen müssen, einfach nur einschlafen hatte sie gewollt. Ihr Kopf schwirrte, die Sirene am Wagen machte so furchtbaren Krach und in der Plastikmaske glaubte sie, nicht richtig Luft bekommen zu können.
Sie sprach den Pfleger an, in seiner schönen roten Uniform, doch der konnte ihre Sprache nicht verstehen.

Mama. Sie konnte sie nicht richtig sehen, weil sie so verschwommen war. Nur verschwommen. Schon als kleines Kind war sie immer so weit weg gewesen, so verschwommen und nie richtig da – und diese Berührung. Sie streichelte Alice die Handgelenke. Alice schrie, sie schlug um sich. Ich will sie nicht hier haben, ich will meinen Frieden haben, sie sollen nicht wieder diese Spritzen aufziehen, sie sollen nicht.
Eine Engelsschwester trat auf Alice zu, der weiße Kittel wie bei einem Schreiner. Ihr engelhaftes Lächeln hatte nichts von Gewalt, und Alice driftete weg, als sie den Hahn öffnete, der ihr kalt den Schlaf in die Kanüle pumpte. Sie hat sie nicht rausschlagen können, nichts brach auf, was so an Krusten an ihren Handgelenken klebte. Alice musste schlafen und warten.

Und Alice erzählte von einem Hasen. Vor dem Krankenhaus. Es war die Rede von Mark. Sie hatte mit Mark einen kleinen Hasen gehabt. Als Mark sie mit ein paar anderen Jungs aus der Siedlung zur Jagd mitgenommen hatte. Sie waren durch die Büsche geschlichen wie Indianer, durch das Dorngestrüpp, auf der Suche nach kleiner Beute. Alice hatte ihn erst gar nicht bemerkt. Ein kleiner Hase hatte sich unmerklich an ihre Fersen gehängt. Nur Mark bemerkte, dass sie zurückblieb und kam, um nach ihr zu sehen. Sie saß am Boden und streichelte den kleinen Hasen. Und Mark erklärte ihr, dass sie ihn nicht mit nach Hause nehmen könnte. So ein Hase brauchte doch seinen Auslauf, und in der Wohnung in der Columbia Ave wäre das ein Witz. Dann das Futter. Ob Alice wüsste, was ein Hase denn so braucht. Alice könnte gar nicht für den Hasen sorgen. Er würde nur unter Qualen verhungern, verenden. Alice ließ sich von Mark überzeugen. Nach ein paar zaghaften Versuchen, ihn davon zu jagen, hoppelte er davon. In die Richtung der anderen Jungs. Und sie stöberten den Hasen auf. Sie brüllten, bis der Hase in wilden Haken durchs Gestrüpp jagte. In wilder Panik. Dann ein Schrotschuss, bei dem Alice tief in die Eingeweide zusammenzuckt. Nur zerfetzte Reste blieben übrig.

Die Mutter war regelrecht ausgeflippt. „Wie konntest du Alice nur zur Jagd mitnehmen“, fauchte sie Mark an. Was da alles hätte passieren können. Und Alice bekam Mark lange nicht zu sehen. Sie erzählte, dass sie eingeschlossen wurde, in einem alten Gemäuer, das zum Teil schon eingestürzt gewesen war. Wie in einem Bombenkeller. Ihre Eltern sprachen über die Zukunft. „Was soll nur aus ihr werden?“

„Wenn wir überhaupt etwas werden.“ antwortete Alice Mark pessimistisch. Doch Alice hatte ihre Entscheidung getroffen. „Wenn wir etwas werden, ich müsste mich für einen hohen Regierungsbeamten entscheiden. Nur die Regierung kann nämlich entscheiden, weißt du?“ Und dabei schlug sie mit der Hacke lose Schaumstoffisolierungen von der Wand. Es war einmal ein ehemaliges Regierungsgebäude gewesen. „Nur dort kann ich entscheiden. Ich kann mit anderen nicht auf Dauer leben. Es ist die einzige Möglichkeit.“ Mark hatte nur einen entsetzten Blick, aber verstanden hatte er nicht. Damals.
Und Alice fiel in ein bodenloses Loch, tiefer und tiefer.

Und Alice träumte schließlich. Wieder Regen. Mark trug sie weg von der Columbia Ave. Er trug sie ohne Mühe. Trotz des angeschwollenen Bauches, trotz des zusätzlichen Gewichts. Weit weg von ihren Eltern. Und mit Alice würde er ein eigenes Heim aufbauen können. Ein eigenes Heim, mit ihren eigenen, gesunden Kindern. Und wie immer, sah sie ihn mit der dicken Hornbrille im Garten stehen, die Blumen wässern. Und Mr. Wilson blitzte immer noch im Vorgarten, und hob noch nicht einmal seine schwere Schweißerbrille hoch, um zu schauen, wohin Mark sie tragen würde. Und Alice lachte, lachte auf Marks Schultern, lachte beim Erzählen, lachte beim zu Bett Gehen, lachte, lachte, lachte.
Alice würde lange schlafen wollen. Sie hatte diese Geschichte oft erzählt. Bis sie endgültig aufgehört hatte zu lachen und eingeschlafen war.
 

Zefira

Mitglied
Hallo Pommel,

...fein, daß dieser Text hier gelandet ist. Ich habe schon in der Schreibwerkstatt bemerkt, wie gut er mir gefällt! Wunderbar einfühlsam, atmosphärisch dicht, vieldeutig; allein das kleine Stück mit dem Hasen ist ein Meisterwerk, aufwühlend und dabei ohne eine Spur von Rührseligkeit. - In diesem Zusammenhang eine winzigkleine Kritik vielleicht; mich stört das Wort "Nahrung" an dieser Stelle (ich habe den Text soeben zum drittenmal gelesen, da fiel es mir auf). Es klingt ein wenig nach Fachsprache aus dem Mund von Kindern. Vielleicht besser "Futter"?

Die Reihe von "Und-Sätzen" am Ende, die ich in der Schreibwerkstatt noch beanstandet hatte, stört mich jetzt nicht mehr. Es ist ja an dieser Stelle ein Bilderstrom, eine Traumvorstellung, alle Bilder des Eingangsabsatzes ziehen noch einmal gedrängt vorüber.

Wunderbar. Höchstwertung von mir :D. Hoffentlich findet die Geschichte hier viele Leser!

lG, Zefira
 

Pommel

Mitglied
Danke für das positive Feedback. Motiviert doch richtig, eine neue zu entwerfen. Den Punkt mit der Nahrung habe ich mir durch den Kopf gehen lassen und wie Du sehen kannst, geändert. Feilarbeiten.

Dann pack ich mal die grobe aus, damit bald was zu lesen gibt.
Gruß, Andy
 
A

Arno1808

Gast
Hallo Pommel,

Zefira hat eigentlich schon alles gesagt. Mir bleibt nur noch hinzuzufügen:

WOW!

Glückwunsch zu diesem Text! Ein wirklich gelungener Einstand in der Lupe.

Eine winzige Kleinigkeit:

Eine Engelsschwester trat auf Alice zu, der weiße Kittel wie bei einem Schreiner. Ihr engelhaftes Lächeln hat[blue]te[/blue] nichts von Gewalt...

Auch von mir: volle Punktzahl!

Gruß

Arno
 

Pommel

Mitglied
Vielen Dank für die Kleinigkeit. Das gehört wohl so zu den Dingen, die ich nach 1000 mal Lesen immer noch nicht sehe...

Danke auch für die Kritik. Wie gesagt, ich feile an der nächsten.
 
H

hoover

Gast
hallo pommel,

zefira hat mich nicht enttäuscht ... einer der besten texte, die ich hier bisher gelesen habe ... flüssig, tiefgehend, ein wirklich beeindruckender text.

grüßle
hoover
 



 
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