Alle Adler sind frei

mountainhope

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Es war wider erwarten ein schöner Tag geworden. Das Wetteramt hatte Regen und Sturm vorausgesagt. Doch die Sonnenstrahlen erwärmten die Luft auf über 20 Grad und Wind spürte man auch keinen.
Langsam liess ich mich und mein Gewehr in das frische Grün der frühlingsblühenden Wiese fallen, streckte alle Viere von mir und atmete tief durch. Ich saugte die frische, saubere Luft in mich hinein und ließ sie dort einige Sekunden auf meinen müden Körper wirken. Dabei schloss ich die Augen und spannte meine Muskeln bis fast zum Zerreißen an.

Es war friedlich.
Ich fühlte mich wie neu geboren, wie ein kleines Kind, das diese Welt gerade entdeckt. Wie ein ausgetrockneter Bach, durch den wieder frisches Wasser fließt.
Langsam öffnete ich die Augenlider ein Stück. Erst das Linke, dann auch das Rechte. Sie formten sich zu kleinen, schmalen Schlitzen. Langsam ließ ich mehr und mehr Sonnenlicht hindurch.
Direkt über mir breitete ein Adler seine Schwingen aus. Ohne mit den Flügeln zu schlagen trieb er im Aufwind dahin.
Er ist frei.

So frei wie ein Mensch, der auf einer Wiese mit einem Gewehr neben sich liegt und einen freien Adler beobachtet. Niemandem ist er eine Erklärung schuldig für etwas was er tut, tun wird oder getan hat.
Niemand sagt ihm: " Nimm´ diese Waffe und erschieß den, der gesagt hat alle Adler mit schwarzen Federn sind genauso gut wie die Adler mit weißen Federn. Denn alle Schwarzen stehlen uns nur die Luft zum fliegen und sind es nicht würdig im Aufwind frei durch die Luft zu schweben."
Aber alle wissen doch: "Alle Adler sind frei und gleich, ob sie schwarze, braune, rote, gelbe oder weiße Federn haben. Alle dürfen im gleichen Aufwind friedlich durch die Luft schweben. Genauso wie alle auf einer frühlingsblühenden Wiese liegen, frische Luft atmen, Muskeln zum Zerreißen spannen, sich wie neu geboren fühlen, langsam die Augenlider öffnen und das Licht hindurch lassen, einen Adler beobachten und sich frei fühlen können."

Maschinengewehrfeuer riss mich aus meinen Gedanken. Ich ertastete mein Gewehr, es war noch warm, nicht nur von der daraufscheinenden Sonne. Vorsichtig fasste ich es am Kolben und stand auf. Langsam ging ich in den Regenwald zurück und folgte meinen Kameraden, das Gewehr im Anschlag.

Bald darauf zogen dunkle Gewitterwolken auf. Es begann zu regnen und zu stürmen.
Der freie Adler war verschwunden.
 



 
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