Allem Anfang wohnt ein Zauber inne- modified

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Ingwer

Mitglied
Wenn etwas Neues beginnt, sprühen Funken. Fragen Sie Hebammen, frisch Verliebte oder Urknallforscher.
Doch auch am Ende des Kontinuums werden Unmengen von Energie frei, auch wenn die meisten Menschen dies nicht zu bemerken scheinen.
Am Ende, wenn sich der Kreislauf schließt, Lebendiges zu Totem und Offensichtliches unsichtbar wird, glüht die Luft. Für mich jedenfalls.
Wie in Mitternächten, in den der Tag zur Nacht und die Nacht zum Tag wird. Metarmorphosen sind spürbar.
Ich war immer empfänglich für die Energie des Todes. Empfindlicher und empfänglicher wohl, als viele andere Menschen. Und aus diesem Grund wurde ich NICHT Hebamme oder Urknallforscherin und verliebte mich nur äußerst selten und wenn, dann meistens so, dass eher am Ende als am Anfang Funken sprühten.
Ich wurde Leichenwäscherin.
Obwohl ich das Leben liebe, umgebe ich mich mit Toten und deren Energie.

"Kein einfacher Job, nein wirklich nicht"- Das sagen die Menschen, in deren Stimmen penetrantes Mitleid mitschwingt, ebenso wie der Leichengeruch, den sie in ihrer eigenen Nase zu spüren glauben.

"Und das als Frau- unvorstellbar"- und aus dem Mitleid wird eine Art perverse Bewunderung.
Ich nenne diese Stimmlage Unverständnis.
Mein Geschlecht jedenfalls stellt in diesem Beruf weder Hindernis noch Sprungbrett dar.
Frauen haben ebenso wie Männer zwei Hände, ein mehr oder weniger großes Talent, aus dem eigenen Rampenlicht zu schlüpfen und es den Toten zu überlassen, und, was am wichtigsten ist, keine Illusionen über den Tod.

Tod ist selten heroisch oder friedvoll.
Auch wenn nahe Verwandte den entfernt Bekannten meist vom sanften Entschlafen oder blutigem Märtyrertod des Verstorbenen berichten- unbestritten bleibt:
Tod ist schmutzig. Meistens auch peinlich.
Ungeachtet aller Mythen wird- in der Realität- viel aus Unachtsamkeit gestorben. Zufälle bilden Ketten und lassen den achtlosen Menschen stolpern.
Tode werden allerorten gestorben.
Weil Menschen stolpern und mit dem Kopf im Wasser landen- egal ob Toilette oder Planschbecken.
Weil Rattengift und Backpulver die gleiche Konsistenz haben und lieber weit voneinander entfernt verwahrt werden sollten.
Weil oberhalb der Drei-Promille-Grenze auch spazierengehen manchmal kein Spaziergang ist.
Weil ein schwachgerauchtes, fettgefressenes Herz keinem Edelnutten-Blow-Job mehr standhalten kann.

Eigentlich weiß man das, eigentlich.
Doch wie unausgesprochen verabredet glaubt man in der Leichenwäscherei den Geschichten der Angehörigen, die sie bedächtig und tränenrührig zum Besten geben. Man sagt nicht, dass man weiß. Man zerstört lieber nicht die Bollwerke der Illusion, die sie um ihren verletzlichsten Kern legen- denn sie haben Angst, ebenso lächerlich zu sterben.
Man nickt Hinterbliebenen zu, schüttelt fleißig Hände und kaschiert wortlos rote Nasen und von der Leichenstarre konservierte steife Penisse.

Hinter den Türen der Tragik erlebt man manchmal dann den zarten Schimmer der Komik.
DAS ist die Energie, die das Ende mit sich bringt.
Der Tod selbst verliert durch seine Alltäglichkeit für uns seine individuelle Bedrohlichkeit und verkocht immer mehr in einem flachen Topf zu einer sumpfigen Masse, getragen von der Einlage der Komik.
Man bleibt unbewegt gegen die Tragik des eigenen Lebens- und wenn schon Emotionen kommen, dann wenigstens Lachen.

Ich finde, es sollte nur Berufe geben, die das Leben erleichtern.
 
K

kaffeehausintellektuelle

Gast
liebe ingwer

am anfang hätte ich beinahe wieder aufgehört zu lesen.
das philosophieren über den tod und seine energie und das kontinuum und den tag und die nacht und kreislauf und metamorphosen anfang und ende schien mir ein bisschen zu platt. und zu lang. und ein bissl mystisch.

dann aber kam der satz: ich wurde leichenwäscherin.
und mit diesem satz hast du mich gefangengenommen und bis zum ende nicht wieder losgelassen.

lediglich ganz am ende war ich wieder ein bisschen enttäuscht, ohne zu sagen können warum. vielleicht, weil es dann wieder so abstrakt wurde und ich das konkrete lieber mag.
vielleicht weil du komische situationen erwähnst, ohne mir darüber zu erzählen.

und auch der letzte satz. wolltest du mir jetzt sagen, dass der beruf leichenwäscherin das leben erleichtert? oder das gegenteil?

ja, aber trotz dieser kleinen anmerkungen. die geschichte hat mich in ihren bann gezogen. und ich fand einige sehr schöne und ansprechende bilder und wortspiele darin, wie z.b.
Mein Geschlecht jedenfalls stellt in diesem Beruf weder Hindernis noch Sprungbrett dar. (das find ich schön, weil es vermittelt, dass man als leichenwäscherin karriere machen kann)
oder

Weil oberhalb der Drei-Promille-Grenze auch spazierengehen manchmal kein Spaziergang ist

ja, da hast du viel humor und ironie und sprachgefühl bewiesen.

gut gemacht!

die k.
 



 
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