Allerheiligen

Allerheiligen
Verfasst zum Literarischen Themensalon \"Halloween\"
Herbst 2001


Der menschliche Geist ist unergründlich in seinen Schattenseiten. Die Geheimnisse darob versuchen Philosophen und jene Wissenschaftler, die sich der Psyche verschrieben haben, seit Jahrhunderten zu entschlüsseln, und sind doch immer wieder an ihre eigenen Grenzen gelangt. Denn wie kann ein Mensch, dessen eigenes Wesen ihm mysteriös und verborgen ist, jene Abgründe verstehen, die den Geist eines anderen verschleiern? Dennoch werden Thesen erstellt, und inzwischen gibt es wie bei anderen Wissenschaften auch in der Psychologie Regeln, die uns die Illusion geben, eines anderen Wesen analysieren und verstehen zu können.
Ich selbst hatte mich mehrere Jahre mit jenen Richtlinien beschäftigt, hatte die Lehren von Freud und Jung als eine Offenbarung empfunden und war jedem in der irrigen Annahme begegnet, ich könne ihn in meiner nüchternen Abgeklärtheit besser Erfassen, als er selbst je in der Lage sein würde. Diese unschuldige Arroganz, mit der ich das Mysterium meiner Mitmenschen betrachtete, hatte mein eigenes Selbstbewußtsein derart gestärkt, daß ich mich für unbeirrbar hielt – hatte ich doch meine eigenen Abgründe ebenso objektiv analysiert und in Kategorien eingeteilt, daß mich die Ängste, die bis dahin mein Leben bestimmten, endlich verlassen hatten und ein neuer, starker Mensch aus meinen Augen blickte, die vorher unsicher und schwach in der Welt umhergeirrt waren.
Doch wie fragil sind die Lehren, denen wir unser ganzes Selbst anvertrauen. Wenn die Wissenschaft uns keine Antwort auf unsere Fragen mehr gibt, stürzt unser Weltbild gleich einem Kartenhaus ein, und zurück bleibt nur eine Ruine von dem, was wir als einen starken Menschen bezeichnen. Diese Erfahrung mußte ich selbst schmerzhaft machen, als ich mich auf jenen schmalen Grad begab, der den gesunden Geist von dem Wahnsinn trennt, der jeden von uns zu zerstören droht und der wie ein unsichtbarer Nemesis in jedem Menschen lauert, ohne daß es uns bewußt ist.

Zwei Jahre sind vergangen, seit dem ich mich auf den verhängnisvollen Weg begab, den ich bereits angedeutet habe. Ich hatte eine Studienreise durch England hinter mir: angefangen bei der Londoner Universität reiste ich durch Oxford, Cambridge und endete schließlich in Glasgow, wo ich feststellen mußte, daß mir all meine Kenntnisse der Englischen Sprache nicht dabei halfen, auch nur einen einzigen Schotten zu verstehen. So brach ich nach kurzer Zeit wieder auf und verkürzte meinen geplanten Aufenthalt in der Hafenstadt, deren graue Fabriken mich jeden Tag mit ihrem Anblick ein Stück weiter in eine trübe Stimmung stürzten, die vom anhaltenden Regen und den verwitterten Gesichtern auf den Straßen nur verstärkt wurde. Ich hatte mich entschlossen, als Ausgleich für meinen so kurzen Aufenthalt in Glasgow das Trinity College in Dublin zu besuchen, und als mich in den frühen Morgenstunden eine Droschke von Dun Lagoire, in die Stadt brachte, fühlte ich meine gewohnten Lebensgeister wieder aufleben.
Ich verbrachte drei Wochen in Dublin und fand alle Geschichten über die Irische Gastfreundschaft bestätigt. Es verging kein Abend, an dem mich nicht der eine oder andere Professor oder Student auf ein Ale in einen der unzähligen Pubs einlud, wo ich die Liebe der Iren zu ihrem Land kennenlernte und mich mehr und mehr davon begeistern ließ. Und so beschloß ich ein weiteres Mal, meine Reisepläne zu ändern um mehr von der grünen Insel zu sehen. Besonders hatten es mir die Geschichten über die Halbinsel Dingle in Kerry angetan, die sich südlich von Limerick an der Westküste Irlands in den Atlantischen Ozean erstreckte und an deren Ende Slea Head, der westlichste Punkt der Insel und damit Europas, lag. Nach einem herzlichen Abschied von meinen Gastgebern bestieg ich eine Postkutsche, die mich durch die Grafschaft Cork nach Kerry bringen sollte.

Je weiter ich in die ländlichen Gebiete Irlands vordrang, desto mehr umfing mich eine Ahnung nach etwas Unbegreiflichem, das seinen Ursprung in den kleinen Dörfern und ihren Bewohnern hatte. Es hatte den Anschein, als wäre der technische Fortschritt, der unser Leben in den großen Städten prägt und der für uns selbstverständlich ist, irgendwo in den grünen Hügeln und schroffen Klippen halt gemacht. Die Häuser, deren Mauern bestimmt seit über Hundert Jahren standen, wurden noch mit qualmenden Öllampen erhellt, und Automobile hatte ich seit Dublin nicht mehr zu sehen bekommen. Der kalte Oktober ließ die Bewohner jener Häuser allabendlich zuflucht am Feuer des örtlichen Pubs suchen (denn dieser fehlte in keiner Ortschaft), wo je nach der Stimmung der Trinker laute Lieder in der rauhen Gälischen Sprache, die uns fremd und alt in den Ohren klingt, oder schwermütige Balladen gesungen wurden. Ich saß mitten unter ihnen, ein Fremder, der jedoch mit einer für uns ungewohnten Selbstverständlichkeit in ihrer Mitte akzeptiert wurde, und lauschte den rauhen Stimmen und der Stille, die nach den Liedern folgte. Der Herbstwind, der schon den Eishauch des bevorstehenden Winters in sich trug, heulte um die Mauern und pfiff durch die Fensterläden, während einer der Gäste vielleicht anfing, eine Geschichte über das Feenvolk zu erzählen, die einem seiner Verwandten im Nachbardorf geschehen war.
Und hier, in den kleinen Dörfern mit ihren schiefen Mauern und verwitterten keltischen Kreuzen, die die Grabsteine zierten, erfuhr ich, daß die Märchen als wahre Geschichten empfunden wurden. Die Bauern und Handwerker nahmen die Existenz solcher Wesen als gegeben an und stellten die Wahrheit der Legenden, die erzählt wurden, nicht in Frage. Ja, nicht einmal die Skepsis eines studierten Menschen wie ich es war konnte sie von ihrem Aberglauben abbringen. Wenn ich in den Gesprächen klar wiederlegte, daß es so etwas wie Feen und Elfen, Gnome und Kobolde überhaupt geben konnte, zuckten sie die Schultern und betrachteten mich mit einem fast mitleidigen Gesicht. Und ich hatte nicht das Herz, sie von ihrem kindlichen Glauben zu befreien, schadete er ihnen doch nicht. So blieb ich Zuhörer und versuchte, diese unschuldigen Gemüter nicht zu belächeln.

Die Postkutsche, mit der ich seit Dublin gereist war, ließ mich an der Straße nach Limerick zurück, da sie dorthin weiterfahren sollte. Ich mußte also meinen restlichen Weg auf die Halbinsel und in das Dorf Dingle zu Fuß zurücklegen. Der Kutscher hatte mit versichert, daß ich noch vor Anbruch der Nacht ein kleines Dorf erreichen würde, von dem aus ich am nächsten Morgen zu den „Drei Schwestern“, jenen drei Klippen, die an der nördlichen Küste der Halbinsel hundert Meter ins Meer abfallen, wandern konnte. Ich dankte dem Kutscher und machte mich auf den Weg.
Die Dämmerung ließ ich bald hinter mir, als ich dem steinigen Weg durch steile Hügel folgte, die mich zu beiden Seiten einschlossen. Kein Licht eines Hauses wies mir die Richtung, nur der volle Mond erleuchtete ab und an meinen Pfad, wenn die Wolken ihn freigaben. Doch so sehr ich die Idyllische Nachtlandschaft genoß, konnte ich mich doch nicht eines irrationalen Gefühls erwehren, das in mir eine Angst hervorrief, deren Ursache ich nicht ergründen konnte. Ob es nun die seltsam geformten Steine waren, die sich ab und zu aus der Dunkelheit schälten und die an knochig verformte Gestalten anmuteten, denen ein eigenes Leben durch die Schattenspiele den Mondlichts innewohnte, oder die Schreie eines Nachtvogels, denen einer klagenden Frauenstimme so ähnlich, blieb mir verborgen. Doch ich rief mich trotz des Schauers, der mir den Rücken herunter lief, zur Ruhe und bald war ich gefaßt wie immer, ja, konnte meine Ängste, die ich gerade noch empfunden hatte, bereits belächeln. Trotzdem war ich erleichtert, als ich die Lichter eines Gasthauses in der Ferne erblickte und freute mich darauf, mir endlich die müden Füße am Feuer wärmen zu können.
Das Gasthaus entpuppte sich beim näherkommen als ein kleiner Pub, der von wenigen windschiefen Häusern umgeben war. Als ich vor der schweren Holztür stand und noch einen letzten Blick die Straße hinunter warf, zog die Wolke, die den Mond seit einiger Weile bedeckt hatte, an ihm vorbei und ich sah in der Schlucht, durch die sich der Weg schlängelte, ein seltsam geformtes Gebilde herausragen, von dessen plumpen Leib sich knochige Ausläufer wie Arme in den Himmel reckten. Ein Schreck fuhr mir durch die Glieder, denn das konnte kein Felsen sein, zu filigran waren die Finger, und mir war, als würden sie sich nach mir ausstrecken und mich greifen wollen. Blind tastete ich nach der Tür vor mir, stieß sie mit einer Heftigkeit auf, die sie mit einem lauten Knall gegen die Wand schlagen ließ und stolperte in den Schankraum. Stille umfing mich mit der plötzlichen Helligkeit der Lampen, die Gesichter der Trinkenden waren mir zugewandt und trugen alle eine Spur des Schreckens, der mir noch in den Knochen lag. Bleich ging ich mit unsicheren Schritten zum Feuer, wo ich mich auf eine Bank sinken ließ, die tröstlich fest unter mir war. Bald wandten sich die Gäste wieder ihrem Ale und ihren Gesprächen zu, die flüsternd vonstatten gingen. Ich winkte mit noch immer zitternder Hand der Bedienung, die vor mir ein Glas Dunkles auf den Tisch stellte und mich ernsthaft fragte, warum ich die Gäste so erschrecken mußte. Da ich mich inzwischen wieder beruhigt hatte, fragte ich sie, was das denn für ein Gebilde sei, das dort draußen auf die Wanderer lauerte. Ich gab dabei ein kleines, unsicheres Lachen von mir, das von ihr nicht erwidert wurde. „Das ist die alte Mühle, mein Herr.“ antwortete sie. Dann beugte sie sich zu mir herunter und flüsterte: „es ist besser, ihr an Nächten wie dieser nicht nahe zu kommen. Der Geist des alten Holländers soll dort umgehen!“ Nun fühlte ich mich wieder sicher und dankte ihr für die Auskunft. Ein weiteres Märchen, dachte ich bei mir, und ich hatte mich wie Don Quichotte von einer Windmühle schrecken lassen. Über meine eigene Dummheit und Furcht lächelnd ließ ich mir das Ale munden und gab mich ganz der wohligen Wärme hin, die meine durchgefrorenen Glieder durchströmte. Die flüsternden Stimmen der anderen Gäste lullten mich ein, bis ich in jenem Zustand zwischen Schlafen und Wachen geglitten war, der die Grenzen von Traum und Wirklichkeit durchlässig werden läßt, bis sich die Schlafgespinste so mit der realen Umgebung mischen, daß sie unserem Geist als natürlich erscheinen. So träumte mir, daß neben mir auf der Bank das Gespenst des alten Holländers, der ein trauriges Männchen in abgerissenen Kleidern war, saß und den Verfall seiner Mühle beweinte. Große Geistertränen fielen in sein gefülltes Glas, das eine grünliche Flüssigkeit enthielt, in der sich Bilder von Windmühlen bewegten. Dann war mir, als würde es um uns still werden, und der Holländer deutete mit einem verkrümmten Finger auf einen Tisch in einer dunklen Ecke, von dem sich eine Frauengestalt erhob und auf uns zuging. Nein, mir war vielmehr, als schwebte sie, so leicht und ätherisch schien sie in ihrem weißen Kleid, das ihre zarten Glieder wie ein Gespinst aus Altweiberfäden umfloß. Ihre Haut war bleich wie der Mond, und die Augen groß und dunkel; schwarzes Haar rahmte ihr feines Gesicht wie ein Porträt aus Alabaster, doch auf ihren Zügen lagen dunkle Schatten der Erschöpfung oder einer Krankheit, die den Menschen dahinschwinden läßt. Dennoch erschien sie mir schöner als jede Frau, die ich bisher gesehen hatte, zugleich zerbrechlich und geheimnisvoll, als sie sich auf einen Schemel vor das Feuer setzte und mit leiser Stimme anfing, den stummen Zuschauern eine Ballade zu erzählen.
An ihre Worte kann ich mich nicht mehr erinnern, doch ihr Inhalt ergriff mich wie nie ein Märchen zuvor. Ich hing an den Lippen der Fremden, von denen die Verse perlten gleich Regentropfen von den Blättern einer Trauerweide, und ihr Ausdruck war so traurig, daß ich mit ihm litt, als wäre ihr Schmerz der meine. Von einer Dame erzählte sie, deren Vater vor langer Zeit das Land hier gehörte, und deren Schönheit in ganz Kerry gepriesen wurde. Es fehlte ihr nicht an Bewunderern, doch sie wies jeden mit einem hochmütigen Lächeln ab, und ihr Vater, dessen größter Schatz sie war, ließ sie gewähren. Eines Abends in der Dämmerung, es war im Spätsommer, ging sie hinaus, um Weidenkätzchen für einen Kranz zu pflücken, und kam zu einer Felsigen Höhle, an deren Rand Weidenzweige wie Efeu wuchsen. Doch kaum hatte sie einige von ihnen gebrochen, stand auf einmal ein junger Mann vor ihr und fragte sie, wie sie es wagen könnte, seine Weiden anzurühren. Obwohl die Gestalt des Mannes ihr angenehm war und ihr Herz in jenem Moment an ihn verloren war, antwortete sie hochmütig, daß dieses Land ihrem Vater gehörte, und sie die Weiden brechen könne, wie es ihr gefiel, ohne den jungen Mann um Erlaubnis zu fragen. Da nahm er sie bei ihrer Hand und in seine Arme, und sie gaben sich einander am Fuße der Weiden hin, bis der Morgen graute. Doch als sie das Gesicht ihres Geliebten in den ersten Strahlen der Sonne betrachten wollte, war er verschwunden, und die Hügel um sie herum wurden dunkel und grau.
Lady Margaret, denn so war ihr Name, war seit jenem Abend blaß und traurig, kein Lachen erhellte mehr ihr Gesicht, und obwohl ihr Vater alles tat, um sie zu erheitern, blieben ihre Augen doch trübe und leer. Als die Dienstmädchen anfingen zu reden, daß die Lady ein Kind erwarte und es nicht leiden wolle, ging eine Zofe zu ihrer Herrin und erzählte ihr von einem Kraut, das in den Hügeln wuchs, und das ihr das Kind nehmen würde, wenn sie es aß. So ging Margaret wieder in die Hügel und suchte das Kraut, doch als sie eines davon gefunden und gebrochen hatte, stand ihr Geliebter Tamlin vor ihr und fragte sie, warum sie das Kraut breche um die Frucht ihrer Liebe zu töten. Sie jedoch sah ihn an und fragte ihn, ob er denn von dieser Welt wäre oder einer anderen gehöre. Da gestand er ihr, daß er ein Mensch wie sie gewesen war, bis er in diesen Hügeln bei einer Jagd vom Pferd fiel und die Königin der Elfen ihn gefangen hätte, auf daß er immer in diesen Hügeln bleiben müsse und doch kein Teil der Menschenwelt mehr war. Doch heute abend, so sagte er Margaret, sei All Hallow’s Eve, der Abend vor Allerheiligen, an dem der Hof der Elfen durch die Hügel reiten würde. Wenn sie ihn für sich gewinnen wollte, müßte sie sich bei der alten Mühle verstecken und warten, bis die Pferde der Elfen an ihr vorbeirennen würden, und das dritte Pferd, das weiße, solle sie festhalten, denn das würde er sein. Und was immer geschehe, sie müsse ihn festhalten, welche Gestalt er auch immer annehmen würde. Da ging Margaret nach Hause und tat am abend, wie Tamlin ihr geheißen, und als das weiße Roß an ihr vorbeisprengen wollte, griff sie nach seiner Mähne und hielt es fest. Die Königin der Elfen schrie fürchterlich und verwandelte Tamlin in einen wilden Löwen, der Margaret zu verschlingen drohte. Doch so groß war ihre Liebe, daß sie ihn weiter umfing. Da verwandelte er sich in einen Barren glühenden Eisens, der ihre Hände zu verbrennen drohte. Doch sie hielt ihn trotz ihrer Schmerzen fest und die Glut tat ihren Händen nichts. Darauf hielt sie eine zischende Schlange in den Armen, deren Giftzähne sich in ihren Hals bohrten. Doch sie hielt ihn weiter fest, denn er war der Vater ihres Kindes, und sie liebte ihn. Als die Königin der Elfen dies sah, wußte sie, daß Tamlin für sie verloren war und gab ihm seine wahre Gestalt wieder, und Margaret warf ihren Mantel um ihn und rief: wir haben gesiegt, mein Geliebter! Die Elfenkönigin aber war starr vor Wut und schrie: ich hätte dir die Augen ausreißen sollen, Tamlin, und dir Augen aus Holz geben sollen! Und mit diesem Fluch war sie verschwunden.
Als die Fremde die Ballade beendet hatte, schien es mir, als würde ich aus jener Welt wiederkehren, in der ihre Geschichte geschehen war. Ich hatte die Züge der Elfenkönigin vor meinen Augen und die Tränen der Dame, und ihr Gesicht mischte sich mit dem meiner Erzählerin, deren Blicke auf mir ruhten und mich unendlich traurig ansahen. Ich wollte sie trösten, denn die Geschichte war ja gut ausgegangen, und als ich aufstand merkte ich, daß ich nicht mehr Träumte und die Fremde wirklich am Feuer saß.
Die Erleichterung, die mich daraufhin durchströmte vermag ich nicht auszudrücken, hatte ich doch die ganze Zeit in halbwachem Zustand verbracht und gefürchtet, daß sie so verschwinden würde wie ein Spuk am hellichten Tag. So aber ging ich zu ihr und bat ihr mit leiser Stimme einen guten Abend und fragte sie, ob ich ihr Gesellschaft leisten dürfe. Sie nickte und ich setzte mich zu ihr, bot ihr einen heißen Kräuterwein, den sie mit ihren blassen Fingern umklammerte wie eine Ertrinkende einen Strohhalm. Jetzt, da ich mich nicht mehr im Halbschlaf befand, erschien mir ihre Kleidung seltsam: Sie trug nichts als ein weißes Nachtgewand, das bis zu ihren baren Knöcheln reichte, über dem kein Rock, keine Jacke, ja , nicht einmal ein Wollenes Tuch lag. In Anbetracht der Kälte, die selbst durch das Feuer nicht aus dem Raum vertrieben werden konnte, war es mir unerklärlich, daß sie nicht zitterte. Auch warfen die anderen Gäste ihr Blicke zu, die mißtrauisch und furchtsam waren, wo sie hätten voll Mitleid sein sollen. Ärgerlich über so wenig Manieren und Rücksicht bot ich der Fremden meinen Rock an, den sie kopfschüttelnd abwies. Nicht einmal ein paar wollene Socken, wie ich sie immer dabei hatte, wollte sie annehmen, und so saß ich hilflos da und wunderte mich einmal mehr über ihre Erscheinung. Ich fragte sie, wo sie herkomme und ob ich sie später nach Hause bringen könne, da sie ja nicht mutterseelenallein in der Dunkelheit herumwandern könne. Sie sagte leise, daß sie in den Hügeln wohne und immer allein ginge. So viel Wehmut lag in ihrer Stimme, daß mir die Tränen in die Augen stiegen, und ich heftig antwortete, daß eine so schöne und zarte Dame nicht allein in dieser rauhen Umgebung wohnen solle. Ich nahm an, daß ihre Eltern gestorben seien und sie ein Leben in Einsamkeit fristete, die sie langsam zerstörte wie der Frost eine Lilie, und das konnte ich nicht mit ansehen.


So bot ich ihr an, sie nach Dublin mitzunehmen, wo ich ihr eine Anstellung finden könne, und vielleicht, wenn sie wolle, auch zurück mit nach Deutschland, wo ich immer über sie wachen könnte. Ja, so ein tiefes Gefühl der Liebe überkam mich beim Anblick ihrer zarten Züge, daß ich mit dem Gedanken spielte, ihr die Heirat anzubieten, um sie immer an meiner Seite zu haben. Ich würde die Krankheit und die Trauer von ihr nehmen und sie glücklich machen. Doch je mehr ich sie drängte, sich aus der Trauer zu befreien und ein neues Leben anzufangen, desto verschlossener wurde ihr Gesicht, bis sich irgendwann helle Tränen aus ihren Augen lösten und ihre Wangen herabrannen. Erschrocken hielt ich inne und schalt mich selbst ob meines Ungestüms. Ich trocknete ihr die Tränen mit einem Taschentuch und redete beruhigend auf sie ein, die noch immer kaum ein Wort an mich gerichtet hatte. Dann fragte sie mich zögernd, ob ich einen Ort wüßte, wo wir allein wären – was ich ihr ob der drohenden Blicke der rauhen Bauern im Schankraum nicht verdenken konnte. Allerdings hatte ich bisher selbst keine Bleibe, und so fragte ich die Bedienung nach einem Zimmer, das ich über Nacht mieten könne. Der Blick, den sie meiner Begleitung zuwarf war kalt, dennoch führte sie uns eine schmale Stiege in eine Dachkammer hinauf, die anscheinend ab und zu Reisenden als Unterkunft diente. Im Schein der Flackernden Kerze, die die Bedienung uns dagelassen hatte, und des Mondes, der nun am klaren Himmel durch die Dachluke fiel, bot ich meiner Fremden – denn ihren Namen wußte ich noch immer nicht – den einzigen Stuhl an und ließ mich selbst auf der Kante der Pritsche, die als Bett diente, nieder. Die Dunkelheit und das fahle Licht ließen die Züge des Mädchens noch umschatteter, ihre Haut noch blasser und durchscheinender werden. Wie eine Puppe saß sie auf dem wackligen Stuhl und sah mit verlorenem Blick in sich hinein, doch als ich anhob, etwas zu sagen, stand sie auf und schritt auf mich zu, um mir ihren schmalen Finger auf die Lippen zu legen und mich so zum Schweigen zu bringen. Ein Schauer durchfuhr mich bei der Berührung, und ich sah in ihren unergründlichen Augen wieder die Trauer, die wie ein dunkles Tuch auf ihr lag. Doch schien dort auch Liebe zu liegen, die mich mit Hoffnung erfüllte, als sie sich zu mir niederbeugte und mir von ihren weichen Lippen einen Kuß auf meine Stirn hauchte, und so umfingen sie meine Arme und sie ließ sich hineinsinken.
Der Zauber dieser Nacht schien unendlich, und bald hatte ich den Schmerz vergessen, der mich bei ihrem Anblick erfüllt hatte. Ich wollte ein Lächeln auf ihrem Gesicht sehen, und als sie es das erste mal erstrahlen ließ, war sie mir schöner als je zuvor. Die Kerze war bald heruntergebrannt, und nur der Mond war unser stummer Zeuge, bis auch ihn seine Bahn von uns forttrug und ich in einen seligen Schlummer fiel, ihre feinen Glieder an mir liegend, ihren leichten Herzschlag an meiner Brust.

Wie lange ich geschlafen hatte, wußte ich nicht. Irgendwann glitt ich aus dem Vergessen des Traumdunkels in einen Halbschlaf, in dem mir war, als würde sich meine Geliebte neben mir erheben. Als ich die Augen aufschlug, stand sie mitten im Raum, der von der frühesten Dämmerung fahl erhellt wurde, und ich wußte, daß sie mich verlassen wollte. Schnell sprang ich auf und lief zu ihr hin, umfing sie fest mit meinen Armen und fragte sie heftig, wohin sie wolle. Sie versuchte sich meinem Griff zu entwinden und flüsterte verzweifelt, daß sie gehen müsse, bevor die ersten Morgenstrahlen den Tag trafen. Ich flehte sie an, bei mir zu bleiben, ihre Trauer zu vergessen, und mich zu heiraten. Doch so schwach sie schien, so fest blieb ihr Entschluß, bis ich sie nur noch bat, mir den Grund für ihr Gehen mitzuteilen. Daraufhin gab sie nach und erzählte mit leiser, schwerer Stimme ihre Geschichte, den Kopf an meiner Brust liegend, als würde sie ihre Worte direkt an mein Herz richten. Sie sei vor zehn Jahren mit ihrem Vater und ihrer Mutter durch ebendieses Dorf gereist, doch entschied ihre Familie trotz der Warnungen der Bauern weiter durch die stürmische Nacht zum nächsten größeren Ort zu reisen. Es war die selbe Nacht wie gestern, der Abend vor Allerheiligen, als der Kutscher die kleine Droschke durch die Schlucht an der alten Mühle vorbei lenkte, bis sie durch einen Engpaß kamen, der die Fahrt verlangsamte. Da fuhr ein plötzlicher Windstoß so heftig durch die Schlucht, daß sich ein großer morscher Baum oberhalb der Kutsche löste und mit einer derartigen Wucht auf das kleine Gefährt niederfiel, daß der Kutscher und ihre Eltern davon sofort erschlagen waren. Voller Angst und Verzweiflung lief sie davon, bis mit einem Mal eine wunderschöne Frau vor ihr stand und sie bei der Hand nahm, sie mit ihrem Lächeln beruhigte und ihr versprach, für sie zu sorgen. Doch das war die Elfenkönigin, sagte sie zitternd, die ihr seitdem nicht mehr erlauben würde, die Welt der Menschen zu betreten. Nur einmal im Jahr, am All Hallow’s Eve, dürfe sie nach der Jagd des Elfenhofes den Rest der Nacht in den Dörfern zwischen den Hügeln verbringen, doch müsse sie vor den ersten Sonnenstrahlen wieder zurück sein, sonst könne sie nie mehr einen Menschen sehen.
Erleichtert lachte ich ob dieser Geschichte, waren doch irgendwelche Elfen und sonstige Hirngespinste kein Grund für mich, meine Geliebte aufzugeben. Ich versicherte ihr, daß diese Geschichten nicht real seien, daß sie aufgrund des Traumas, das der Tod ihrer Eltern in ihrem armen Geist hinterlassen hatte, sich die Elfen einbilden würde und ich ihr helfen könne, sich davon zu lösen, wenn sie nur einwilligen würde, mit mir zu kommen. Doch keines meiner Worte hatte die gewünschte Wirkung auf sie, ja, sie geriet regelrecht in Panik und flehte mich unter Tränen an, sie gehen zu lassen, sonst könne sie mich nie wiedersehen. Wenn ich sie wirklich lieben würde, wie ich sagte, solle ich in einem Jahr am All Hallow’s Eve zur alten Mühle kommen und auf sie warten: sie würde in einer anderen Gestalt sein, aber ich würde sie erkennen, und dann solle ich sie festhalten, was auch geschehen möge, bis sich der Zauber gelöst hätte. Dann entwand sie sich mit einer so schnellen Bewegung meiner Umklammerung und floh den Raum, daß ich ihr nicht mehr folgen konnte, und als ich allein auf der dämmrigen Straße stand, war sie nirgends zu sehen.
Während ich mich ankleidete und ein deftiges Frühstück halb in mich hineinzwang, machte ich mir die ganze Zeit über bittere Vorwürfe. Ich hätte sie bei mir halten, ihr einen Beruhigungstrank einflößen, ja, sie sofort in der Nacht aus dieser unseligen Gegend bringen sollen, in der sie ihr eigener Geist gefangen hielt. Die Bedienung antwortete auf meine drängenden Fragen zurückhaltend: nein, sie habe die Frau noch nie gesehen, wisse auch nicht, wie sie hieße. Sie flüsterte etwas von Todesfeen, die in dieser einen Nacht des Jahres umgingen und sah mich an, als trüge ich schon eine tödliche Krankheit in mir. Ungehalten bezahlte ich mein Essen und die Kammer und machte mich auf den Weg, um mehr über meine Geliebte herauszufinden. Ein alter Mann, der am Weg verschnaufte wollte sich erinnern, daß vor zehn Jahren eine Kutsche in ebendieser Nacht durch das Dorf gereist war. Er schüttelte den Kopf ob der Unwissenheit der Fremden, daß man in der Nacht zu Halloween nicht reisen dürfe, weil die wilde Jagd dann umgehen würde und das Feenvolk sich einen Spaß daraus machte, den Menschen böses anzutun. Doch von einem Mädchen, das in den Hügeln lebte, wußte er nichts.

Ich wanderte wochenlang über die Halbinsel, stand an den Klippen der drei Schwestern und sah die Brandung tief unter mir gegen die Felsen schlagen, betrachtete das graue Meer vom Slea Head aus und fragte in jedem Dorf, durch das ich kam, nach meiner geliebten Fremden. Einige sagten, daß sie sie gehört hatten, wie sie die Geschichte von Tamlin erzählte, und machten das Zeichen gegen den bösen Blick. Andere wollten ihre Gestalt des Nachts klagend durch die Felsen wandern gesehen haben, doch Niemand kannte ihren Namen oder wußte, wo sie wohnte. Ja, meine Fragen daraufhin hatten immer einen ungläubigen Blick zur Folge, und eine geflüsterte Warnung, daß man sich mit dem unirdischen Volk nicht einlassen dürfe, sonst koste es einen die Seele. Und immer wieder rief ich mir ins Gedächtnis, daß dies alles Einbildung sei, daß sich in diesen rauhen Hügeln ein kleines Mädchen vor zehn Jahren verirrt hatte, dessen Geist ob des tragischen Schicksals seiner Familie verwirrt war und die Geschichten und der Aberglauben der Einwohner aus dieser schönen Frau wirklich einen lebenden Geist gemacht hatte.
Irgendwann schienen mich die Einwohner zu kennen und wichen mir aus, als sei ich selbst einer vom Feenvolk, und meine Fragen blieben unbeantwortet. So ließ ich schweren Herzens die Halbinsel hinter mir und reiste nördlich durch Galway nach Donegal, bis hinauf nach Letterkenny. Auch hier fragte ich in jedem Dorf nach meiner Geliebten, aber keine Seele hatte von ihr gehört. Nur die Geschichten über Wechselbälger, die von den Elfen ausgetauscht wurden, so daß den Eltern ein verkrüppeltes, bösartiges Wesen blieb und die schönen Kinder von den Feen gefangen gehalten wurden, und anderen, die sich in die Feenwelt begeben hatten und nie wieder gesehen wurden, schienen unerschöpflich. Nach über drei Monaten, in denen sich eine kleine Dorfschänke an die andere reihte, die Balladen zu einem einzigen Singsang wurden und ich zeitweise nicht mehr gewahr war, in welcher Welt ich mich befand, wußte ich, daß ich die Insel verlassen mußte, sonst würde ich selbst meine geistige Gesundheit verlieren. Immer wieder wurden meine Träume vom blassen Gesicht meiner Geliebten heimgesucht, ihre Gestalt schien in jeder dunklen Ecke der Pubs zu warten und doch sofort zu verschwinden, wenn ich nach ihr greifen wollte.

Anfang Februar kehrte ich also nach Deutschland zurück, und an den Gesichtern meiner Freunde sah ich, wie ich mich verändert hatte: eine Besessenheit hatte von mir Besitz ergriffen, die meine Wangen hohl und meine Augen wild werden ließ, und manch ein Professor riet mir, mich zur Kur in ein Sanatorium zu begeben. Ich lehnte ab. Wissend, daß ich wie schon zuvor meine Dämonen selbst besiegen mußte zwang ich mich in einen geregelten Tagesablauf, hielt mich an kleinen Gewohnheiten fest und war bald wieder fähig, die Welt rational zu betrachten. Natürlich hatten keine Märchen Teil an der tragischen Geschichte meiner Liebe. Wahrscheinlich wohnte sie in einem verlassenen Cottage irgendwo auf der Halbinsel und wurde von ihrem verwirrten Geist dort festgehalten. Die abergläubischen Einwohner waren sicher mit schuld an ihrem Wahnsinn, und bestärkten sie noch darin, indem sie sie mieden und ihr jenes Mißtrauen entgegenbrachten, dessen Zeuge ich geworden war. Doch auch ich hatte sie davon nicht befreien können, und im laufe der Monate wuchs in mir der Entschluß, zu Allerheiligen wieder in das Dorf zu der Mühle zurückzukehren und auf sie zu warten, vielleicht würde ich sie damit von ihrem Wahnsinn befreien. Warum ich nicht schon früher daran gedacht hatte, war mir unklar, war es doch bekannt, daß man auf die geistig verwirrten eingehen mußte, um sie zu verstehen und letztlich von ihrem Wahn zu heilen. Was auch immer mir an dieser Mühle begegnen würde: ich würde es festhalten, damit meine Geliebte den Beweis sah, daß ich zu ihr hielt und sie damit aus ihrer Tragik erlöst wurde.

Der Sommer verging, und als ich mich Anfang September auf den Weg machte, war ich wieder ganz der Alte, den keine Mär schrecken konnte. Doch war mir nicht bewußt, auf welch unsicheren Pfeilern ich meinen Mut gebaut hatte, bis ich wiederum an der Straße nach Limerick stand und der verschlungene Pfad sich wie vor einem Jahr in die Hügel wand, die von der Abendsonne in rotes Licht getaucht waren. Meine Füße schienen mit der steinigen Straße verwachsen und in mir stieg der Gedanke auf, daß mein nächster Schritt mich wieder in jene Gebiete des Aberglaubens und der Irrationalität führen würde, denen ich vor ein paar Monaten erst so knapp entronnen war. Doch meinem Unwohlsein zum Trotz bezwang ich meine Angst und ging schnell auf die Hügel zu, um die Schänke noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen.
Obwohl mir der Anblick der verfallenen Mühle inzwischen fast vertraut war, drohte mich wieder eine Angst zu ergreifen, denn allzu sehr ähnelten ihre morschen Flügel einer Totenhand, die drohend ihre Finger nach meiner Seele ausstreckte. Ich schüttelte das Bild ab, das in meinem Geist gewachsen war und betrat den Schankraum, in dem sich wie vor einem Jahr nur wenige Bauern befanden, die flüsternd die Köpfe zusammensteckten. Einige schienen mich zu erkennen und wandten sich mit dunklen Gesichtern von mir ab, und als ich der Bedienung sagte, daß ich die Kammer für die heutige Nacht mieten wolle, sah es fast so aus, als wolle sie mir dies abschlagen. An der Theke lehnte ein junger Bursche, der mir unbekannt war und mich als einziger mit der für die Iren typischen Freundlichkeit ansah, so daß ich mich zu ihm gesellte und ihn auf ein Ale einlud, das er gerne annahm. Bald kamen wir ins plaudern, er erzählte mir, daß er aus Cork komme und morgen weiter auf die Halbinsel reisen wolle, nur von dem anbrechenden Abend gezwungen, die Nacht in diesem öden Dorf zu verbringen. Bei meinem Gespräch mit ihm verflog ein Teil der Beklemmung, die mich seit der Dämmerung ergriffen hatte, und ich war froh darüber, einen rationalen und gebildeten, wenn auch etwas rauhen jungen Mann vor mir zu haben. Als er mich fragte, was mich in diese Gegend verschlagen habe, sagte ich ihm nur, daß ich jemanden suchen würde und lehnte sein Angebot, mir dabei zu helfen, freundlich ab. Die Dunkelheit war inzwischen ganz über das Land eingebrochen, und ich verabschiedete mich von dem jungen Iren mit den Worten, ich müsse der alten Mühle einen Besuch abstatten. Das ließ ihn zwar etwas verwirrt zurück, aber er sagte nichts darauf. Die Blicke der Bauern, die ich bis zur Tür in meinem Rücken spürte, ließen dagegen offene Feindseligkeit und Angst erkennen, war ich doch darauf und dran, mich dem zu stellen, vor dem sie sich alljährlich in ihren Häusern versteckten.
Als ich auf die Straße trat, hatten sich dunkle Wolken vor den Mond geschoben, so daß ich nur aus der Erinnerung wußte, welchen Weg ich einschlagen mußte. Der Herbstwind riß an meinem Gehrock, dessen Kragen ich hochgeschlagen hatte, um mich vor der Kälte zu schützen. So stemmte ich mich gegen die stetig aufwehenden Böen, die schon die ersten Tropfen eines kalten Regens mit sich trugen, und hatte bald die letzten Häuser des kleinen Dorfes hinter mir gelassen. Die Nacht war pechschwarz und ich schalt mich innerlich, daß ich nicht wenigstens eine Laterne mitgenommen hatte. Doch ich setzte weiterhin einen Fuß vor den anderen, bis ich unvermittelt eine dunkle Masse nahe bei mir aufragen sah: ich hatte die Mühle erreicht. Als ich an ihrer rauhen Wand ankam und mich gegen sie lehnte, hörte ich das Knarren der alten Flügel wie das Ächzen eines alten Riesen über mir, und wieder überlief mich ein Schauer, der nicht allein vom eisigen Wind herrührte. Doch ich blieb fest und ließ mich am Fuß der Mühle nieder, versuchte dem Regenwind, der mich schon fast völlig durchnäßt hatte, so wenig Ziel wie möglich zu bieten und harrte aus.

Wenn man auf etwas wartet werden Minuten zu Stunden, und ich hatte bald jegliches Zeitgefühl verloren. Ich spähte angestrengt in die Dunkelheit vor mir und lauschte auf das Heulen des Windes und das Klatschen der Tropfen gegen das alte Gemäuer, sprang manchmal auf, weil ich etwas in der Dunkelheit zu sehen glaubte, nur um mich enttäuscht wieder hinzukauern, weil ich von einem vorbeihuschenden Nachtvogel genarrt worden war. Der Regen hörte nach einer Ewigkeit, wie mir schien, auf, nur der Sturm ließ mich mit unverminderter Stärke frieren. Irgendwann fingen nagende Zweifel an, in mir hochzusteigen: was, wenn sie nicht herkommen würde? Wenn sich nichts ereignen würde und ich am nächsten Morgen wie ein abergläubischer Narr in die Schänke zurückkehren mußte, bis auf die Knochen durchweicht und keinen Funken klüger? Waren denn die Ereignisse im letzten Jahr, das schon so lange her war, wirklich gewesen, und war ich nicht nur einem schönen Traum, der von einer Geschichte geprägt war, gefolgt? War heute denn auch wirklich der Abend vor Allerheiligen, hatte ich mich nicht im Datum geirrt? Vielleicht hatte sich auch nur ein Dorfmädchen einen Scherz mit mir erlaubt – doch zwischen all diesen Gedanken sah ich wieder ihr Gesicht, das so ernst und voll Trauer war, die nicht gespielt sein konnte. Ich mußte weiter warten, Gewißheit konnte ich erst am nächsten Morgen haben.
Ich mußte irgendwann in einen Halbschlaf gesunken sein, denn als ich aufblickte saß neben mir wieder die knöchrige Gestalt des Holländers, der mich aus leeren Augen ansah. Seine Finger waren wie die Flügel seiner alten Mühle, die meinen Arm mit klammem Griff hielten. Dann wandte sich sein Gesicht der Dunkelheit zu und wie schon einmal deutete er von uns weg in die Finsternis, aus der eine kleine Tiergestalt auf uns zu trat: ein Reh mit dunklem Fell, die Fesseln so dünn als ob sie beim nächsten Schritt durchbrechen würden, die Augen groß und unergründlich. Ich sprang auf und stürzte auf das Tier zu, fiel bei ihm auf die Knie und umklammerte seinen Hals mit meinen Armen. Die nasse Tierflanke war warm an meiner Wange, und ich konnte das schnelle Schlagen des Herzens spüren, das wie ein Vogel gegen meine Rippen flatterte. Erst war das Reh starr vor Schreck, dann versuchte es, meinem Griff zu entkommen und hielt schließlich erschöpft inne. Ich warf einen Blick zurück zur Mühle: der Holländer war verschwunden, und ich wußte nun, daß ich wach war. Ich blickte dem Tier in die Augen und mir wurde plötzlich gewahr, daß sie ihren Blick in sich trugen: es war, als würde ich meiner Geliebten in die Augen sehen. Vergessen waren meine Theorien von ihrer geistigen Umnachtung: ich war fest davon überzeugt, daß ich jenes Wesen in den Armen hielt, das mir vor einem Jahr so schnell entkommen war. Tränen flossen über meine Wangen, und wie von Sinnen stammelte ich zärtliche Worte zu dem Tier, das mich nur weiter ruhig ansah, während ich seine Flanken mit Küssen bedeckte.
Als ich mich etwas beruhigt hatte, kniete ich still neben dem Reh und sah in seine dunklen Augen, während in mir die Sehnsucht nach meiner Geliebten, die ich in all den einsamen Monaten genährt hatte, bis ins Unendliche wuchs. Der Moment schien ewig zu währen, bis ich plötzlich anderer Laute als denen des Windes gewahr wurde, und mit eisigem Schreck wurde mir bewußt, daß dort draußen die Gefahr lauerte, jene Schauergestalten, vor denen ich mich in meiner Kindheit so gefürchtet hatte. Die Angst aus all den finsteren Nächten drohte mich zu übermannen. Ich glaubte nun an all diese Dinge: den Spuk und die bösen Geister, die die Menschen plagen, und mir war, als würden sie hinter mir in den Schatten nur darauf warten, über mich herzufallen. Hilfesuchend wandte ich mich wieder den Tieraugen zu, doch ich konnte in ihnen nicht mehr den vertrauten Blick entdecken, den sie vorher innehatten. Ja, das Tier schien mich vielmehr boshaft zu fixieren, als würde es mich verhöhnen, die Augen glommen von innen mit einem dämonischen Licht, und ich taumelte stumm vor Schrecken von der Kreatur fort. Doch sobald meine Arme das Tier freigegeben hatten, verschwand es mit ein paar schnellen Sprüngen in der Dunkelheit, während ich in meiner Panik im Wind meinen Namen zu vernehmen glaubte. Blind stolperte ich durch die Dunkelheit wie von allen Teufeln der Hölle gehetzt, verfolgt vom höhnischen Knarren der Windmühle, bis ich vor mir den Schein von Laternen wahrnahm, dem ich die ganze Zeit entgegen gelaufen war. Das letzte, was ich sah, bevor ich in schwindelnde Finsternis fiel, war das besorgte Gesicht des jungen Iren, das von einer Öllaterne beleuchtet war.

Ich wachte erst zwei Tage später mit hohem Fieber aus meinem Koma auf und lag noch weitere Tage und Nächte im Delirium. Die Bedienung des Gasthauses pflegte mich gesund, offensichtlich von Schuld getrieben, daß sie mich in jener Nacht nicht davon abgehalten hatte, zur Mühle zu gehen. Sie erzählte mir, wie mich mein Retter gefunden habe, der sich auf den Weg gemacht hatte, weil ihn mein langes Fortbleiben beunruhigt hatte. Als er meine durchnäßte, totenbleiche Gestalt auf sich zutaumeln sah, fühlte er seine Befürchtungen wahr geworden und brachte mich sofort in den Gasthof. Ich habe wirres Zeug geredet (hier bekreuzigte sich meine unfreiwillige Krankenpflegerin) von Dämonen und Teufeln in Tiergestalt. Teilnahmslos hörte ich mir ihre Geschichten an und starrte dann wieder an die Zimmerdecke. Mein Leben war ohne Inhalt seit jener Nacht. Ich wußte nicht mehr, was wirklich und was Fiebertraum gewesen war, und ob ich die letzte Möglichkeit, meine Liebe zu sehen, vertan hatte, als ich das Reh losließ. Doch vielleicht war es wirklich alles ein Traum gewesen, der mich besessen hatte, und in den ich mich in all den Monaten so sehr hineingesteigert hatte, daß ich schließlich beinahe an meinem Wahn gestorben wäre. Doch ich konnte keine Gewißheit haben, denn die Grenzen zwischen Rationalität und Wahnsinn waren schon seit langer Zeit in meinem Geist verschwommen.

Bis heute weiß ich nicht zu sagen, was davon Wahrheit und was Märchen war. In mir bleibt nur das Gefühl, daß ich das einzig erstrebenswerte im Leben verloren habe – selbst, wenn es nur ein Traum war. Ich bin aus ihm erwacht und fürchte, daß ich nie wieder schlafen werden kann.
 
A

AndreasGaertner

Gast
Hallo,

das ist wohl wahr, daß einem das Selbststudium der Psychologie eine trügerische, omnipotente und überpersönliche Sicherheit verleiht.
Man deutet das geistige Verhalten des Menschen in Extremsituationen, und schliesst sich selbst dabei aus.

Das glückt so lange, bis man selbst in die Fänge des Wahnsinns gelangt(..niemand ist davor gefeit und die einzige "Therapie" gegen Wahnsinn ist die ruhige Bewegung!)

Und in dieser Wahnsinnsverfassung hilft einem weder Freud noch C.G.Jung(--> wobei ich Jung für das wahre Genie halte und dessen Ziehvater lediglich für den Impulsgeber)

Hat der Betroffene, in diesem Fall, der Liebe Wahnsinn erst mal berührt, dann wird es schwer, den Teufelskreis
wieder zu verlassen, da besonders die Erinnerung an die Angst, den "Rückfall" schürt.
Diesen Konsenz hast Du, finde ich, sehr gut mit dem
folgenden Satz eingeleitet:
Warum ich nicht schon früher daran gedacht hatte, war mir unklar, war es doch bekannt, daß man auf die geistig verwirrten eingehen mußte, um sie zu verstehen und letztlich von ihrem Wahn zu heilen.

Das Problem:

Geht man auf den Wahnsinn ein und beginnt die innere Logik
dieses Zustandes zu begreifen hat man ihn selbst verinnerlicht, beginnt ihn womöglich mitzuleben.

Diese Selbstverinnerlichung hast Du glänzend beschrieben.

Ein weiteres Bild, daß auf den Wahnsinn einer zu intensiv in ihrer Vorstellung, bezüglich der Idealvorstellung der Liebe hinweist, ist das Festhalten des Rehs.
In diesem Augenblick verschmelzen Realität und Illusion!
Sind das die Augen des Mädchens, oder doch nicht?

Als der Protagonist das Mädchen in dem Reh wiedererkennt,
ist dieser in diesem Moment im Ideal der Liebe gefangen.
Er hat einen gefährlichen Totalzustand erreicht, der nicht
existieren darf, da alles relativ sein muss, um überhaupt
da sein zu können--> Ein jedes Total im Universum würde, es selbst in sich zusammen fallen lassen.Er sucht diesen Zustand jedoch! Er sucht den Wahnsinn!!!

Der Protagonist verlässt diesen Totalzustand Augenblicke später wieder, und vermag das aufprojezierte Mädchen nicht mehr zu erkennen.


Nun ist er verwirrt, ob der Unvollkommenheit der Realität
ausserhalb des Ideals, außerhalb des Wahnsinns.
Diese sehr schöne Parabel auf das eigentliche Märchen in
dieser Geschichte zeigt auch sehr eindrucksvoll den
Zwiespalt des Liebenden:

Lasse ich das Reh los, verliere ich dann die Liebe?
Ist es andererseits nicht verrückt, ein Reh festzuhalten,
aufgrund einer überlieferten Sage?
Erfüllt sich die Liebe nur über den Wahnsinn, also über den totalen Glauben an sie? Testet die Liebe meinen Glauben?

Sehr schön ist auch die Wildromantik Irlands beschrieben,
auch die Charaktäre der Menschen hast du interessant und authentisch eingefangen.
Die Atmosphäre in der Gaststätte projeziert sich beim Lesen ins eigene Wohnzimmer.

Klasse Geschichte mit "unheimlich" viel Tiefgang!

Grüsse

Andreas
 



 
Oben Unten