Alltag

O

Oliver Uschmann

Gast
ALLTAG

Es war kalt in ihrem Versteck. Er hatte kaum geschlafen. Die harten Steine, die
zehrende Kälte und die Ungewissheit – denn obwohl sich die jungen Männer nun
schon lange kannten und einander vertrauten, konnte man nie sicher sein, ob derjenige,
der gerade mit der Wache an der Reihe war, nicht doch vor Erschöpfung oder
Unaufmerksamkeit versagen würde.
Er hatte keine Angst mehr vor dem Tod, das war es nicht.
Jede Nacht, die er in den ausgehöhlten Häuserresten oder in einem Versteck im Freien
verbracht hatte, hatte die Angst langsam und beständig zermürbt.
So wie der Staub, dieser unsichtbare Gegner, sich deprimierend unspektakulär in
Haaren, Kleidung und an alle Körperstellen festgeklammert hatte, so hatte die ganze
Situation seine Angst zerfressen – ohne Pathos, Tag für Tag, irgendwann war sie weg.
Wenn er jetzt wieder die nächste Nacht frierend und auf klobigen Steinen zubringen
mußte, dann hegte er oft heimlich den Wunsch, die Wache würde versagen und der
Feind würde dem ganzen kurz und schmerzlos ein Ende bereiten.

Jeder aus der Gruppe mußte wohl so denken, doch niemand hätte es sich selbst zu-
gestanden, geschweige denn den anderen.
Denn nicht die Angst trieb sie zum Überleben an, sondern das dumpfe, wütende,
beißende Gefühl, daß die letzten fünf Monate nicht umsonst gewesen sein sollten.
Man hatte nicht all das durchgestanden, nur um dann von einem Gegner mit gleich-
mütigem Blick erschossen zu werden.
Er lag in der staubigen Ruine und sah zu, wie der langsam andämmernde Morgen
durch das Loch drang, welches einmal das Fenster beinhaltet hatte.
Es war still. Lediglich das holprige Atmen der anderen und die Schritte der Wache
draußen waren zu hören – der Schatten des Wächters glitt an der Wand hin und her,
während er leise auf dem Kies knirschte.
Er erinnerte sich an seine Gefühle, als er mit diesen Leuten in den Krieg gezogen
war – voller stolzer, gerechter Wut im Bauch, um den fanatischen Irren in ihrem
Land endgültig den garaus zu machen.
Er wollte kämpfen für eine gute Sache und es wunderte ihn nur ein klein wenig, daß er
sich gut gefühlt hatte, als die ersten Gegner von ihm getroffen fielen.
„Ein, zwei Monate“ hatten sie damals gesagt, „dann haben wir dem Terror ein Ende
bereitet“ und er hatte bei jedem Schuß an die Zeit nach dem Sieg gedacht, wenn end-
lich wieder Gerechtigkeit und Gleichheit im Land herrschen würden.

Aber auch das war vorbei, abgetötet wie die Angst vorm Sterben.
Er kämpfte schon lange nicht mehr für sein Land oder für eine Sache und auch nicht
die anderen. Auch das gab keiner wirklich zu, aber man konnte es bemerken – in der
Verbissenheit ihrer Gesichter, zwischen den Zeilen ihrer Kommentare.
Fünf Monate hatte man durchgehalten – fünf Monate ohne eine durchgeschlafene
Nacht, ohne richtiges Essen, ohne Leben.
Jetzt aufzugeben war unmöglich.
Die Sache hatte sich festgefahren, man mußte es zuende bringen. Egal, wofür.
Das war alles.

Plötzlich durchdrang der hektische Ruf der Wache die Stille.
Alle schreckten hoch, standen binnen Sekunden auf den Beinen.
Das war der Normalzustand, in den man immer schalten konnte - der Schlaf war
nur die Ausnahme gewesen.


„Sie sind da hinten hinter dem Häuserblock, ich habe einen Schatten gesehen.“
„Unvorsichtige Stümper“, sagte einer der jungen Männer und grinste dabei ein
hartes Grinsen, mit dem er sich selbst von seiner Überlegenheit überzeugte.
Und dann ging’s los. Alle nahmen ihre Positionen ein, gaben sich Zeichen.

Er selbst duckte sich wie jeden Morgen hinter sein Stück Mauer und wartete.
Der Graffiti-Slogan an seiner Mauer hatte die letzten beiden Buchstaben vor zwei
Tagen verloren, als ein Stück davon abgeschossen wurde.
Er mußte fast lachen, daß ihm so etwas auffiel, aber es gab sonst nicht viel Abwechs-
lung in dem grauen Einerlei.
Der erste Schuß viel, er sah nicht von wem.
Mit einem müden Rück drehte er sich um, legte sein Gewehr über die Mauer, wartete
noch der Form halber eine Sekunde auf den Feuer-Befehl und schickte dann seine
erste Salve in Richtung des Blocks.
Der Lärm wurde größer, ein paar Gegner wechselten die Position und einer lief für
zwei Sekunden deckungslos durchs Bild.
Er schoß ihm ins Bein und er fiel hin. Sein Kollege drehte sich um, rannte zurück um
ihm zu helfen und bekam einen Herzschuß ab.
Er fiel tot auf seinen Kumpel, der vor Schmerz und Schrecken schrie, sich sein Bein
hielt und nun erst recht nicht mehr wegkam.
Der Schütze duckte sich kurz hinter seine Graffiti-Mauer, sah, daß seine Verbündeten
alle gerade nicht aufpassten, nachluden oder anderweitig beschäftigt waren, legte
wieder an, zielte genau und schoß dem Soldaten, der unter seinem Kollegen festgeklemmt
war, genau zwischen die Augen.
Er drehte sich schnell um und suchte nach anderen Gegnern, da ein solcher Treffer trotz der
Gewohnheit nicht allzu appetitlich aussah – man konnte sich an solchen Tagen das Leben
zumindest nicht ganz so schwer machen.

Plötzlich brach einer seiner Kollegen aus der Deckung hervor und rannte schreiend auf
die gegnerische Linie zu. Es gab keinen Grund. Irgendwann passierte sowas immer.
Auf diese Weise hatten sie schon drei Männer verloren. Er war der vierte, lief immer
weiter, ballerte wie ein Irrer und schrie etwas wie „Ende“ und „ihr Schweine“, bevor
er im Kugelhagel zusammenbrach.
Der hatte seinen tiefsten Wunsch also erfüllt, er hatte es geschafft, er hatte aufgegeben.
Wann würde es bei ihm soweit sein ? In zwei Monaten, einem, einer Woche ?
Der Rest der kurzen Schlacht ging ziemlich routiniert zuende. Die Gegner hatten sich
übernommen, waren schlecht organisiert und waren auch nicht mehr als ein Dutzend
gewesen. Diesen Teil der Stadt zu verteidigen war halt nicht schwer. Er war nicht wichtig.

Irgendwann war Ruhe, man holte seinen Toten, sammelte von den gegnerischen Leichen
Munition und sonstiges Brauchbares ein, vergewisserte sich, daß sie auch alle erledigt
waren und begrub seinen eigenen Mann, hielt eine kleine Rede und dann waren alle
froh, daß man erstmal eine Pause machen konnte.
Sich hinsetzen, etwas essen, blöde Reden schwingen über den Kampf, ein wenig lachen
oder einfach nur still vor sich hinschweigen, bis einer einen an der Schulter knuffte,
„hey, was ist denn, harter Mann ?“ sagte, lächelte und die Flasche hinhielt.

Vielleicht würde es heute noch einen Angriff geben. Vielleicht aber auch nicht.
Der Tag war noch jung.
Er stand auf, atmete die kühle Luft des Morgens, blickte kurz über die Berge am
Horizont, ging in die Ruine zu seinem Lager und holte die nächste Flasche.
 



 
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