Als blinder Satellit

pleistoneun

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Zuerst war er nur 40, doch kurz danach plötzlich 47 Jahre alt. Es kam wie aus heiterem Himmel, niemand konnte damit rechnen, am wenigsten er selbst. Er dachte, dass er damals als Kind immer dachte, dass er, wenn er später, so als 47-jähriger bestimmt denken werde, er würde an seine Kindheit zurückdenken, um dort dann ans Alter zu denken, hätte sich bestätigt.
Als Kind, ja, als Kind träumte er von Raketenstarts in Amerika, aber nicht als Zuseher: Anselm Seifert wollte von Kindesbeinen an Satellitenmechaniker bei der NASA werden. Seine Gedanken kreisten während seiner Jugend unablässig um das harte Ausbildungsprogramm, die vielen Entbehrungen, die unzähligen Joghurtkuren, die Flugtechnik und vor allem um den ersten Einsatz. Wie Satelliten eben kreisten.
In bruchstückhaftem Schul-Englisch verfasste er im Alter von 13 sein erstes Bewerbungsgesuch. Man meinte, der Antrag wäre verfrüht, er würde in Evidenz gehalten. Das war schon ein Riesenerfolg für Anselm und seinen Vater, Herrn Seifert. Seine Mutter hatte er schicksalshaft bei einem herabfallenden Metallteil eines beschädigten europäischen Radiosatelliten verloren. Die Nachrichten konnten gerade deswegen auch über 14 Tage nicht gesendet werden.
Doch nach und nach verfiel er dem Kaffee und billigem Wein aus Plastikkanistern. Kein Tag verging ohne Käsekrainer, Berge von Zwiebelringen und Satellitenfilmen. Er ahnte, dass dies seiner Chance, in die Elitegruppe aufgenommen zu werden, abträglich sein konnte, verfiel in Selbstvorwürfe, schluckte starke Medikamente und wurde schließlich nach 3-monatiger Satellitenentzugstherapie, mit Chance auf Buchmacher, als geheilt entlassen.
Die Arbeit war ernüchternd, sein bester Freund, der damals unbekannte 33-jährige Pianist und Bühnenmaler Peter Rosegger, half ihm mit Glücksspiel und ausgedehnten Minutengesprächen über die schlimmste Zeit hinweg. Die Arbeit missfiel, er wurde langsam ungeduldig, die NASA schickte keine Post. Keine Einberufung. Nicht mal Weihnachtskarten. Ob das zum Plan gehörte? Hohe Geheimhaltungsstufe, klar! "Die melden sich, wenn du es am wenigsten erwartest", dachte Anselm. Als sein Warten aber unerträglich wurde, der Wunsch als Satellitenmechaniker wie Feuer brannte, gab er nach und wanderte kurzentschlossen nach Amerika aus. Peter Rosegger veröffentlichte kurz danach unzählige melanchodramatische Mehrtagsfliegen, eine davon ist bis heute bekannt und trägt den Titel: "Ein Freund ging nach Amerika."
Anselm Seifert, mittlerweile 38, bedauerte bereits am ersten Tag seinen Entscheid, war es ihm doch aufgrund seiner sprachlichen Begrenztheit unmöglich geworden, für Wohnung, Wein und Käsekrainer zu sorgen. Er ließ sich unterkriegen, glitt in die Zwiebelringeszene ab und wurde schließlich nach einem lebenserneuernden 5-monatigem Satellitenentzugsprogramm, mit Chance auf die amerikanische Präsidentschaft, als geheilt entlassen. In dieser Zeit entwarf er Pläne für sonnengestützte Kraftwerke im All, entdeckte unbekannte Menschenarten, malte Kunstwerke, entwickelte Kernreaktoren ohne Kerne, besuchte einen Englischkurs. Mit 40 dann, war er zu seiner Verwunderung 7 Jahre jünger als heute, mehr auch nicht.
"Die wollen gar nicht, dass ich komme, die brauchen gar keinen Satellitenmechaniker", mutmaßte er. Dieser Satz kostete ihm 5 Monate in einer Satellitenentziehungsanstalt, mit anschließender Chance auf den Nobelpreis für Medizin. Nach eingehenden Recherchen wurde ihm klar, es gibt noch gar keine Satelliten, noch nicht mal die Schiffsschraube war erfunden. Kann denn das die Möglichkeit sein? In welcher Zeit befand er sich? 1821, aha. Er hatte sich mit seiner Zeitmaschine also verkalkuliert. Er wollte ins Jahr 1912 in die Zukunft reisen, um dort mit seinem Wissen Satelliten zu reparieren. Sie könnten ihn dort bestimmt gut gebrauchen, dachte er. Er war unfreiwillig am Ende vom Anfang angelangt.
Anselm Seifert, heute ein Inbegriff tollkühner Errungenschaften, revolutionierender Erfindungen, ruhelosem Tatendrang. Doch welche grandiosen Ideen er noch hätte umsetzen können, weiß niemand, wenn man sich vorstellt, er wäre nicht von Geburt an blind gewesen.
 



 
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