Als die Mädchen noch Röcke trugen

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viktor

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Als die Mädchen noch Röcke trugen

Als die Mädchen noch Röcke trugen,
spätestens etwa ab fünfzehnten Mai,
konnte man noch unter Säume lugen,
scheinbar gelangweilt und ganz nebenbei...

Als die Jungen noch Kreidler fuhren,
Brisk in den Haaren und Spinnweb am Kinn,
zwischen den Lippen Rothändle, die Puren
und Peter Kraus und Ted Herold im Sinn.

Als die Mädchen noch Engel waren,
milde errötend und voller Magie,
schauten sie lächelnd und unerfahren,
offen die Augen - geschlossen die Knie...

Da hatte ich ganz dünne Beine
in meiner Hose mit Hirschgeweihknopf,
fühlte mich merkwürdig - ganz alleine,
wirre Gedanken und Träume im Kopf...

Als die Alten zur Kirche gingen,
freudlos verpackt in Kostüm und Jackett,
um da ganz inbrünstig falsch zu singen,
Jesus zur Ehre und steif wie ein Brett.

Als die Sklaven noch traumlos schliefen
in ihren Betten aus Hoffnung und Schmerz,
suchte ich Geister, die nach mir riefen,
aber sie fanden nicht mein kleines Herz.

Konnte die Bilder nicht vereinen:
Leuchtende Engel, die Alten so tot.
Fing an zu lachen, um nicht zu weinen,
schlug mein Kaninchen in all meiner Not...
 

ENachtigall

Mitglied
Ein logisch aufgebautes Gedicht:

zuerst die Idylle beschrieben, dann ihre trügerischen Elemente entlarvt und schließlich einen daran emotional Zerrissenen skizziert:

Fing an zu lachen, um nicht zu weinen,
schlug mein Kaninchen in all meiner Not...
Ein brillant gesetzter Schlusspunkt in meinen Augen. Gleichzeitig ein interressantes zeitgeschichtliches Pendant zum heutigen Aggressionsventil; damals waren es noch/"nur" die Kaninchen.

Grüße von Elke
 

viktor

Mitglied
hallo enachtigall,
tatsächlich: die zeit damals war objektiv betrachtet viel schlimmer als die heutige, aber die menschen waren unendlich viel dumpfer und naiver als heute, vllt, weil die schrecklichen erinnerungen an den krieg noch sehr viel überlagerten...
liebe grüße
viktor
 



 
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