Als die Welt noch ohne Abgrund war

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Cirias

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ALS DIE WELT NOCH OHNE ABGRUND WAR


Das Eis hat brüchige Farben bekommen, schreibst du. Die Buchstaben deiner Schrift sind zerlaufen. Unsicher tasten sie sich über den weißen Grund, der wie Schnee aus den dunklen Baken der Schriftzeichen aufschimmert.
Du schreibst, der Winter sei lang und dunkel gewesen. Gleich im November wäre Mama krank geworden. Warum ich nicht gleich gekommen wäre. Du weißt es, aber du schreibst von den Eisfischern auf dem See, den Vögeln, die im Eis festfroren, kaum, dass sie sich niedergelassen hatten und den Eisblumen, die das Land in ein glitzerndes Schweigen hüllten.
Du schreibst von den ersten Kindertagen, von Mamas Lachen, Mamas sanfter Strenge und Liebe, die das Haus wie in einen Kokon gehüllt in eine ferne Welt schloss, in der uns niemand etwas anhaben konnte. Deinen Brief in meinen Händen spüre ich die Stille, das Lachen und das Weinen, die Wehmut und die Freude all dieser Tage, in denen die Welt ohne Abgrund war.
Du schreibst, im Januar sei das Haus plötzlich unter einem Eispanzer verschwunden. Es schneite ohne Unterlass, bis die Erde in ein weißes Leichentuch gehüllt war, aus dem alle Spuren geradewegs ins Jenseits zu führen schienen. Mama bekam hohes Fieber. Warum ich nicht dort gewesen sei.

Ich weiß nicht, ob du diese Briefe, von denen du schreibst, wirklich je geschrieben hast. Ich sehe auf die Furchen deiner Buchstaben, die winzigen Eisseen zwischen deinen Wörtern und das erstarrte weiße Land, das aus deiner Schrift weht. Wer bist du, Schwester? Wer bin ich?
Mit jedem Satz schreibst du von etwas, vor dem du dich fürchtest. Deine Worte verstummen. Das Herz des Winters ist das kälteste Herz. Ich lasse die Tinte deiner Buchstaben schmelzen.
Mama ist tot.
 

Klaus Urlaub

Mitglied
Sehr schöner Text. Schaurig-schöne Atmosphäre, gefühlvolle Bilder. Leider stolpere ich immer wieder über die Zeile:

"Ich weiß nicht, ob du diese Briefe, von denen du schreibst, wirklich je geschrieben hast."

Da steige ich nicht so ganz durch. Wer hat denn nun Wem, Was geschrieben?

Aber was solls, denn die Schlußpointe ist einfach riesig!
Kurz und schmerzvoll. Großartig.

Klaus
 

Cirias

Mitglied
Hallo Klaus,
danke- freut mich sehr! Es ist der Ich-Erzähler, der seine Schwester nach den Briefen fragt, die sie angeblich geschrieben hat. Aber ich nehme deinen "Stolperer" mal zum Anlass, noch einmal drüberzuschauen, ob das wirklich zu unklar ist,
liebe Grüße, Cirias
 
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xzar

Gast
das ständige wiederholen der formelt "schreibst du" bzw. "schreibst du" hat mich in den text hineingezogen. das mittel der spannung (es werden die buchstaben mit schnee verglichen - damit ist nicht mehr eindeutig, ob tatsächlich geschrieben wurde) setzt du gekonnt ein. dabei verwendest du vokabular, das schon zu anfangs den tod andeutet: schnee, eis, kälte. so lässt du dir natürlich die metapher schnee-leichentuch, die auf der hand liegt, nicht entgehen - eine weitere vorausdeutung.

ein sehr guter text, gekonnt geschrieben. alle achtung!

lg
constantin
 

Cirias

Mitglied
Hallo constantin,

danke-freut mich! Du hast sehr zielsicher auf die Stilmittel gewiesen, die mir in der Tat am Herzen lagen und die den Text tragen. Ich danke dir für dein aufmerksames Lesen.
LG, Cirias
 



 
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