Alter Mann in Rio (Das verlassene Land)

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Carlo Ihde

Mitglied
Irgendwann in sechzig Jahren
sitz auf einer Terasse ich an der
Copa Cabana in einem Morgen
Mantel noch um 15 Uhr und
schaue im gesenkten Blick zu
dem kalten Getränk dann auf in
die Weiten des Meers an dessen
Horizont irgendwo das
verlassene Land liegt.

Lasse in Seilbahngondeln mich
diesen alten, erfahren wirkenden
Mann unter fremdländisch sprechenden,
immer jungen Brasilianerinnen
in die Höhen über die Stadt schwingen
und vom Aussichtsturm im
gewählten Exil, meinem Altersruhesitz,
meinen Blick das verlassene Land erahnen.

Und werde dicke Zigarren so qualmen wie
man sonst atmete, werde nichts zu teuer
sein lassen für so einen Alten,
nichts zu schlecht, auch mein Gewissen
nicht zu Wort kommen lassen, da ich
ein Leben gehabt haben werde,
dass da hieß: alles für zu schlecht zu halten
um genussvoll darin alt zu werden.

Diesen Lebensirrtum, der mich
ein Leben lang repressiv behandelt
haben wird, diesen Irrtum werde
ich dem Land nicht verzeihen, und,
als ich schlussendlich doch alt war
hab ich es verlassen,
um genussvoll alt zu sein in Rio nachdem
ich genusslos alt geworden war
im verlassenen Land.
 

Franzi

Mitglied
Hallo, Carlo,

der Text und die Perspektivenwahl gefallen mir sehr gut. Sollte es in Strophe zwei zum besseren Leseverständnis ggfs. ein Komma am Ende der ersten Zeile geben?

Lasse in Seilbahngondeln mich[blue],[/blue]
diesen alten, erfahren wirkenden

Ansonsten, bei den Aussichten, die das Lyrische Ich so deutlich vor Augen hat, sowohl in Rio als auch im 'verlassenen Land', würde ich keine 60 Jahre mehr warten wollen, um in Rente zu gehen. Wie wär's mit Vorruhestand, um den Lebensirrtum, der ja jetzt schon erkannt ist, vorzeitig zu verkürzen?
Ich bekomme jedenfalls beim Lesen Fernweh!

Beste Grüße,
Franzi
 

Carlo Ihde

Mitglied
Danke, das ist so lieb gesagt von dir.

Trotz aller Verbitterung im Vorhinein: ich gebe dem Land noch ein bisschen Zeit.


Und bei dem schönen Wetter draußen, tut's das Land noch eine Weile lang.

Bei den Kommata muss ich nochmal drüber lesen, da gebe ich dir Recht.

LG
 
G

Gelöschtes Mitglied 7520

Gast
hi carlo,

feines gedicht. großartig auch die zwiespältigkeit, die mich als leser kunstvoll zwischen neid und ablehnung schwanken lasst. und trotzdem seis dem lyrich am ende gegönnt, so seinen lebensabend zu verbringen.

liebe grüße
nofrank
 

Carlo Ihde

Mitglied
Du bist im Zwiespalt zwischen Neid und Ablehnung, gegenüber dem alten lyrischen Ich oder gegenüber meiner überaus grandiosen Art des Schreibens?

Nur ein Spaß.

Ich danke dir für diese Kritik. Ehrlich gesagt: das Bekunden einer so bipolaren Empfindung ist für mich Maximal-Lob.

LG.
 
G

Gelöschtes Mitglied 7520

Gast
hi carlo,

freut mich, dass ich ein bisschen bauchpinseln konnte. habe noch die wertung vergesen.

grüße
nofrank
 

Carlo Ihde

Mitglied
pinseln kommt immer gut.

Danke für die Wertung.

Schade, dass die Technik sie runter gewichtet, aber deine Intention bleibt spürbar.
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Lieber Carlo,

kommt bei mir gleich hinter: "Was einen weinen macht".

LG Franka
 

Carlo Ihde

Mitglied
Ah, liebe Franka, da werden alte Erinnerungen wach... damals, als auch die Zukunft noch besser war.

Vielen Dank für eure Wertungen. Ihr habt mir den Platz "Das beste Lyrikwerk der vergangenen 140 Minuten oder so" ermöglicht. Für mich ist das eine Premiere.

Weiter so.
Auch innerlich.
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Dann bereite mal schon die nächste Premiere vor. Warte darauf, dass sich der Vorhang hebt.

LG Franka
 

Carlo Ihde

Mitglied
Das ist auch wieder so nett auf Vorschuss. Weiß nicht, ob mir der Publikumserfolg einfach so gelingen kann. Aber das meintest du auch nicht. Sondern die Arbeit am lyrischen großen Ganzen, die wir alle betreiben. Ein Schuss mehr Relevanz und schon funktioniert es, mit dem Gernelesen.

Bis bald.
 

Perry

Mitglied
Hallo Carlo,
nachdem bereits soviel Positives geschrieben worden ist, betreibe ich nur noch ein wenig "Wortpickerei."
"... in sechzig Jahren" -> wie alt mag das erzählende LyrIch dann gerade wohl sein (lächel).
Schön die Metapher "das verlassene Land (die Heimat)" einmal als "lustloser" Ort, dann aber auch als Objekt der Sehnsucht.
Gern gelesen!
LG
Manfred
 

Carlo Ihde

Mitglied
Spitzfindiger Fuchs, der du bist lieber Manfred, hast du's erkannt: das LyrIch ist gerade 21 Jahre alt, und ist dann etwas über 80, wenn es im Altersexil angekommen ist. Keineswegs ist damit aber gesagt, dass das LyrIch gegenwärtig Germanistik oder Philosophie o.ä. studiert, keineswegs ist das LyrIch in seiner partiellen Ähnlichkeit zu lebenden oder bereits verstorbenen Personen identisch mit denselben. Dazwischen ist nämlich schreibend ein Transformationsprozess gesetzt, der vergleichbar ist mit dem Prozess der angeklungenen Deprivation, die indirekt auch mit den Medien einer auf Visualisierungen fixierten Öffentlichkeit zu tun hat. Deiner Spekulation ist damit eine gewissen intuitive Richtigkeit verliehen worden.

Nette Frage zurück: brauchte es das?
 
B

Beba

Gast
Lob und Wertungen gehen voll in Ordnung. Herrlicher Text, meine Lieblingsstelle:

Und werde dicke Zigarren so qualmen wie
man sonst atmete, werde nichts zu teuer
sein lassen für so einen Alten,
nichts zu schlecht, auch mein Gewissen
nicht zu Wort kommen lassen, da ich
ein Leben gehabt haben werde,
dass da hieß: alles für zu schlecht zu halten
um genussvoll darin alt zu werden.
Klasse! Sehr gern gelesen.

Ciao,
Bernd
 

Carlo Ihde

Mitglied
Vielen Dank auch dir Bernd. Habe das Gefühl, ihr seid alle so über die Maßen nett zu mir, und diesmal scheint der Text das wirklich zu rechtfertigen, und kann das immer nur unzureichend würdigen und sehe euer Lob total distanziert...

Ein gnädiger Gott wird es mir nachsehen werden.
LG
 

Perry

Mitglied
Hallo Carlo,
es braucht es nicht, denn der Autor muss mir als Leser nicht erklären, dass er über das was ist und das was sein kann nachdenkt. Das erzählen mir die Bilder ganz von allein. Was dem Text aber ansonsten keinen Abbruch tut.
LG
Manfred
 

HerbertH

Mitglied
Hallo Carlo,

über diese Zeilen bin ich gestolpert:

Diesen Lebensirrtum, der mich
ein Leben lang repressiv behandelt
haben wird, diesen Irrtum werde
ich dem Land nicht verzeihen
Wer behandelt da wen, frage ich mich.
Einen behandelnden Irrtum kann ich mir nicht
so recht vorstellen :).

Liebe Grüße

Herbert
 

Inu

Mitglied
Was für linkische Sätze! Allerdings die Aussage reißt es irgendwie wieder heraus, weil es unseren Träumen entspricht und ein jeder es so gut nachvollziehen kann. Aber als seriöses Gedicht ( als literarisches Werk )haut es mich absolut nicht vom Hocker ... ist eher mäßig

LG
Inu
 



 
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