Am Frankenberg

neuni

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Heute lebe ich, für mich noch nicht zu begreifen, am Frankenberg. Die Straße führt von mittelalterlichem Fachwerkhäusern umgeben den Hügel hinauf zu der Kirche. Durchschreite ich heute wie so oft den Torbogen zum Vorhof der Kirche, so lasse ich die Stadt Goslar und das Land, in dem ich einmal ein Leben hatte hinter mir. Am Torbogen bilden grobe Ornamente, Moose und Flechten Zeichen die ich noch immer nicht verstehen kann. Ich verharre einen Moment von Furcht erfüllt unter dem Torbogen und blicke zu dem dunklem Schiff der Kirche empor. Wie bei meinem ersten Besuch in Goslar liegt Nebel über der Stadt. Der Nebel verdichtet sich und scheint um die Kirche undurchdringlich zu sein. Ich berühre die feuchte Mauer des Torbogens, fröstele und muss mich bald abstützen um das Gleichgewicht zu behalten. Nun wird es Zeit den gewunden Weg hinauf zu gehen. Ich lasse die anderen Menschen im Nebel der Stadt hinter mir. Nun bin ich allein und werde Dem begegnen.



Genauso ist es gewesen als ich zum ersten mal am Frankenberg war. Ich hatte die Sehnswürdigkeiten der Stadt hinter mich gebracht ohne eine Vorstellung des Mittelalters die ich suchte zu finden. Aber dann vor dem Tor der Kirche unter dem Steinbogen spürte ich von tief unten einen alten Schrei der mich anzog. Dieser Schrei war es der mich gerufen hatte. Die Kirche auf dem Frankenberg scheint mir selber gekreuzigt zu sein. Verrostete Metallträger halten das Mauerwerk an viel Stellen zusammen. Ich glaube ohne diese Träger würde die Kirche in sich zusammen fallen. Ich wollte die Kirche damals nicht betreten aber eine Art Obsession ließ mir keine Wahl. Es war eine Zwangshandlung, meine Hand streckte sich gegen meinen Willen nach der kalte Klinke des Portals aus. Ich wollte fliehen aber es gab schon damals keine Flucht, keine Welt mehr außerhalb von Dem. Die Tür der Kirche hätte verschlossen sein können, aber sie war es nicht. Ich stolperte über die erhöhte Schwelle in das Halbdunkel der Kirche. Der Raum war menschenleer. Eine Stille lastete in der Luft, nur die Erschütterung des Bodens durch den Nachhall des Schreies war noch spürbar. Ich schlich durch das Halbdunkel des Kreuzgangs. Das ewige Licht in dieser Kirche ist für immer ausgeblasen. Sollte ein Pfarrer versuchen es ab und zu wieder anzuzünden so wäre sein Versuch nur ein Zeichen der Vergeblichkeit. Angst trieb mich vor den Altar zu dem Taufbecken. Es sah leer aus aber ich spürte das es nicht leer war. Ich griff in das Becken und eine unsichtbare, unbekannte Substanz ergriff von meiner Hand, von meinem Arm und weiter Stück für Stück von meinem ganzen Körper besitz. Ich versank für eine unbestimmbare Zeit, bis eine Böe ein Fenster aufriss. Eisiger Wind drang in die Kirche, milderte mein Fieber und brachte mich in das leere Gewölbe des Schiffs zurück. Ich konnte mich noch einmal los reißen, schaffte es die Kirche zu durchqueren und fand mich in der dunkeln Nacht in Goslar wieder.



Als ich verstört und um vergessen bemüht am nächsten Tag zu meiner Frau und unserem Kind nach Berlin zurückkehrte, fing das Ende an. Ich begann mich mit meiner Frau zu streiten. Tag für Tag wurde es schlimmer. Ich kehrte von der Arbeit nur noch auf ein Schlachtfeld zurück. Ich weiß das ich von einer unsäglichen Kälte ergriffen immer gemeiner zu der Frau und dem Kind wurde. Ich habe keine Erklärung warum ich tat was ich Tat. Mein Blut war nicht mehr meines, ein anderes altes Blut war in meine Adern gedrungen. Die unsinnigen Streiterein mit meiner Frau eskalierten. Bald schlug ich sie in Gesicht. Eines Tages suchte ich den Kampf mit meinem Chef, der einmal mein Freund war. Ich schrie Ihn an bis er zitterten in einer Ecke seine Büros zusammensackte. Ich verlor also meine Arbeit, die ich wohl einmal geliebt habe. Meine Frau die ich wohl auch einmal liebte trennte sich von mir und verließ mich mit meinem Kind. Was blieb Ihr auch schon anderes übrig? Ich fand mich nach außen eisig kalt und innerlich glühend und brennend in einer Wohnung wieder, die nicht mehr mein Zuhause war.



Wohin sollte ich damals schon gehen? Gezogen von Dem verließ ich Berlin und sucht mir ein Zimmer am Frankenberg. Ich wollte Dem das mir alle Veraantwortung für das was ich tat abnahm nahe sein. Erst wollte ich nie wieder den Weg hinauf zu der Kirche gehen aber eines Tages war es unvermeidlich. Ich saß Stunde um Stunde im Gang der Kirche und wartete. In der Nacht war die Tür der Kirche bisher noch nie geöffnet gewesen. Bald ging ich wie heute beim Beginn Nacht den Weg hinauf und drückte angsterfüllt die Klinke, wurde aber nicht eingelassen.



Nun öffnet sich die Tür drinnen ist Schweigen. Ich sehen wohl über hundert bleiche Bergleute, schwarzgewandet und bewegungslos, auf den Bänken sitzen. Ich schleiche mich hinter den Säulen entlang und verstecke mich in einer dunkelen Ecke. Das kann nicht wirklich sein, aber ich sehe die Bergleute vom Schacht am Rammelsberg. Die Jahrhunderte sind in dieser Nacht zu dünne Folien. Sie sind transparent geworden. Noch ist kein Ton zu hören die Bergleute verharren. Es wird dunkeler bald sehe ich nichts mehr und spüre nur noch eine kalte Säule, die ich selber geworden bin. Dann plötzlich knarrt eine Tür neben dem Holzaltar. Kerzenleuchter werden von einer Gruppe durch weiße Umhänge Vermummter in die Kappelle getragen. Ich sehe nun wieder schemenhaft die bleichen Gesichter mit ihren stierenden Augen, die intensiv aber unbeteiligt nach vorne glotzen. In einem scharlochroter Robe folgt ein alter gebeugter Mann den Vermummten. Seinen blauen Augen blitzen dämonisch. Er beginnt sich an einer versteckte Vorrichtung an der linken Seite des Altars, die mir noch nicht aufgefallen war, zu schaffen zu machen. Jesus Christus mit seinem Kreuz an der Decke hinter dem Taufbecken beginnt langsam Stück für Stück hinabzugleiten. Kurz vor dem Becken ergreifen die weißen Gestallten das Kreuz. Sie nehmen Jesus von der Kreuz ab. Das Rauen der Bergleute schwillt an. Jesus wird an seinen schwarzen Haaren in eine Ecke gezerrt und dort unachtsam liegengelassen. Nur das Kreutz wird weiter aufrecht gehalten. Das Raunen erfüllt den Raum und stirbt dann ab. Der scharlachrote Alte runzelt die Stirn, sein Gesicht scheint nur noch aus den Falten und aus Gräben zu besten die einen Berg durchziehen. Etwas vor sich hinmurmelt hinkt er zur der Tür an der Seite des Altars zurück und verschwindet. Nach einem Augenblick kehrt er mit einer jungen nackten Frau im Arm in das Schiff der Kirche zurück. Ihre Augen sind geschlossen lange schwarze Locken umgeben wie Schlangen ihr glattes Gesicht. Ich sehe Ihre großen schneeweißen Brüste mit aufgerichteten Brustwarzen, die Haut ihres Liebes ist durchscheinend Weiß. Sie ist schön. Der scharlachrote Priester schieb sie vor das Kreuz und seine Gehilfen fesseln sie mit groben Stricken. Ihre Augen bleiben noch immer geschlossen. Nun zieht der Priester, dieses unfassbaren Rituals, ein langes goldenes Messer aus seinem rotem Umhang. Das Messer schimmert im Licht der Kerzen. Er reißt seine blauen Augen weit auf und beginnt mit höchster Konzentration eine dunkele Liturgie zu brummen. Bald fällt das unheimliche Raunen der Bergleute in das Brummen des Priesters ein und vereinig sich mit diesem. Aprupt wendet sich der Priester um und verharrt eine Zeit unbewegt vor der nackten ans Kreuz gefesselten Frau. Sie öffnet die Augen und nur noch die Angst ihres Blickes erfüllt die Kirche. Ich will mich befreien, nach vorne stürtzen, die Frau vor den unvermeidlich folgenden Schnitten des Messers bewahren. Doch all meine Kraft reicht nicht aus. Meine Energie ist gebunden. Ich bin eine eißige im Boden festgefrorene Säule geworden. Ich öffne den Mund will schreien. Der Priester zerschneidet der Frau in Folge die Arme, die Beine, die Brüste und den Bauch. Ihr Schrei erfüllt die Luft und übertönt meinen. Die vermummten Gehilfen handeln nun sehr schnell. Das Kreuz mit der blutenden Frau wird an die Decke der Kirche gezogen. Ihr Blut fließt in Strömen auf den Boden. Schnell heben die Gehilfen das steinerne Taufbecken an und stellen es unter das Kreuz, so daß ihr Blut aufgefangen wird. Der bleichgewordene Priester hinkt zu dem Becken und nimmt den ersten Schluck. Nun blitzen seine Augen wieder dämonisch in die Gemeinde. Seine Gehilfen treten vor, trinken Blut, verteilen sich an beiden Seiten des Altars und stimmen einen atonalen Choral an, vor dem ich versuche meine Ohren zu verschließen. Ich sehe nun wie sich die Bergleute Mann für Mann von ihren Plätzen erheben, vor den Altar treten, ihren Schluck Blut erhalten und die Kirche verlaßen. Die schöne Frau hängt mittlerweile bewegungslos am Kreuz.



Es wird Still als der letzte Bergmann die Kirche verlässt. Der scharlachrote Priester und seine weiß vermummten Gehilfen warten. Ich verharre wie zu vor bewegungslos, bis mich die Augen des Priester erkennen und rufen. Ich kann mich nicht wehren und torkele gezogen vom Unerlebbaren durch den Mittelgang auf den Altar zu. Zitternd senke ich die Blick, betrachte die steinernern Zeichen des Bodens die ich nun verstehe. Vor dem Taufbecken verharre ich einsam, nun ganz für mich allein. Dann hebt sich meine Hand und greift in das warme Blut. Eine Böe reißt das Fenster der Kirche auf und eisige Morgenluft lässt mich erwachen. Ein durch die farbigen Glassscheiben gebrochener Strahl der Morgensonne fällt in die Kirche. Ich schaue mich um. Die Kirche ist menschleer. Am Kreuz an der Decke hängt Jesus Christus mit zerrauften Haaren. Ich weiß das die Reste der ermordeten Frau unter dem Boden dieser Kirche vergraben liegen. Ich habe ihren Schrei gehört. Ich verlasse die gekreuzigte Kirche, es ist zu Ende.



Ich weiß das ich zurückkehren werde, zurück in mein Leben außerhalb von Dem, zurück in eine Zukunft und vielleicht, wer will es wissen, werde ich auch hierhin zurückkehren.
 

yeahyoa

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Hallo Neuni,
nun habe ich also deine Geschichte gelesen. Muss aber ehrlicher Weise gestehen, dass ich nicht viel mit ihr anfangen konnte. Und jetzt zerbreche ich mir den Kopf darüber, warum.
Zum Einen vielleicht, weil mir das alles so bekannt vorkommt. Solche Ritualszenen habe ich schon x-mal im Fernsehen gesehen. Oder es liegt daran, dass ich mich überhaupt nicht mit dem Protagonisten identifizieren kann. Du beschreibst die Szene zwar sehr anschaulich, aber ich spüre da nichts. Ich spüre kein Grauen, keine Verzweiflung. Der Teil, in dem beschrieben wird, wie er seine Frau und die Arbeit verliert, hat mir am Besten gefallen, da erfährt man nämlich was über ihn. Aber ansonsten bleibt er die ganze Zeit so ein teilnahmsloser Beobachter, dass ich das Gefühl hatte, es handelte sich um eine Szenenbeschreibung in einem Drehbuch.
Ich finde keine wirklichen Textzeilen, die meinen Eindruck bestätigen – dafür bin ich wohl im analysieren zu ungeübt. Es ist ja auch nur mein persönliches Empfinden, vielleicht denken andere Leser ganz anders.
 

neuni

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Hallo Yeahyoh,

danke für deine Kritik. Die Distanz des Erzählers von seiner Geschichte und das Fehlen von Emotionalität (was dich stört) waren bis zum gewissen grade beabsichtigt. Mein "Held" ist in dieser Geschichte neben sein Leben - in eine fremde Welt - geraten, die kaum etwas mit ihm zu tun hat. Mann kann diese Situation aber sicher besser darstellen als ich es in dieser Geschichte getan habe.

Gruß

9i
 



 
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